Was gibt’s Erfreuliches? Die Antwort führt mich heute in ein spezielles, wenngleich für den Kleinen Eckladen nicht ungewöhnliches Thema. Selbstverständlich sind Sie eingeladen.
Am Ostermontag geschah etwas vergleichsweise Seltenes: Mir gefiel eine Opernaufführung. Es ist keineswegs so, dass mich das Orchester der Münchner Staatsoper jemals enttäuscht hätte, im Gegenteil, und auch mit den Sängern bin ich oft recht zufrieden. Nur die Kaspereien „der allen Ernstes immer noch so genannten Opernregisseure” (Eckhard Henscheid) gehen mir nahezu regelmäßig gegen den Strich. Diesmal allerdings nicht. In Rede steht die aktuelle Münchner Inszenierung von „Il Trittico”. Dieses späte Werk Puccinis – die Uraufführung war 1918 – gehört zum Besten, was der Magier aus Lucca geschaffen hat. Die drei jeweils etwa eine Stunde langen Einakter, die unter dem Titel „Triptychon“ firmieren, sind in ihrer hermetischen Kompaktheit unvergleichlich, jedes der Stücke ist wie aus einem Guss geschaffen; nie hat Puccini freier komponiert.
Drei unzusammenhängende Einakter für einen Abend, das ist eine in der Operngeschichte singuläre Unternehmung. Dass man die Stücke als nicht zusammengehörig empfand, war der Grund, warum sie die meiste Zeit nicht zusammen aufgeführt wurden. Nur das dritte, „Gianni Schicchi“, hatte sich in den Spielplänen halbwegs etabliert, nicht zuletzt weil darin die einzige berühmte Arie des „Triptychons” erklingt („O mio babbino caro“). Nummer zwei, „Suor Angelica“, wurde fast immer gestrichen, das Auditorium hörte „Gianni Schicchi“ und, seltener, „Il Tabarro“ in Kombination mit Einaktern von anderen Komponisten. Deswegen hat sich das Triptychon im Gegensatz zu anderen Puccini-Opern beim Publikum nie durchsetzen können. Ein Auseinanderreißen der Stücke lag aber entschieden nicht im Sinne des Komponisten. Obwohl sie grundverschiedene Genres vertreten, gehören sie fest zusammen. Genau das hat die Münchner Regie begriffen. Und deshalb erlebte ich, über die Musik hinaus, einen ungewöhnlich gelungenen Opernabend.
Denjenigen, die jetzt aussteigen, weil sie mit dem Thema im Allgemeinen oder mit dem Komponisten nichts anzufangen wissen, will ich noch die Frage hinterherrufen, ob sie eines Tages wirklich diesen Planeten verlassen wollen, ohne jemals das mit geballten Fäusten gegen sein elendes Los gestoßseufzte „Hai ben raggione” des Löschers Luigi im „Tabarro” oder das herzzerknüllende „Senza mamma” der unglücklichen Nonne Angelica gehört zu haben? („O mio babbino caro” kennen Sie ja schon). Oder das herrliche Florenz-Preislied des Rinuccio, das seinen besonderen Schwung aus dem sozusagen synkopisch einmontierten Gianni-Schicchi-Namensmotiv bezieht? Mmh?
Schauen wir auf die Stücke. Auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander zu tun. „Il Tabarro“ ist ein Sozialdrama, das an Bord eines Lastkahns in Paris spielt. Erstmals in der Operngeschichte betritt das städtische Lumpenproletariat in individueller Gestalt die Bühne. Es ist ein Auftritt der Verzweifelten. Die Figur des Luigi übersteigt den damals populären Verismo fast in Richtung sozialistischer Realismus. Auf dem Grund der Schicksalsergebenheit des jungen Mannes liegt revolutionäre Explosivkraft. Puccini hat für ihn das oben erwähnte Arioso komponiert, in dem sich Klage und Kampfansage eindrucksvoll vereinen; der Löscher tritt als legitimer Sprecher der „Verdammten dieser Erde“ auf. Plakativ formuliert: Victor Hugo meets Karl Marx. Da wir in der Oper sind, fließt seine Leidenschaft aber in eine erotische Dreiecksgeschichte. Als Vorlage diente dem Komponisten der Einakter „La houppelande“ von Didier Gold, ein im Paris der kleinen Leute spielendes Schauerdrama, wie man es dort unter Kategorie pièce noire aufführte. Sein Gegenstand sind zwei parallele Morde aus Eifersucht; Puccini ließ einen und damit die Nebenhandlung weg.
Die Welt des „Tabarro“ ist ein enger Käfig, und das Publikum schaut den dort eingesperrten Menschen zu, wie die Ausweglosigkeit sie quält und verrückt macht. Das zentrale Symbol der Oper ist der Fluss. So eintönig wie die Seine fließt das Leben der Protagonisten dahin. Das Wasser ist auch gewissermaßen der einzige Weg, der aus dem Käfig herausführt. In seinem finalen Monolog beschwört der von seiner jungen Frau hintergangene Schiffsbesitzer den Tod im Fluss als tröstliche Alternative zum elenden Leben (Urfassung) beziehungsweise den gemeinsamen Tod mit dem vermuteten Nebenbuhler im Fluss (so die heutige, nach der Uraufführung geänderte Version). Der bergende Mantel, in dem, wie wir erfahren, einst das Kind des Paares lag, bevor es starb, wird am Schluss einen Toten umhüllen.
