Diese Überschrift ist falsch.
Das Gegenteil trifft zu: Endlich beginnt unser Reichsdiskursführer, die Welt zu verstehen.
Im Text liest man die für meiner Mutter zweiten Sohn wie Äolsharfen klingende Vermutung, der Skeptizismus des Kant-Antipoden und Aufklärungsbespötters Johann Georg Hamann scheine „den späten Habermas erfasst zu haben”. Herrschaftsfreier Diskurs? Zwangloser Zwang des besseren Arguments? Posttraditionale Identität? Nie hat man auch nur eine Schwanzfeder davon gesehen.
Merke: „Das politische Vermächtnis des Linken ist die Lieblingslektüre des Reaktionärs.”
Nicolás Gómez Dávila
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„Sentimental harrasment.” Diese Begriffsschöpfung stammt von Philippe Muray, der die Generation Schneeflöckchen bereits 1991 im Blick hatte: „Früher ging der Nihilismus in Rot-Schwarz, inzwischen ist er babyrosa.”
Muray, Altphilologe und Verteidiger des Lasters – er war ein leidenschaftlicher Raucher und nahm sich die Freiheit, 2006 an Lungenkrebs zu sterben –, veröffentlichte unmittelbar nach dem (scheinbaren) Zusammenbruch des Ostblocks sein prophetisches Buch „Das Reich des Guten” („L’Empire du Bien”). In diesem Imperium wird es ihm zufolge so zugehen:
„Es reicht ihnen nicht, jeden Widerstand zum Verstummen gebracht zu haben; sie müssen permanent sein Schreckgespenst an die Wand malen.”
„Die Operation ’saubere Vergangenheit’ ist praktisch abgeschlossen.”
„Nur weil sich alle einig sind, weil alle gegen den Tod, gegen Apartheid, gegen Krebs und Waldbrände sind, nur weil alle für Toleranz, Kosmopolitismus und den Austausch zwischen den Völkern und Kulturen eintreten, ist das noch kein Grund, es nicht tausendmal am Tag zu wiederholen.”
„Seitdem das Prinzip abgesegnet wurde, dass unser Handeln nicht nur für uns selbst, sondern auch, ja vor allem für die anderen Konsequenzen hat, kennt die hygienische und moralische Überwachung kein Halten, kennt die geistige Macht der ‚Wissenschaftler’ keine Grenzen mehr.”
„Den Einfall des ‚passiven Rauchens’ halte ich für eine der großen Errungenschaften der Gegenwart, man wird sie verallgemeinern, ausdehnen und auf andere Bereiche anwenden.”
„Die inzwischen fest verwurzelte Überzeugung, dass jeder jedem gleichwertig ist und dass sich schon immer alle ähnlich waren, führt dazu, dass sich jeder Beliebige legitimiert sieht, seine eigene Psychologie bruchsicheren Genies zu leihen.”
„Frankreich ist gegenüber Deutschland deutlich im Rückstand, was die Eingliederung von Behinderten ins Berufsleben angeht … gegenüber Großbritannien, was die Stellung von Frauen in der Politik betrifft … gegenüber Holland in Bezug auf das Bild von Homosexuellen in den Medien… gegenüber den USA in der filmischen Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit.”
„Das unmittelbar bevorstehende Vereinte Europa wird die Gelegenheit sein, unseren letzten ‚privaten Lastern’ den Garaus zu machen.”
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Ich musste an Muray denken, als ich die Mitteilung der Sardinen las, dass in ihrem Schwarm genug Vielfalt herrsche.
Als das „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland” veröffentlicht wurde, sprach mein innerer Vorurteilssouffleur: Medien wie der Spiegel werden dieses Manifest nicht melden, sondern es erst erwähnen, wenn die etablierten Vielfaltsbetonmischer und Toleranzstacheldrahtzieher ihren Kritikern vorwerfen, sie verbreiteten Märchen. Bzw. Lügen. (Google schlägt unter „Der Spiegel” übrigens die Frage vor: „Ist der ‚Spiegel’ öffentlich-rechtlich?”, was mich lächerte.)
