18. Mai 2024

Immer, wenn ich mich in den Acta irgend­ei­ner Sport­art wid­me, bekom­me ich Mails von Zeit­ge­nos­sen, die mir zunächst ihre gene­rel­le Sym­pa­thie für mein Geschreibs ver­si­chern, sodann aber ein­schrän­kend anmer­ken, dass Refle­xio­nen über Sport ent­we­der das hier übli­cher­wei­se in der Wahl des Sujets herr­schen­de Niveau unter­schrit­ten oder aber ich mit der Trak­tie­rung sol­cher The­men der Panem et cir­cen­ses-Logik der Herr­schen­den folg­te – oder gleich bei­des zusam­men. Ich sehe das ein biss­chen anders, vor allem was den erst­ge­nann­ten Vor­wurf betrifft. Immer­hin schrei­be ich hier mit­un­ter auch über Par­tei­ta­ge, Talk­shows oder auf Theo­rie­müll­hal­den her­um­tur­nen­de Intel­lek­tu­el­le, also über ein Per­so­nal, neben dem sich Schwer­ge­wichts­bo­xer oder Tour-de-France-Pro­fis in vie­ler­lei Hin­sicht, ästhe­tisch zumal, recht vor­teil­haft aus­neh­men. Ja und erst die Leicht­ath­le­tin­nen! Stel­len Sie sich vor, Pin­dar wür­de vor die Wahl gestellt, ent­we­der eine Ode auf Olaf Scholz oder eine auf Tadej Pogačar zu schrei­ben, eine auf Ricar­da Lang oder auf Fem­ke Bol (lie­ber noch Nata­lia Kacz­ma­rek). Und selbst­ver­ständ­lich hät­te der Aegi­de, leb­te er als unser Zeit­ge­nos­se, längst Lio­nel Mes­si in einem Preis­lied besungen.

Mit die­sem Namen wäre der Über­gang zum Fuß­ball her­ge­stellt, der Lei­bes­übung, um die es heu­te, am letz­ten Spiel­tag der Bun­des­li­ga­sai­son 2023/24 und einen knap­pen Monat vor Beginn der Euro­pa­meis­ter­schaft in Deutsch­land, gehen soll – aller­dings weni­ger im sport­li­chen Sin­ne, son­dern in jenem der immer umfas­sen­de­ren Kom­mer­zia­li­sie­rung und poli­ti­schen Indienst­nah­me. Gera­de im moder­nen Fuß­ball wer­den wir mit dem erwähn­ten „Brot und Spiele“-Aspekt kon­fron­tiert, die Fuß­ball­are­nen sind die Amphi­thea­ter der Gegen­wart. Der Kai­ser- oder Herr­scher­kult ist ja seit der Anti­ke ein fes­ter Bestand­teil von „Panem et cir­cen­ses”, heu­te hal­ten sport­li­che Groß­ver­an­stal­tun­gen die Mas­sen bei Lau­ne wie ehe­dem, wäh­rend der Herr­schafts­kult inzwi­schen in der Kos­tü­mie­rung eines nicht min­der tota­len Zeit­geist­diens­tes zele­briert wird, mit Regen­bo­gen­eck­fah­nen, Anti­ras­sis­mus­kam­pa­gnen und öffent­li­chen Lip­pen­be­kennt­nis­sen soge­nann­ter Füh­rungs­spie­ler. Was mich betrifft, funk­tio­niert die cir­cen­si­sche Ablen­kungs­me­cha­nik übri­gens bis­wei­len, und ich erwi­sche mich dabei, dass ich am PC all­zu kom­pli­zier­te oder lan­ge Tex­te weg­kli­cke, um mir statt­des­sen die Zusam­men­fas­sung eines Fuß­ball­spiels oder einen Box­kampf anzu­schau­en (oder eben die pracht­vol­len Lei­ber der Leicht­ath­le­tin­nen). Aller­dings erle­ben wir der­zeit spe­zi­ell beim Fuß­ball, wie sich die Pro­pa­gan­da­ab­tei­lun­gen so weit in den Vor­der­grund drän­geln, dass vie­len Mit­bür­ge­rin­nen, Mit­bür­gern und Mit­bür­gen­den die gesam­te Sport­art ver­gällt wird. Mir – dies ist ja mein Dia­ri­um, hier red i – ist es mitt­ler­wei­le voll­kom­men gleich­gül­tig, ob die zur „Mann­schaft“ down­ge­gra­de­te und stän­dig poli­ti­sche „Zei­chen set­zen­de“ Natio­nal­mann­schaft ein Spiel oder Tur­nier gewinnt, ich schaue mir das ent­we­der über­haupt nicht mehr oder vol­ler Scha­den­vor­freu­de an.

Um zu beschrei­ben, was sich in den ver­gan­ge­nen unge­fähr zwei Jahr­zehn­ten ver­än­dert hat, ist zunächst ein Rück­blick fäl­lig. Ich zäh­le zu einer Alters­ko­hor­te, deren Ange­hö­ri­ge ihre ers­ten Län­der­spie­le noch im Schwarz-weiß-Fern­se­her gese­hen haben (mei­ne frü­hes­te Erin­ne­rung gilt einem Her­ren namens Eusé­bio), die den Anblick einer Frau im Fuß­ball­sta­di­on als etwas eher Außer­ge­wöhn­li­ches emp­fan­den (und ich spre­che nicht von Frau­en auf dem Rasen; das lag außer­halb der Vor­stel­lungs­kraft), weil sie näm­lich Fuß­ball mit eini­gem Recht für einen Malo­cher- und Pro­le­ten­sport hiel­ten, bei dem sich auch der aka­de­mi­sche Teil des Publi­kums dem Geg­ner gegen­über recht unzi­vi­li­siert benahm, einer Kohor­te denn also, deren Ange­hö­ri­ge die Rän­ge als einen Ort betrach­te­ten, wo man sich gehen­las­sen konn­te, wo sich rigi­de Par­tei­nah­me, Ent­hem­mung und das Bedürf­nis nach Trieb­ab­fuhr zum tem­po­rä­ren Men­schen­recht ver­ban­den, zu flu­chen, zu höh­nen und dem Geg­ner Belei­di­gun­gen zuzu­brül­len, und die zugleich den Fuß­ball und über­haupt den Sport als etwas völ­lig Unpo­li­ti­sches emp­fan­den, die sich, wenn die Par­zen es über einen ver­häng­ten (wie z.B. über mich durch Rickens 3:1 in der letz­ten Minu­te der Ver­län­ge­rung BVB gegen La Coru­ña anno 1994), mit einem Ver­ein „iden­ti­fi­zier­ten“, mit ihm lit­ten, tri­um­phier­ten oder unter­la­gen, als stün­den sie selbst auf dem Platz, in ihrer emo­tio­na­len Teil­nah­me am Geschick einer Mann­schaft aller­dings anders als heut­zu­ta­ge in den Ers­ten Ligen davon aus­ge­hen konn­ten, dass die­se Trup­pe halb­wegs zusam­men­blieb und nicht zwei Jah­re spä­ter aus völ­lig ande­ren Spie­lern bestehen wür­de, und die mit der Natio­nal­mann­schaft (fast) genau­so mit­fie­ber­ten wie mit ihrer favo­ri­sier­ten Vereinsmannschaft.