Musikalisch gehört „Il Tabarro“ zu den großen Meisterwerken der Operngeschichte. Wie der Komponist es schafft, in einer Stunde über ein Kleinstsoziotop von Menschen nahezu alles zu sagen, vom Genrebildlichen bis zur wildesten Leidenschaft, und nebenher eine Ehe sowie ein Verhältnis final zerbrechen und einen Totschlag geschehen zu lassen, das hat in der mir bekannten Kunst überhaupt kein Gegenstück.
„Suor Angelica“, der zweite Teil, handelt vom Selbstmord einer italienischen Nonne und ist die einzige Oper des gesamten Repertoires, in der ausschließlich Frauen auftreten. Nach dem düsteren, sinnlich-derben, von Männerstimmen dominierten „Tabarro“ erscheint der Wechsel in die sterile, keusche, anämische und streng reglementierte Frauenwelt des Klosters zunächst als ein nervenberuhigender Kontrast. Tatsächlich wurde aber nur der Höllenkreis gewechselt. Beide Stücke verbindet die Käfigsituation, in der sich die Protagonisten befinden. Während „Il Tabarro“ nur einen Ausweg nach unten kennt, der in den Fluss führt, weist die Musik von „Suor Angelica“ mit ihrem weltentrückten Silberglanz nach oben.
In Form einer nahezu handlungsfreien Miniatur, von Klostermauern radikal begrenzt, vollzieht sich eine ungeheuerliche Handlung: Eine Nonne adliger Herkunft, die wegen eines unehelichen Kindes von der Familie verstoßen und ins Kloster gesperrt wurde, hat jahrelang darauf gewartet, wenigstens eine Nachricht von ihrem Sohn zu erhalten, um schließlich auf dem Umweg über eine Erbschaftsregelung mitgeteilt zu bekommen, dass er schon seit zwei Jahren tot ist. Sie, die ohnehin nichts mehr hat auf der Welt, die jahrelang an ihr Kind dachte und von ihm träumte und nun auf perfide Weise erfahren muss, mit einem Toten geredet zu haben, will ihm so schnell wie möglich nachfolgen und vergiftet sich in der ersten spontanen Aufwallung. Erst im Sterben durchfährt sie die Erkenntnis, dass sie eine Todsünde auf sich geladen hat und nun wirklich verdammt ist, dass also auf alle Ewigkeit die größtmögliche Entfernung zwischen sie und ihr Kind gelegt sein wird. Verzweifelt erfleht sie von der heiligen Jungfrau ein Zeichen der Gnade … (Die Sängerin der Angelica bekam übrigens den meisten Applaus in München, was, wie ich meine, keineswegs nur an ihr lag.)
Die Burleske „Gianni Schicchi“, Stück Nummer drei, spielt im Florenz der Frührenaissance. Gegenstand der Handlung ist eine Testamentsfälschung – hier liegt der Tote schon zu Beginn auf der Bühne. Ein Schelm und Betrüger namens Gianni Schicchi hat im Florenz des 13. Jahrhunderts offenbar tatsächlich gelebt. Sein Streich bestand darin, sich ins Totenbett des reichen Buoso Donati gelegt und dem Notar im Beisein der Sippe des Verstorbenen ein neues Testament diktiert zu haben, in dem er sich reichlich mitbedachte. Da auf Testamentsbetrug in Florenz für sämtliche Beteiligten die Strafe der Verbannung (und des Abschlagens der rechten Hand) stand, mussten die Verwandten den Betrug in ohnmächtiger Wut geschehen lassen. Dafür lässt Dante Gianni Schicchi in der Hölle büßen.
Die Quelle der Geschichte findet sich im dreißigsten Gesang des „Inferno“. In der deutschen Übertragung von Johann I., König von Sachsen 1854–1873, der sich als Übersetzer Philalethes nannte (und bei dem Schicchi aus Gründen des Metrums mit Vornamen „Hans“ heißt), lautet die Stelle:
„Wie jener, der dort hingeht, einst die Rolle
Buoso Donatis fälschlich durchgeführet,
Letztwillig so nach Form des Rechts verfügend,
Damit der Herde Fürstin er gewinne.“
Auf der Grundlage dieser vier Zeilen schuf Gioacchino Forzano das Libretto für Puccinis Oper, das bereits ohne Musik hochamüsant ist – und mit Musik umwerfend. „Gianni Schicchi” ist ein lärmend dahinschießender, tumultöser und auch makabrer Spaß im Geiste der Commedia dell’Arte. Es herrscht südländische Leichtigkeit, die Bühne befindet sich stets voller Menschen, Ensembleszenen überwiegen, und das Parlando der Stimmen läuft mit jenem der Instrumente um die Wette. Die Handlung erreicht naheliegenderweise ihren Höhepunkt, wenn der falsche Donati das neue Testament diktiert.