Die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse bei ARD, ZDF, Deutschlandradio und Deutsche Welle (Agra) teilte am Donnerstag mit: „Der Eindruck, dass in den Sendern nur vorgegebene Meinungen diskutiert und verbreitet würden und nur ‚Mainstream’-Themen und ‑Berichterstattung stattfinden könnten, ist falsch.” Es gebe „überall eine lebhafte Streitkultur, bei der alle Meinungen geäußert würden. Berichterstattung finde grundsätzlich nach journalistischen Prinzipien statt”, referiert der Spiegel. „Dass ein Dokument wie das sogenannte Manifest erscheine, sei Ausdruck der Tatsache, dass in den ARD-Medienhäusern Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit herrschten.”
In der Ehemaligen nannte man das Dialektik: Dass der Genosse Biermann überhaupt seine Lieder schreiben kann, ist Ausdruck der Tatsache, dass in der DDR Meinungsvielfalt herrscht.
Was die Meinungsfreiheit betrifft, würde mich interessieren, wie es um die berufliche Situation der Unterzeichner in einem halben Jahr steht.
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Für die Annalen, eins.
Auch die Stasi und ihre Gäste in Berlin-Hohenschönhausen hatte nach dem Ende der DDR viel zu reden und einander zu verzeihen.
Für die Annalen, zwei.
Gegen die Dummheit wird jede Stimme gebraucht. Dumm ist, wer etwas anderes meint als die tote Hose Campino. „Wir sind viele” heißt jetzt: „Wir sind die Klugen”. So klingt die aggressive Infantilität einer Sekte. Der Regierungspunk ist die höchste Form der Rebellion gegen die Opposition. „Die Ärzte” dürfen bei diesem Wettstreit der Regierungszäpfchen nicht fehlen. „Demokratie” heißt ihr neuestes Fabrikat, das mit KI-generiertem Video einen säkularreligiösen Manichäismus verbreitet, als hätte unser kleiner hinkender Doktor aus Rheydt Regie geführt.
Demokratie ist nicht allein „die vielleicht mächtigste Idee der Galaxie” (Letzterer nur um des Reimes willen), sondern sie muss unbedingt vor den Launen des Demos geschützt werden, denn die Demokratie ist gescheitert, wenn sie keine linken Mehrheiten hervorbringt.
Jenen Teilen des Demos, die nicht links wählen, sollte das Stimmrecht und am besten die Existenz entzogen werden.
Es wird noch einmal farblich verdeutlicht, woraus sich eine gute Demokratie zusammensetzt.
Demokratiefeinde indes sehen so aus (die KI übt noch).
Oder so.
Das Kleinchen mit der Schlangenzunge, in der apokalyptischen Symbolik der Antichrist, ist wahrscheinlich Trump (Höcke? Sellner?) als Baby.
Ohne den Meister Urian aus Thüringen geht sowieso nix.
Nie wieder ist jetzt, da haben die schrammelnden Fatzkes durchaus recht. Am Ende ihres Songs erschießt ein – sicherheitshalber en miniature gehaltener – Bundeswehrpanzer die Feinde der Demokratie (= Rechte = Nazis).
Ihre Symbolik geht in Flammen auf.
Die Botschaft der rotgrünen Regierungscombo ist die nämliche:
„Immer nur meckern auf das blöde Scheiß-System,/Das ist so bequem.” Singen sogenannte Punks.
Knalldeutsche Punker für rotgrünen Gesinnungsterror, für Cancel Culture, Hausdurchsuchungen, Kontensperrungen…
Ohne KI sah der Kampf gegen Rechts übrigens noch so aus.
„Sag mir, wo du stehst. Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen!”
Damals war es nur eben kein Punk.
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Ich warte schon lange darauf.
Hetze mit Fakten. Ganz übel.
Auch daran werden wir uns in einer rotgrünen Demokratur nach Campinos und der Ärzte Geschmack gewöhnen müssen. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre Ärzte (oder Arno Breker).