Kurz­um: Der Fuß­ball war zu mei­ner Zeit eher eine Män­ner­sa­che, ob nun als Sta­di­on­be­su­cher oder als Spie­ler (ich war zum Leid­we­sen mei­nes Vaters und zur Belus­ti­gung mei­nes Bru­ders, bei­de Ama­teur­fuß­bal­ler, ein mise­ra­bler Kicker), das Sta­di­on galt als ein Ort rela­ti­ver Frei­heit, aber auch des archai­schen Rudel­ver­hal­tens, und mit Poli­tik hat­te das alles nichts zu tun – wenn ich davon abse­he, dass in der DDR, wo ich ja auf­wuchs, der BFC Dyna­mo stän­dig Meis­ter wur­de, weil das der Lieb­lings­ver­ein von Sta­si-Chef Erich Miel­ke war (legen Sie das „weil“ ruhig auf die Gold­waa­ge). Spä­ter erleb­te ich als Zaun­gast der Bun­des­li­ga und des Euro­pa­po­kals zwi­schen­zeit­lich die schö­ne Frei­heit der Markt­wirt­schaft, hier wie da gab es immer eine Rei­he von Klubs, die imstan­de waren, den Titel zu holen, wäh­rend heu­te bei­na­he wie­der eine Mono­kul­tur herrscht wie zu spä­ten DDR-Zei­ten, was die Fans merk­wür­di­ger­wei­se kaum beirrt, weil sie oft nichts ande­res haben, wor­an sie ihr Herz hän­gen kön­nen. Den Cham­pi­ons-League-Sie­ger machen inzwi­schen drei, vier Teams unter­ein­an­der aus – der BVB hat gegen Real Madrid kaum den Hauch einer Chan­ce und in einem CL-Fina­le eigent­lich nichts zu suchen –, und deut­scher Meis­ter wird in neun von zehn Fäl­len der FC Bay­ern – sofern der Bay­er-Kon­zern nicht jähr­lich min­des­tens 200, 300 Mil­lio­nen extra locker macht, wird die Meis­ter­mann­schaft die­ser Sai­son inclu­si­ve Trai­ner in zwei Jah­ren schlicht nicht mehr vor­han­den sein. Da der Teu­fel bekannt­lich stets auf den größ­ten Hau­fen scheißt, dürf­te die Ten­denz zur Kon­zen­tra­ti­on der Erfolgs­wahr­schein­lich­keit auf weni­ge Ver­ei­ne trotz gele­gent­li­cher erfreu­li­cher Aus­nah­men immer wei­ter zunehmen.

Die Über­tra­gun­gen der wich­ti­gen Par­tien im Euro­pa­po­kal oder bei den gro­ßen Tur­nie­ren der Natio­nal­mann­schaf­ten waren frü­her Gele­gen­hei­ten, sich mit Freun­den zu tref­fen, um gemein­sam zu schau­en, sich zu amü­sie­ren, zu echauf­fie­ren und her­um­zu­blö­deln, ohne aus dem Fern­se­her mit Viel­falts­pro­pa­gan­da, Anti­ras­sis­mus­kam­pa­gnen und Gleich­stel­lungs­ge­döns behel­ligt zu wer­den, mit einem gehö­ri­gen Vor­rat an Bier und ohne Frau­en, weil den Schö­nen erfah­rungs­ge­mäß die vol­le Kon­zen­tra­ti­on für neun­zig oder gar 120 Minu­ten abging und sie unge­fähr ab Mit­te der ers­ten Halb­zeit wie­der reden woll­ten. Wäh­rend der EM 1996 – die Vor­run­den­par­tie gegen Ita­li­en stand kurz vor dem Anpfiff, wir hat­ten uns in mei­ner Schwa­bin­ger Woh­nung ver­sam­melt – stell­te jemand die Scherz­fra­ge: „Was wür­dest du sagen, wenn es jetzt klin­gelt, und vor der Tür steht Pame­la Anderson?“

Ant­wort: „Sind Sie wahn­sin­nig, jetzt hier zu klin­geln?!“

Tem­pi bekannt­lich pas­sa­ti. Was wei­land wäh­rend die­ser Spie­le gespro­chen, geflachst, geflucht und geschimpft wur­de, zöge inzwi­schen den Abbruch von Freund­schaf­ten und die Kün­di­gung von Arbeits­ver­hält­nis­sen nach sich. Heu­te ist der Fuß­ball ideo­lo­gisch auf Zeit­geist­li­nie gebracht, diver­si­fi­ziert, pazi­fi­ziert, sprach­ge­r­ei­nigt und eff­emi­niert. Vor drei­ßig Jah­ren spiel­ten auch schon Schwar­ze, Asia­ten oder Schwu­le in allen Ligen, nur küm­mer­te das nie­man­den, es war ein­fach kein The­ma, das irgend­wer volks­päd­ago­gisch und gewinn­träch­tig aus­schlach­te­te; der Schwar­ze in der eige­nen Trup­pe wur­de beju­belt, der geg­ne­ri­sche belei­digt und aus­ge­pfif­fen, fer­tig. Doch aus­ge­rech­net heu­te, wo es in den Sta­di­en so fried­lich und zahm zugeht wie nie zuvor und die Mann­schaf­ten, zumin­dest die euro­päi­schen, eth­nisch ungleich „bun­ter” sind als die Gesell­schaft – zu bunt, wie man­che fin­den, die sich am Ende wohl auch dar­an stie­ßen, wenn Nige­ria mit sie­ben Wei­ßen zum WM-Spiel auf­lie­fe –, aus­ge­rech­net jetzt also wächst angeb­lich der Ras­sis­mus der Fans ins Uner­träg­li­che, unge­fähr wie der Fein­staub an Innen­stadt­kreu­zun­gen und die Mikro­ag­gres­sio­nen an Universitäten.

Zugleich ist inzwi­schen „gefühlt“ jeder zwei­te Fuß­ball­mo­de­ra­tor eine Mode­ra­to­rin, mit­un­ter auch Mode­ra­tö­rin, und unter den Spiel­feld­rand-Kom­men­ta­to­ren bei Live-Über­tra­gun­gen muss zwang­haft eine Fuß­bal­le­ri­na plat­ziert wer­den, damit sie ihren eman­zi­pa­ti­ons­ver­ste­ti­gen­den Senf zum Män­ner­sport bei­steu­ern kann. Der Frau­en­fuß­ball, den kaum jemand guckt, wird unter hohem mora­li­schen Druck mul­ti­me­di­al in alle Kapil­la­ren der Gesell­schaft gepresst. Schwu­le Kicker sind gehal­ten, sich zu „outen“, um „Viel­falt” zu bezeu­gen. Spie­ler, Funk­tio­nä­re, Fan­be­auf­trag­te und gro­ße Tei­le des Publi­kum über­bie­ten sich beim Wett­streit dar­um, mög­lichst unan­stö­ßig, lang­wei­lig und poli­tisch kor­rekt zu sein. Ver­eins­chefs mit frag­wür­digs­ter Repu­ta­ti­on beken­nen sich mit einer aggres­si­ven Beflis­sen­heit zur Regie­rung und gegen die Oppo­si­ti­on wie sonst nur am Staats­tropf hän­gen­de Künst­ler in Auto­kra­tien. Über den Bekennt­nis­slaps­tik der Natio­nal­mann­schaft, sei es das Nie­der­knien vor dem Anstoß wegen irgend­wel­cher Vor­fäl­le auf ame­ri­ka­ni­schen Stra­ßen, sei es das – sym­bo­lisch gar nicht mal so fal­sche – kol­lek­ti­ve Sich-das-Maul-zuhal­ten bei der letz­ten Welt­meis­ter­schaft, muss ich nichts wei­ter ausführen.

Ehe jetzt der juve­ni­le Gast des Klei­nes Eck­la­dens spricht: „Ok Boo­mer, dei­ne Zeit ist eben abge­lau­fen, du ver­stehst die Welt nicht mehr, weil du nicht mehr zu ihr gehörst”, will ich auf zwei­er­lei hin­wei­sen. Ers­tens, dass der Boo­mer in Ita­li­en „Dot­to­re“ genannt wird, sofern er sich ange­mes­sen klei­det (und vie­le die­ser Dot­to­res ver­ste­hen etwas von Fußball).

Und zwei­tens, dass ich den Fuß­ball heut­zu­ta­ge weit schö­ner, kunst­vol­ler und span­nen­der fin­de als jemals zuvor. Sowohl was die A‑, als auch die B‑Note betrifft, ist das Niveau enorm gestie­gen. Der FC Augs­burg wür­de die bra­si­lia­ni­sche Fuß­ball­welt­meis­ter­mann­schaft von 1970 mit einer hohen zwei­stel­li­gen Nie­der­la­ge in die Kabi­ne schi­cken (und auch die von 1994 klar besie­gen), die Bra­si­lia­ner kämen, außer mit Befrei­ungs­schlä­gen, wahr­schein­lich nicht mal über die Mit­tel­li­nie. Das liegt weni­ger am soge­nann­ten Spie­ler­ma­te­ri­al als viel­mehr an der voll­kom­men ande­ren Art, Fuß­ball zu spie­len, wel­che man heu­te pflegt. Durch klu­ge Regel­än­de­run­gen – drei Punk­te statt zwei für den Sieg, das Ver­bot für den Tor­wart, den Ball bei Rück­päs­sen der eige­nen Spie­ler mit der Hand auf­zu­neh­men (frü­her eine noto­ri­sche Quel­le des Zeit­spiels), Abseits­ent­schei­dung erst bei der Ball­an­nah­me – wur­de das Spiel viel schnel­ler und folg­lich inten­si­ver. Dazu kamen Mate­ri­al­ver­fei­ne­run­gen wie Kunst­ra­sen, leich­te­re Schu­he und Bäl­le. Die Spie­ler sind nicht nur tak­tisch unend­lich bes­ser geschult als unse­re Alt­vor­de­ren, sie sind auch beweg­li­cher, reak­ti­ons­schnel­ler, geis­tes­ge­gen­wär­ti­ger und aus­dau­ern­der. Tech­nisch agie­ren heu­te fast alle Pro­fis auf einem Level, das ehe­dem nur weni­gen Stars vor­be­hal­ten war; kein Ball springt mehr vom Fuß, und sogar Innen­ver­tei­di­ger schla­gen so prä­zi­se Päs­se über das hal­be Feld wie vor 50 Jah­ren allen­falls die Spiel­ma­cher. Ein Mit­tel­feld­spie­ler muss heu­te min­des­tens drei­mal so vie­le spon­ta­ne Ent­schei­dun­gen pro Par­tie tref­fen, für die er jeweils nur Sekun­den­bruch­tei­le zur Ver­fü­gung hat, als vor 30, 40, 50 Jah­ren. Mög­li­cher­wei­se könn­ten sich unse­re 1970er Bra­si­lia­ner mit den aktu­el­len Augs­bur­gern mes­sen, nach­dem sie ein Jahr lang inten­siv vor allem Tak­tik trai­niert, sich an die Bäl­le, Schu­he, den Rasen und das Pres­sing gewöhnt und mit dem Rau­chen auf­ge­hört hätten.

Umge­kehrt muss man fai­rer­wei­se fra­gen: Wel­che Figur gäbe das aktu­el­le Team von Real Madrid, zurück­ver­setzt in den Juli 1954 ins Ber­ner Wank­dorf-Sta­di­on, gegen die deut­sche Natio­nal­mann­schaft um Fritz Wal­ter ab? Auf die­sem tie­fen Rasen, mit die­sen Töp­pen und dem dama­li­gen Ball möch­te ich die Bel­ling­ham, Kroos und Vini­ci­us Juni­or mal zau­bern sehen…

Wie auch immer, jeden­falls gibt es nach wie vor kaum eine Mög­lich­keit, als Zuschau­er span­nen­de­re und auf­re­gen­de­re neun­zig Minu­ten zu ver­brin­gen als bei einer Par­tie elf gegen elf im geho­be­nen Seg­ment der Ligen. Nie waren das spie­le­ri­sche Niveau und das Tem­po so hoch wie heu­te. Und trotz­dem lässt mich der Fuß­ball mitt­ler­wei­le kalt, eben weil er zwi­schen Kom­merz und Pro­pa­gan­da zer­rie­ben wur­de und wird und wer­den wird, weil eigent­lich immer klar ist, wer am Ende gewinnt – wer soll Real noch schla­gen, wenn auch Mbap­pé in Madrid spielt? wie sol­len die Bay­ern nicht Meis­ter wer­den, wenn die bes­ten Spie­ler der Kon­kur­renz immer nach Mün­chen gehen? –, weil die Mann­schaf­ten aus Legio­nä­ren bestehen, die zwar phan­tas­tisch spie­len, aber eben heu­te hier und mor­gen dort, die alle­samt „Bera­ter” haben, die auf den nächs­ten Mehr­bie­ten­den lau­ern, weil sie bei jedem Wech­sel mit­kas­sie­ren, und wäh­rend die Stars vor der Fan­kur­ve osten­ta­tiv mit der Hand auf das Ver­eins­em­blem auf ihrer Brust klop­fen, ste­hen sie schon in Ver­hand­lun­gen mit ihrem neu­en Club. Ich sah zuletzt das Spiel Dort­mund gegen Paris St. Ger­main, ein im Ruhr­pott sie­deln­der inter­na­tio­na­ler Aus­bil­dungs­ver­ein gegen eine aus Katar finan­zier­te Plas­tik­trup­pe, tol­ler Fuß­ball, ohne Fra­ge, doch von den Schwarz­gel­ben kann­te ich fast nie­man­den mehr. War­um soll­te man mit einem sol­chen Bäum­chen-wechs­le-dich-Ensem­ble sym­pa­thi­sie­ren, das zufäl­lig gera­de in Dort­mund zusam­men­spielt, dem aber jeder Kicker weg­ge­kauft wird, der das Zeug zum Star besitzt? (Das Publi­kum im geils­ten Sta­di­on der Welt hat kei­ne Wahl, die Armen leben ja in Dort­mund, und außer dem West­fa­len­sta­di­on, das inzwi­schen einen gro­tes­ken kom­mer­zi­el­len Namen trägt, gibt es dort nicht vie­le Vergnügungsstätten.)