In der Woche vor der Bluttat soll der Mann vor einem Einkaufszentrum und am Bahnhof randaliert haben, schreibt Bild. Ein Zeuge: „Er rief ständig: ‚Teufel, Teufel, Haram, Haram!‘“
Wenn Staatsanwälte der Ansicht sind, dass die Aufassung, der Westen sei haram, einen Menschen schuldunfähig mache, dann Gute Nacht Westen, adieu Recht.
Der Mann mag schuldunfähig sein. Diejenigen, die ihn und seinesgleichen nach Europa und nach Deutschland holten, sind es nicht.
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Gestern in der Münchner Tram sagte in der Maximilianstraße die automatische Stimme: „Achten Sie beim Aussteigen auf Radfahrer!“ Jahrelang hörte man an diesen Stationen das Deppenpartizip „Radfahrende”. Fast wäre ich erschrocken über diese Rückkehr der semantischen Normalität.
Natürlich hat Söder das Gendern nur aus Kalkül abgeschafft; er hat sich ein weiches Ziel gesucht, durch dessen Bekämpfung er sich als konservativ camouflieren kann. Dennoch: Ein Hauch von 1989 durchfuhr die Tram.
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Wo ich denn auf der Maximilianstraße zum Speisen verweilt habe, fragte ein Leser, nachdem ich die schöne Begebenheit getwittert hatte. Nicht doch – ich war wieder in der Oper. Nach dem von mir zuletzt seiner Inszenierung wegen gelobten „Trittico” bedeutete dieser „Parsifal” die Rückkehr zur tristen Normalität. Von einer Regie konnte zwar kaum die Rede sein, aber das Bühnenbild von Baselitz war noch dümmer als die Bilder dieses allen Ernstes immer noch so genannten Malers (oder, wie sich die Gaukler heute bezeichnen, „Künstlers”). Diese Produktion ist schon ein paar Jahre alt, aber es steht zu befürchten, dass so schnell keine neue folgen wird. Freund *** vermutet, ein paar Baselitz-Radierungen könnten dafür ihre Besitzer gewechselt haben; wer weiß das schon.
Anfangs konnte ich sein Bühnenbild noch mit Scherzen kompensieren, etwa der Bemerkung, ich hätte gar nicht gewusst, dass der erste Akt von Hänsel und Gretel zwei Stunden dauert. Wobei in diesem seltsamen Finsterwald, in dem der erste Aufzug spielt, ein Dinosaurierskelett herumliegt, wahrscheinlich um zu zeigen, wie alt die durch zahllose Wiedergeburten irrende Kundry tatsächlich ist, denn die liegt darunter. Der vorsätzliche Grundirrtum sämtlicher „Parsifal”-Inszenierungen seit Wieland Wagner besteht darin, die Gralsritter als etwas Negatives darzustellen; klar: Männerbund, waffentragend, toxisch, keine Frauenquote, und den reinen Toren akzeptieren sie als Migranten erst dann, wenn er den heiligen Speer als Entreebillet mitbringt.
Sobald der Chor auftaucht, verwandelt sich „Hänsel und Gretel” in „Bodysnatchers – Angriff der Körperfresser” (oder „From Dusk Till Dawn”). Der hl. Gral sieht aus wie ein Fläschchen Aquavit, was unsere dänischen Freunde freuen wird. Im dritten Aufzug dreht sich natürlich die ganze Szenerie auf den Kopf, man weiß ja, wenn man Baselitz heißt, was man dem Vernissagenpöbel schuldig ist, wobei die Weltberühmtheit dieses Mannes mir darauf hinzudeuten scheint, dass auch in der Kunstmafia ein gewisser grimmiger Humor herrscht. Regelrecht ekelerregend sind die Kostüme aller Choristen – die Blumenmädchen eingeschlossen –, sogenannte Fatsuits mit hängenden Titten, Bäuchen, Ärschen und baumelnden Schwänzen, praktisch Ostsee, FKK, schlimmstmöglicher Fall (man darf sich schaudernd ausmalen, wie heiß es unter diesen Dingern wird, gerade im Sommer, und die armen Gralsritter tragen zuvor noch schwere Mäntel darüber). Wer mag, kann sich hier ein paar Bilder anschauen. Der deutsche Wille zur Hässlichkeit und zum Exhibitionismus feiert eines seiner schaurigen Feste. Ich hatte als Teenager das Glück, meinen ersten „Parsifal” in einer Ostberliner Allerweltsinszenierung zu erleben, und ich bedauere all diejenigen, die sich heute im zarten Jugendalter in eine solche widersinnige und eklige Produktion verirren und in ihrer ästhetischen Empfänglichkeit für immer beschmutzt sind.
Aber die Musik! Der zweite Aufzug, da hatte Nietzsche recht, ist eigentlich ein Operettenstoff, doch die herrlichen Klanggebirge in den beiden anderen schichtete das Bayerische Staatsorchester, fabelhaft dirigiert von Constantin Trinks, in schwelgerischer Breite auf, ohne zu schleppen; das ist bei Wagner ja stets das Problem, auf das er selbst immer wieder hingewiesen hat. Sehr lobenswert war auch der Gurnemanz des Georg Zeppenfeld mit seiner unglaublich klaren Diktion.
Für Interkontinentalflüge gibt es bekanntlich schwarze Augenmasken, damit man beim Schlafen nicht vom Licht gestört wird; vielleicht sollte man solche Sichtblenden sicherheitshalber mit in die Oper nehmen.
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Nach der Aufführung eröffnete mir ein Beteiligter, worauf Wagners Idee zurückgehen könnte, die Wunde des Amfortas könne nur der Speer schließen, der sie schlug: auf den Mythos von Telephos, der im Vorfeld des Trojanischen Krieges spielt. Aber niemand habe seines Wissens bislang diese Verbindung hergestellt.
Telephos ist ein Sohn des Herakles und der Athene-Priesterin Auge. Um ihn rankt sich eine Aussetzungssage, die hier nicht weiter interessiert. Als die Danaer auf dem Weg nach Troja versehentlich Mysien angriffen, wurden sie von den Mysiern besiegt, deren Anführer Telephos war. Im Kampf empfing er eine Speerwunde von der Hand des Achilleus. Die Wunde schloss sich nicht, und das Orakel verkündete, dass nur derjenige sie heilen könne, der sie geschlagen habe. Telephos nahm in seiner Not den Sohn des Agamemnon, Orest, als Geisel und drohte, das Kind zu töten, wenn ihm keine Hilfe zuteil werde. Dem listenreichen Odysseus kam schließlich die Idee, dass nicht Achilleus, sondern dessen Speer als Verursacher der Wunde vom Orakel gemeint sei. Schließlich wurde etwas von der Lanze abgeschabter Rost in die Wunde gestreut, und sie heilte.
„Wirkung bewies mein Speer an Telephos zweimal”, erklärt der Pelide bei Ovid (Metamorphosen, 12. Buch, Vers 112).
Ich gestehe, dass mir diese Sage unbekannt war, bin mir allerdings recht sicher, dass Wagner sie kannte. Er las ja mit Cosima jeden Abend die Klassiker, bevorzugt antike Texte, die Tragiker rauf und runter (oder Shakespeare). Ovid kommt in Cosimas Tagebüchern freilich nur einmal vor, am 18. September 1870 notiert sie: „Abends lesen wir im Ovid, tags zuvor in Lucrez.” Er stand jedenfalls in der Bibliothek. Wie auch anders?
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Ich möchte heute mit einem Literaturrätsel schließen.
Wer hat diesen Brief von Kleist an Henriette Vogel vorgelesen und ist darüber ins Weinen geraten?
Der Autor ist übrigens ein Zeitgenosse. Von meinen Freunden und Bekannten konnte ihn niemand erraten.