Ange­sichts der enor­men Zahl von Fuß­ball­af­fi­zier­ten dürf­ten noch eini­ge ande­re Zeit­ge­nos­sen exis­tie­ren, und sei es nur unter den Boo­mern bzw. Dot­to­res, denen es ähn­lich geht wie mir. Die Kom­mer­zia­li­sie­rung oder Mono­po­li­sie­rung die­ses Sports kön­nen sie immer­hin öffent­lich bekla­gen, dabei spie­len vie­le Medi­en mit, aller­dings auf ver­gif­te­te Wei­se, indem sie zum Bei­spiel Fan­pro­tes­te gegen den Ver­eins­see­len­ver­kauf für ihre gene­rel­le anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Agen­da ver­ein­nah­men. Die Popu­la­ri­tät von Clubs wie dem SC Frei­burg oder dem FC St. Pau­li unter lin­ken Jour­na­lis­ten (Pleo­nas­mus, ich weiß) hat damit eben­so zu tun wie die Unpo­pu­la­ri­tät etwa von RB Leip­zig oder der TSG Hof­fen­heim. Hei­kel wird es indes, wenn nicht die aus­ufern­de Ver­mark­tung des Sports, son­dern die woke Pro­pa­ga­na­da, die heu­te zum Fuß­ball gehört wie Eck­fah­ne und Mit­tel­kreis, auf den Rän­gen Pro­tes­te aus­löst – etwa wenn Fans, wie in meh­re­ren Sta­di­en gesche­hen, ein Spruch­band mit den Wor­ten „Es gibt nur zwei Geschlech­ter!” ent­rol­len –; dann schie­ben der DFB und die Öffent­lich­keits­ver­we­ser schnell, wie ein Qua­li­täts­sport­jour­na­list schrie­be, einen Rie­gel vor, der Ver­band, indem er die Ver­ei­ne mit Geld­stra­fen über­zieht, und die Genos­sen Medi­en­schaf­fen­den, indem sie die Denun­zia­ti­ons­be­grif­fe dazu lie­fern („trans­phob”, „rech­te Pro­vo­ka­teu­re” etc.).

Wir haben es mit einem ziem­lich ver­rück­ten Para­dox zu tun: dem Ver­fall der Attrak­ti­vi­tät einer Sport­art, die immer bes­ser wird. Zugleich offen­bart sich im Spit­zen­fuß­ball jenes sym­bio­ti­sche Zusam­men­wir­ken von Wirt­schaft und Woke­ness, das zu den prä­gen­den Phä­no­me­nen unse­res Epöch­leins gehört und dem mei­ne Expek­to­ra­tio­nen hier immer wie­der gel­ten. Wäh­rend es eine Rei­he Publi­ka­tio­nen gibt, in denen die Ver­flech­tung von Sport und Kom­merz kri­tisch betrach­tet wird, ist die immer stär­ke­re Poli­ti­sie­rung der euro­pa­weit popu­lärs­ten Lei­bes­übung ein Bestand­teil der Gro­ßen Trans­for­ma­ti­on der west­li­chen Gesell­schaf­ten in Fra­gen-Sie-nicht und hat des­halb als posi­tiv zu gel­ten, was kon­kret so aus­schaut, dass die meis­ten Sport­jour­na­lis­ten sie begrü­ßen und beför­dern, etwa indem sie Bücher gegen „Ras­sis­mus”, „Homo­pho­bie” und ande­re „rech­te” Ten­den­zen im Fuß­ball schrei­ben; ich hat­te neu­lich einen die­ser Autoren im Sor­ti­ment (hier, ein biss­chen scrollen).

Ein Buch aus der eben skiz­zier­ten ver­falls­dia­gnos­ti­schen Per­spek­ti­ve lag also, wie man sagt, in der Luft, und nun ist es erschie­nen.

„Eine toxi­sche Alli­anz aus Kom­merz und Ideo­lo­gie gefähr­det die ’schöns­te Neben­sa­che der Welt’ in ihrer Sub­stanz”, heißt es in der Ankün­di­gung. „Von die­ser Bedro­hung durch Geschäf­te­ma­cher, Poli­ti­ker und ihre jour­na­lis­ti­schen Hand­lan­ger, die sich der Attrak­ti­vi­tät des Fuß­balls para­si­tär bedie­nen, han­delt die­ses Buch.”

Der Ver­fas­ser ist Lite­ra­tur­his­to­ri­ker und eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor, was in die­sem Zusam­men­hang nicht unwich­tig ist, denn er muss kein Blatt mehr vor den Mund neh­men. Gün­ter Scholdt, Jahr­gang 1946, hat – auch das ist in die­sem Zusam­men­hang nicht ganz unwich­tig – frü­her selbst gekickt, beim UFC Wacker 73 in der Kreis­li­ga Saarbrücken. Was mir Gele­gen­heit zu einer klei­nen Abschwei­fung ver­schafft. Wie im Saar­land damals üblich, habe sei­ne Mann­schaft häu­fig auf „Bra­sche­plät­zen” gespielt, erin­nert sich Scholdt, „mit der Fol­ge, dass man jedes zwei­te bis drit­te Spiel erheb­li­che Abschürfungen auf Knien oder Ober­schen­keln nach Hau­se brach­te, gespren­kelt mit etli­chen roten Pünktchen. Man wach­te auf, wenn die Bett­de­cke zu sehr auf lädier­ten Kör­per­tei­len las­te­te.” Ich weiß übri­gens noch, was ein Schot­ter- bzw. Schla­ckeplatz, wie sie in Ber­lin genannt wur­den, war; ich tra­ge noch immer ein paar schwarz­blaue Schla­cke­krü­mel vom Kis­sin­gen­sta­di­on in Ber­lin Pan­kow sicht­bar unter der Haut an mei­nen Knien. Damals erklär­te mir ein Bezirks­klas­se-Kicker der tech­nisch beschla­ge­ne­ren Sor­te, er spie­le lie­ber auf Schot­ter als auf dem Rasen, weil der Geg­ner sich dort drei­mal über­le­ge, ob er eine Grät­sche ris­kie­re. In sei­ner Mann­schaft, sekun­diert Scholdt, sei­en damals Wet­ten dar­auf abge­schlos­sen wor­den, wie lan­ge es dau­ern wer­de, „bis ein Rasen­plät­ze gewohn­ter Neu­ling sich das Grät­schen abge­wöhn­te”. Abschwei­fung beendet.

Ver­wei­len wir gleich­wohl noch im Nost­al­gi­schen. Womög­lich, ach was: mit Sicher­heit hat der Fuß­ball in den schlim­men prä­wo­ken Zei­ten sei­ne inte­gra­ti­ve Kraft weit bes­ser bewie­sen als heut­zu­ta­ge. „In unse­ren Rei­hen waren alle Fakul­tä­ten, Urtei­le und Vor­ur­tei­le ver­tre­ten. Prak­ti­zie­ren­de Chris­ten und Athe­is­ten, klas­si­sche Wirt­schafts­li­be­ra­le mit FDP- oder CDU-Prä­gung oder Lin­ke, von den Jusos bis zur DKP”, erin­nert sich Scholdt. „Übri­gens waren wir auch mul­ti­kul­tu­rell auf­ge­stellt. Ohne lan­ge nach­zu­den­ken, fal­len mir als Mann­schafts­ka­me­ra­den Türken, Tune­si­er, etli­che Schwarz­afri­ka­ner, ein Alge­ri­er, Grie­che und Argen­ti­ni­er ein – das Gan­ze ohne spe­zi­fi­sche Absicht oder Ver­hal­tens­ideo­lo­gie. Unse­re fremd­stäm­mi­gen Mit­spie­ler bean­spruch­ten kei­ne ‚kor­rek­te’ Spra­che, weil dar­an schlicht kein Bedarf bestand. Ich erin­ne­re mich an eine aus­gie­bi­ge Knei­pen­fei­er nach einem für unse­re Ver­hält­nis­se gran­dio­sen Sieg. Auch unser Mit­tel­feld­ta­lent Modou aus dem Sene­gal fei­er­te tüchtig mit. Als Mos­lem des dabei üblichen Bier­kon­sums unge­wohnt, mach­te er bald schlapp, worüber beim nächs­ten Trai­ning aus­gie­big geläs­tert wur­de. (…) In Sachen Völ­ker­ver­stän­di­gung via Fuß­ball erin­ne­re ich mich an ein span­nen­des Match mit jun­gen afri­ka­ni­schen Deutsch­leh­rern. Sie waren im Rah­men eines Kul­tur­aus­tauschs nach Saarbrücken gekom­men, und ich habe sie eine Woche lang per ‚Som­mer­uni­ver­si­tät’ unter­rich­tet. Als krö­nen­den Abschluss ver­ab­re­de­ten wir ein Match zwi­schen unse­rem UFC und den Gäs­ten, die hoch­be­gab­te Spie­ler in ihren Rei­hen hat­ten. Wir ver­lo­ren 1:2, was kei­ne frei­wil­lig-diplo­ma­ti­sche Nie­der­la­ge war. (…) Es folg­te ein rau­schen­des Fest in unse­rer Wohnung.”

Von Frem­den­feind­lich­keit, fährt Scholdt fort, habe er in Jahr­zehn­ten akti­ver Fuß­ball­tä­tig­keit „prak­tisch kaum etwas verspürt”, und er sei auch nie auf Anti­se­mi­tis­mus gesto­ßen. „Erst gegen Ende mei­ner akti­ven Zeit zeig­ten sich Pro­ble­me in Matches gegen eine fast homo­ge­ne Türkenmannschaft mit einer erkenn­ba­ren Stei­ge­rung der Bru­ta­li­tät. Wohl­ge­merkt galt das nicht für Ein­zel­ne, son­dern für das eth­ni­sche Kol­lek­tiv. Einer mei­ner Nach­fol­ger im Trai­ner­amt war übrigens Türke. Das klapp­te so rei­bungs­los, dass darüber nie­mand ein Wort ver­lor. Gleich­wohl wol­len uns heu­te ideo­lo­gie­be­sof­fe­ne Schnö­sel in ihren Dis­kri­mi­nie­rungs­äm­tern nach­träg­lich beleh­ren, dass schon zu die­ser Zeit zumin­dest unter­schwel­li­ger Ras­sis­mus am Wer­ke war. Eher wur­de mehr­heit­lich Mul­ti­kul­ti gelebt, bevor der Begriff in Mode kam.”

Tem­pi aber­mals pas­sa­ti. Aber als Hin­ter­grund­fo­lie und Kon­trast­mit­tel sind sol­che Erin­ne­run­gen recht hilf­reich, spe­zi­ell für jene Bleich­ge­sich­ter, die sie aus Alters­grün­den nicht tei­len kön­nen und den aktu­el­len Gän­gel­be­trieb für etwas Natur­ge­ge­be­nes hal­ten. Inzwi­schen läuft unter Schlag­wor­ten wie „Vie­falt”, „Bunt­heit” und „Diver­si­ty” eine Dau­er­wer­be­sen­dung für Gesell­schafts­spal­tung. Bli­cken wir mit Scholdt noch­mals zurück, dies­mal indes nur auf die vor­hin erwähn­ten gesamt­kli­ma­ver­wan­deln­den zwei Jahrzehnte:

„2006 bereits ver­las Phil­ipp Lahm als Spielführer vor Län­der­spiel­be­ginn eine vor­ge­fer­tig­te Erklä­rung gegen den Gum­mi­be­griff ‚Ras­sis­mus‘, eine Kund­ge­bung, die an DDR- oder FDJ-Losun­gen erin­nert. Auch Bal­lack, Met­zel­der, Mer­te­sa­cker oder Hitzl­sper­ger wie die Natio­nal­elf war­ben im ‚Netz gegen Nazis‘ und etli­chen ande­ren Platt­for­men die­ser Art. Leon Goretz­ka trug zudem einen alber­nen ‚Kein Fuß­ball den Faschisten‘-Sticker. Auch ließ er sich fürs Bun­des­bahn-Maga­zin DB mobil mit Anti­fa-Devo­tio­na­li­en auf dem DFB-Tri­kot foto­gra­fie­ren. Und der Tap­fe­re schwenk­te auch noch eine Fah­ne ‚Gegen Nazis‘. Zur Unterstützung von Mer­kels Flüchtlingspolitik dien­ten Bun­des­li­ga­tri­kots mit ‚Refu­gees Welcome‘-Aufschriften. Es folg­ten DFB-gestützte Kam­pa­gnen gegen CO2-Ver­brauch oder für das regie­rungs­amt­li­che Coro­na-Manage­ment. Zuwei­len knie­ten deut­sche Natio­nal­spie­ler im Auf­trag von Black Lives Mat­ter oder betei­lig­ten sich an diver­sen Lob­by­ak­ti­vi­tä­ten für LGBTQ oder ‚Fuß­ball kann mehr‘ zur Ver­stär­kung von Frau­en­quo­ten im Ver­band und Anhe­bung der Spit­zen­ge­häl­ter von Spielerinnen.“

Akri­bisch beschreibt der sach­kun­di­ge Eme­ri­tus, wie die „schöns­te Neben­sa­che” in den ver­gan­ge­nen zwan­zig Jah­ren für die poli­ti­schen Pro­pa­gan­da ver­ein­nahmt wur­de. Der Fuß­ball ward auf Linie gebracht wie die Uni­ver­si­tä­ten, der Kul­tur­be­trieb, die Kir­chen und gro­ße Tei­le der Wirt­schaft. Das han­deln­de Per­so­nal ist gen­re­über­grei­fend so iden­tisch wie aus­tausch­bar. „Man bli­cke auf unse­re Sport­funk­tio­nä­re und ihre typi­schen Kar­rie­ren: DFB-Prä­si­dent Bernd Neu­en­dorf (SPD, früher Staats­se­kre­tär in NRW), der 1. Vize­prä­si­dent Hans-Joa­chim Watz­ke (CDU, alte JU-Freund­schaft mit Fried­rich Merz und etli­chen poli­tisch ein­fluss­rei­chen Lob­by­grup­pen atta­chiert), Rein­hard Rau­ball (SPD, Ex-NRW-Jus­tiz­mi­nis­ter), Vize­prä­si­dent Her­mann Wink­ler (CDU, der sein hal­bes Leben in der Poli­tik ver­brach­te). Oder die grüne Frei­burg-Con­nec­tion mit etli­chen Vor­stands­äm­tern und Jogi Löw als Stein­mei­er-Wahl­mann. Der neue DFB-Geschäftsführer Sport, Andre­as Ret­tig, war zuvor bereits bei St. Pau­li, Frei­burg und Köln mit überschaubarem sport­li­chen Erfolg, aber ein­schlä­gi­gen ‚Werte‘-Sprüchen tätig. (…) Man könn­te wei­ter­ma­chen mit Ver­eins­chefs wie Frank­furts Peter Fischer mit bes­ten (auch für ihn selbst äußerst hilf­rei­chen) Ver­bin­dun­gen zu Frau Fae­ser und dem grünen Bun­des­vor­sit­zen­den Nouripour.”

Im Zen­trum allen Gleich­schal­tungs­fu­rors steht natür­lich die Natio­nalMann­schaft. „Der DFB ist kolo­ni­siert wie etli­che Insti­tu­tio­nen in unse­rem Staat“, kon­sta­tiert Scholdt – und wer wür­de ihm da wider­spre­chen? Nach­dem der pein­li­che Auf­tritt der Deut­schen sowohl auf dem Rasen als auch auf der Tri­bü­ne bei der WM in Katar auf­grund des hoch­ver­dien­ten Aus­schei­dens in der Vor­run­de wenigs­tens eine zeit­li­che Begren­zung und viel noch ver­dien­te­re Häme erfuhr, droht bei der Euro­pa­meis­ter­schaft das Wei­ter­kom­men samt Agit­prop-Beglei­tung sämt­li­cher Spie­le: „Im Janu­ar wur­de von Staats­mi­nis­te­rin Clau­dia Roth und Phil­ipp Lahm ein beglei­ten­des ‚Kul­tur­pro­gramm‘ vor­ge­stellt, wofür die Regie­rung – war­um wohl? – 13 Mil­lio­nen unse­rer Steu­er­gel­der berappt. In 300 Ver­an­stal­tun­gen wer­den uns – es graust einen bereits bei die­ser wohl­klin­gen­den Eti­ket­tie­rung – Fuß­ball­wer­te wie ‚Fair Play, Respekt und Tole­ranz‘ ver­mit­telt, von musi­ka­li­schen und tän­ze­ri­schen Dar­stel­lun­gen bis zu Grund­schul Events. Um wel­che Art ver­steck­ter Wahl­kampf­hil­fe es sich han­delt, ver­riet der noto­risch main­stream­be­flis­se­ne Tur­nier­di­rek­tor Lahm, indem er auf die jüngsten Demons­tra­tio­nen gegen die AfD ver­wies, in deren Geist die Initia­ti­ve ver­lau­fe. Eine Offen­her­zig­keit, die sich von Scham­lo­sig­keit nicht mehr unterscheidet.“

Der Ver­fas­ser erin­nert dar­an, dass anno 2015 der dama­li­ge Team­ma­na­ger Oli­ver Bier­hoff im Kicker aus­ge­plau­dert hat­te, „dass der Anstoß für die Begriffs­kas­tra­ti­on der Natio­nal­mann­schaft zur blo­ßen ‚Mann­schaft‘ auf Anre­gung Mer­kels erfolg­te. Auch der Aus­tausch von Schwarz-Rot-Gold zu Weiß-Weiß-Weiß Plus ist auf poli­ti­schem Mist gewach­sen. Der­ar­ti­ges för­de­re laut Bier­hoff angeb­lich ‚die Iden­ti­fi­ka­ti­on von Fans und Spie­lern mit unse­rer Mannschaft‘.”

„Kann man”, fragt Scholdt, „ahnungs­lo­ser sein?” (Ich glau­be nicht an Ahnungs­lo­sig­keit, by the way; die sym­bo­li­sche Dena­tio­na­li­sie­rung ist wohl eher ein dem Gro­ßen Aus­tausch sekun­die­ren­der Designwechsel.)

Ein Kapi­tel des Buches wid­met sich dem „gehyp­ten” Frau­en­fuß­ball. „Es muss für Femi­nis­tin­nen beson­ders lust­voll sein”, spe­ku­liert der Autor, „sich nicht auf Sport­ar­ten zu beschrän­ken, in denen der ‚Mehr­wert‘ sich von selbst ergibt (Gym­nas­tik, Tanz, Eis­kunst­lauf etc.), son­dern in eine mil­li­ar­den­schwe­re Män­ner­do­mä­ne ein­zu­bre­chen, die sie bes­tens nährt, wäh­rend frau sich zugleich in der Opfer­po­se gefällt, unterstützt von domes­ti­zier­ten Funk­tio­närs- und Pro­pa­gan­da­männ­chen. Schon in den spä­ten 1950ern hat­ten wir Jungs übrigens bei unse­rer dörf­li­chen Kicke­rei nichts dage­gen, dass sich ein begab­tes, nicht weh­lei­di­ges Mäd­chen anschloss. Und heu­te gibt es im DFB Mäd­chen- wie Jung­en­teams, die bis zu einer bestimm­ten Alters­stu­fe sogar gemein­sam antre­ten. Aus der F‑Ju­gend-Zeit mei­nes Soh­nes erin­ne­re ich mich bewun­dernd eines beacht­li­chen weib­li­chen Talents, das man­che Jungs alt aus­se­hen ließ. Eine mei­ner Enke­lin­nen spielt Fuß­ball.” Miso­gyn scheint der Herr Pro­fes­sor jetzt nicht unbe­dingt zu sein.

Der Qua­li­täts­un­ter­schied zwi­schen Fuß­ball und Frau­en­fuß­ball lässt sich gleich­wohl nicht auf­he­ben. Scholdt erin­nert an die Bin­sen­wahr­heit, dass die Gehalts­lü­cke zwi­schen Män­nern und Frau­en im Fuß­ball kei­ne Fra­ge der Gerech­tig­keit ist, son­dern eine von Ange­bot und Nach­fra­ge. Im Schnitt ver­zeich­ne die Bun­des­li­ga der Frau­en pro Spiel 1000 Zuschau­er. „Ein ein­zi­ger Dritt­li­gist wie Dyna­mo Dres­den zähl­te in sei­nen Heim­spie­len 456.409 Zuschau­er, das heißt rund 28 Pro­zent mehr als die gan­ze Frau­en­li­ga.“ Und alle Frau­en­för­de­rung, die Eta­blie­rung von Fuß­ball­funk­tio­nä­rin­nen, weib­li­chen Fühungs­kräf­ten in den Ver­ei­nen, Schieds­rich­te­rin­nen, Kom­men­ta­to­rin­nen etc., die eine der letz­ten Män­ner­do­mä­nen auf­bre­chen sol­len (bevor die Mos­lems oder die Faschis­ten hier wie­der für Geschlech­ter­tren­nung sor­gen), sind nicht imstan­de, das Geki­cke der Schwes­tern als soge­nann­ten Publi­kums­ma­gne­ten zu eta­blie­ren. Was die Hol­den aber kei­nes­wegs dar­an hin­dert, die Öffent­lich­keit mit Kla­gen wegen ihrer angeb­li­chen Unter­be­zah­lung und ihres gene­rel­len, wahr­schein­lich struk­tu­rel­len Benach­tei­ligt­wer­dens zu behelligen.

Ich rücke im Fol­gen­den einen län­ge­ren Abschnitt aus dem Frau­en­fuß­ball­ka­pi­tel ein, der illus­triert, mit wel­cher Hydra man es zu tun hat.

„Viel­leicht sähen man­che Frau­en­fuß­ball-Gläu­bi­ge die Din­ge anders, wüssten sie, wie umfas­send sie mani­pu­liert wer­den, noch dazu in einer für die meis­ten schlicht unvor­stell­ba­ren finan­zi­el­len Dimen­si­on. Denn was angeb­lich Vol­kes Wil­le ist, wur­de durch sys­te­ma­ti­sche poli­tisch-kom­mer­zi­el­le Lob­by­ar­beit erst erzeugt – von welt­um­span­nen­den Orga­ni­sa­tio­nen bzw. Initia­ti­ven zur Durch­set­zung von Gleich­heits­dog­men. (…) Da gibt es ‚Femi­nist Futures for Foot­ball!?‘ (natürlich gegen jede Art von Dis­kri­mi­nie­rung), ‚Dis­co­ver Foot­ball‘, ein ‚Frauen*-Fußball-Kultur-Festival‘ (seit 2017 Mit­glied im Deut­schen Olym­pi­schen Sport­bund). Bei­de gestützt durch die Fried­rich-Ebert-Stif­tung sowie Poli­tik und Wirt­schaft. Die DFB-Kul­tur­stif­tung unter­hält im höchs­ten Gre­mi­um die Arbeits­ge­mein­schaft Viel­falt und besol­det zusätz­lich einen Bot­schaf­ter dafür. Lei­te­rin ist bezeich­nen­der­wei­se die St.‑Pauli-Mitgliedin Clau­dia Wag­ner-Nie­ber­ding. Zur Agen­da wur­de die Initia­ti­ve spä­tes­tens unter Mer­kel. Baer­bock för­dert ‚Dis­co­ver Foot­ball‘, wobei überall ‚Geschlech­ter­rol­len auf­ge­bro­chen‘ oder demas­kiert wer­den zuguns­ten von geleb­ter Diver­si­tät. Auch die Hein­rich-Böll-Stif­tung, die Links­par­tei, VW und Clau­dia Roth sind im Frau­en­boot, oder Michel­le Müntefering, die schon vor Jah­ren eine femi­nis­ti­sche Außen­po­li­tik pro­kla­mie­ren half.

Die regel­mä­ßig als DFB-Che­fin ins Spiel gebrach­te Kat­ja Kraus, liiert mit der Ex-Staats­se­kre­tä­rin im Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um Kat­rin Suder, erstrebt per Netz­werk einen Sys­tem­wech­sel im deut­schen Fuß­ball. Das Gan­ze als Teil der neun­köp­fi­gen Femi­nis­mus-Initia­ti­ve ‚Fuß­ball kann mehr‘. Es geht um Frau­en­quo­ten in Sport­gre­mi­en und Fan-Orga­ni­sa­tio­nen, ‚geschlech­ter­ge­rech­te, dis­kri­mi­nie­rungs­freie Spra­che‘, ‚Sank­tio­nie­rung jeder Form von Sexis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung auch außer­halb des Plat­zes‘. Und schon sind wir bei Maul­kör­ben und frau zeigt Kral­len. Im Zeit-Inter­view vom Mai 2021 prä­sen­tier­te sie ein ‚Diver­si­ty-Pro­gramm‘ als Teil des Lizen­zie­rungs­ver­fah­rens der DFL. Das bedeu­tet schlicht: Bun­des­li­ga­ver­ei­ne, die sich nicht gen­der­ge­recht ver­hal­ten oder die Frau­en­quo­te igno­rie­ren, ris­kie­ren Lizenz­ent­zug (Her­vor­he­bung von mir – M.K.).

So viel Ent­schie­den­heit impo­niert natürlich Micha­el Horeni (FAZ-Sport­re­dak­teur, Phy­sio­gno­mis­ten kli­cken bit­te hier): Kraus brin­ge alles mit, um den DFB zu führen. Im Fuß­ball- und Sport­busi­ness habe sie längst ihr Talent bewie­sen, unter ande­rem als geschäfts­füh­ren­de Gesell­schaf­te­rin der Sport­mar­ke­ting-Agen­tur Jung von Matt/sports oder als lang­jäh­ri­ge Auf­sichts­rä­tin bei Adi­das. Sie sei ‚eng ver­netzt mit dem poli­ti­schen und media­len Betrieb‘. Was wir ger­ne glau­ben, denn ohne sol­che Bezie­hun­gen fie­le ihr Image oder Ein­fluss erheb­lich beschei­de­ner aus. So kann sie denn auch, Ver­bin­dun­gen von Kom­merz, Poli­tik und Sport offen­le­gend, die wei­te­re För­de­rung des Frau­en­fuß­balls als Gemein­in­ter­es­se fei­ern: ‚Immer mehr Ent­schei­der ver­ste­hen, dass es wich­tig ist, nicht nur im Hin­blick etwa auf die gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung, son­dern auch weil es ein Gewinn für die Mar­ke ist und somit das Geschäfts­mo­dell stärkt.‘

Zu wei­te­ren Akti­vis­tin­nen gehö­ren Jana Bern­hard, Clau­dia Neu­mann (ZDF), ran-Mode­ra­to­rin Gaby Papen­burg, Bibia­na Stein­haus-Webb, die Auf­sichts­rats­vor­sit­zen­de von St. Pau­li, San­dra Schwed­ler, Almuth Schult und die Bun­des­vor­sit­zen­de der Fan-Ver­ei­ni­gung Unse­re Kur­ve, Helen Breit. Sie sind eng ver­netzt mit dem Bündnis Akti­ver Fuß­ball­fans, ent­stan­den aus dem Bündnis anti­fa­schis­ti­scher Fan­clubs und Fan­in­itia­ti­ven, zudem Teil des Netz­werks Foot­ball Against Racism in Euro­pe. Die Ver­ei­ni­gun­gen sind in die Gre­mi­en der Fuß­ball­ver­bän­de inte­griert und beein­flus­sen DFB und DFL mehr, als einem lieb sein kann. Wei­te­re Ver­bin­dun­gen bestehen zur Initia­ti­ve F_in Netz­werk Frau­en im Fuß­ball, einer Ver­ei­ni­gung meist weib­li­cher Fans mit Wis­sen­schaft und Medi­en. Kopf des Netz­werks ist Ant­je Hagel, eine radi­ka­le Femi­nis­tin der 1980er, Ko-Autorin des Link­s­pam­phlets ‚Tat­ort Sta­di­on. Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Sexis­mus im Fußball‘.

Hin­zu kommt das (von der Fuß­bal­le­rin Chan­tal Hop­pe und dem ehe­ma­li­gen Bun­des­spre­cher der Grünen Jugend Andre­as Geb­hard gegründete) DFB-nahe Netz­werk Fema­le Foot­ball Aca­de­my als wei­te­re Lob­by­grup­pe für Frau­en­quo­ten und Gen­der. Unter gemein­sa­mer Ber­li­ner Adres­se ope­riert die New­thin­king Com­mu­ni­ca­ti­ons GmbH des Ex-Grünen-Funktionärs und ‚Netz­ak­ti­vis­ten‘ Mar­kus Becke­dahl. Unterstützung aus dem grünen Milieu erhal­ten die Netz­wer­ke zudem von Clau­dia Roth, die in zahl­rei­che DFB-Pro­jek­te ein­ge­bun­den ist, unter ande­rem als Mit­glied der DFB-Kul­tur­stif­tung. Ex-Welt­meis­te­rin Aria­ne Hingst wie­der­um gehört zu den Gründerinnen eines Frau­en­fuß­ball-Pro­jekts bei Vik­to­ria Ber­lin, in dem sich vie­le pro­mi­nen­te Frau­en enga­gie­ren, wie Fran­zis­ka van Alm­sick, Maria Höfl-Riesch, Caro­lin Kebe­kus oder Dun­ja Hayali.“

Das ein­zig Kri­tik­wür­di­ge am Buch ist das Feh­len eines Regis­ters. Dann hät­te man die Oppor­tu­nis­ten und Lob­by­is­ten, Zer­trüm­mer­frau­en und Absahner*:_innen alle nach­schla­ge­ge­recht beisammen.

In einem ande­ren Kapi­tel beschäf­tigt sich Scholdt, durch sei­nen Frei­zeit­ki­cker­hin­ter­grund empi­risch im Bil­de, mit den Gewalt­tä­tig­kei­ten, die nicht erst seit den Tagen des freund­li­chen Gesichts im Ama­teur­fuß­ball immer häu­fi­ger her­vor­bre­chen, sich in Schlä­ge­rei­en, Ver­let­zun­gen, Angrif­fen auf Schieds­rich­ter, Poli­zei­ein­sät­zen und Spiel­ab­brü­chen mani­fes­tie­ren und weni­ger der Poli­ti­sie­rung die­ses Sports geschul­det als viel­mehr eine direk­te Fol­ge der Poli­tik sind. Unter Poli­ti­sie­rung fällt ledig­lich das offi­zi­el­le Beschwei­gen des Problems.

Zuletzt ein Gedan­ken­spiel. Der eine oder ande­re Boo­mer wird sich noch an Paul Breit­ner erin­nern, der zur Zeit von Maos chi­ne­si­scher Kul­tur­re­vo­lu­ti­on „aus Spaß an der Pro­vo­ka­ti­on mit der Peking Rund­schau posier­te” (Scholdt). Wenn man das alte Pho­to gugelt, wird es noch deli­ka­ter: Der „rote Paul” sitzt sogar unter einem Kon­ter­fei des größ­ten Mas­sen­mör­ders der bis­he­ri­gen Geschich­te, was in der so lin­ken wie ent­spann­ten BRD der 1970er Jah­re nie­man­den küm­mer­te; es war ja nicht Hit­ler (oder Strauß). „Aber kein Bun­des­trai­ner überlebte es heu­te, wenn er sich öffent­lich mit der Jun­gen Frei­heit oder Com­pact erwi­schen bzw. foto­gra­fie­ren lie­ße”, notiert der Eme­ri­tus. Um zu ermes­sen, in wel­chem Maße sich die­se Repu­blik seit Breit­ners akti­ven Zei­ten in Rich­tung Gesin­nungs­staat ent­wi­ckelt hat, male man sich nur aus, der Lever­ku­se­ner Spie­ler Flo­ri­an Wirtz, Deutsch­lands momen­tan größ­tes Talent und teu­ers­ter Kicker, lie­ße sich unter einem Pla­kat von Björn Höcke (oder Donald Trump) ablich­ten oder sprä­che sich für die Wahl der Schwe­fel­par­tei aus: Der Gute dürf­te nie­mals wie­der in der Bun­des­li­ga oder für die Natio­nal­mann­schaft, nein: die „Mann­schaft” auf­lau­fen, die öffent­li­che Bes­tie wür­de sei­nen Kopf for­dern, und Lever­ku­sen könn­te kaum noch recht­fer­ti­gen, den Gedan­ken­ver­bre­cher gegen eine hohe Sum­me ins Aus­land abge­scho­ben zu haben.

Das ist der Stand der Dinge.

 

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