Die Sopran-Arie „O mio babbino caro” mag die vielleicht bekannteste Nummer für Frauenstimme überhaupt sein, verlässlich schmilzt das Publikum dahin, verlässlich spendet es Applaus. Das ändert nichts daran, dass die Lieblichkeit der Arie vom Komponisten (selbst-)parodistisch gemeint ist. Mit ihrer Violinen-Weinerlichkeit wirkt die Nummer inmitten des von Holzbläsern dominierten Parlando-Gemeckers wie ein Fremdkörper. Die Musik passt auch nicht zum Text; tatsächlich versichert Lauretta ihrem Herrn Papa ja, dass sie sich vom Ponte Vecchio in den Arno stürzen werde, wenn sie ihren Rinuccio nicht heiraten dürfe. Wir erinnern uns: Anderthalb Stunden zuvor war der Sprung in die Seine eine durchaus ernstgemeinte Option.
Es sind also äußerst verschiedene Milieus und Zustände, die im „Trittico” zusammengeführt werden. Und doch fügen sich die Teile, wenn man sie nacheinander hört, zu einem Ganzen; der Abfolge der grundverschiedenen Genres und Szenerien wohnt ein eigentümlicher, wenn nicht gar eigentümlich erhebender Effekt inne, wobei der Hörer zunächst schwer erschüttert, sodann zu Tränen gerührt und schließlich getröstet entlassen wird. Gleich der verspäteten Fee an Dornröschens Wiege vermag der heitere „Schicchi“ die Wirkung seiner Vorgänger allerdings nur zu mildern, nicht aufzuheben. Die Affekte vermischen sich unentwirrbar, und man verlässt das Opernhaus mit dem Eindruck, nicht spezielle menschliche Geschicke, sondern sozusagen die Aktivitäten der Gattung an sich beobachtet zu haben. *
Zurück denn zur Münchner Aufführung. Ich war vom Bühnenbild – ein düsterer Tunnel – anfangs etwas befremdet (im Sinne des Nicht-schon-wieder), doch es sollte sich als stringent erweisen. Indem der Rahmen derselbe bleibt und nur die Requisiten sich ändern, wird dem Publikum das Zusammengehörige der Teile vor Augen geführt, besonders beim direkten Ineinander-Übergehen von „Tabarro“ und „Angelica“, dem erwähnten bloßen Wechsel von Höllenkreis zu Höllenkreis. Und am Ende des „Schicchi”, wenn der Schelm seine Ansprache ans Publikum hält, versammeln sich folglich auch alle Beteiligten aus den beiden ersten Einaktern auf der Bühne.
Schicchi spricht übrigens, musikalisch untermalt, die Worte (und auch im Satyrspiel geht es um die Hölle):
Per questa bizzarria
m’han cacciato all’inferno… e così sia;
ma con licenza del gran padre Dante,
se stasera vì siete divertiti,
concedetemi voi…
(makes a gesture of applause)
l’attenuante!
Für diese Bizarrerie
haben sie mich in die Hölle geworfen… und so sei es;
aber mit der Erlaubnis des großen Vaters Dante,
wenn du heute Abend Spaß hattest,
gewähre mir…
(macht eine Geste des Applauses)
mildernde Umstände!
* Das war ein wörtliches Zitat aus meinem Puccini-Buch.
PS: Leserin *** widerspricht klug meiner Deutung der Lauretta-Arie:
„Was Ihnen an diesem Showstück parodistisch erscheint, ist meiner Meinung nach sehr gut musikdramatisch begründet. Die Situation, in der Lauretta die Arie singt, ist verfahren bis hoffnungslos: Rinuccio, Laurettas Bräutigam in spe, hat Schicchi gerade gebeten, nicht mit Lauretta fortzugehen, sondern zu bleiben und für alle einen Ausweg zu finden. Schicchi ist aber so wütend darüber, auf welche Weise diese Leute ihn und seine Tochter ablehnen, dass er laut verkündet, dieser Sippschaft niemals helfen zu wollen. Überdies hat er gerade das Sippenoberhaupt, Rinuccios Tante Zita, als habgierig und selbstsüchtig beschimpft, er kann gar nicht mehr zurück. Er fordert Lauretta auf, ihre Tränen zu trocknen und sich auf ihren Stolz zu besinnen. Er will endgültig gehen und zieht seine Tochter mit sich.
Da fällt das junge Mädchen ihrem Vater zu Füßen (so steht es jedenfalls im Libretto) und lässt ihre Arie vom Stapel. Der Text ist kindlich, der Kniefall melodramatisch, aber die Musik ist ganz großes Kino. Adressat ist natürlich nicht nur ihr Vater, sondern auch die wütende, enttäuschte Sippschaft ihres Liebsten. Kurz, sie macht, als Tochter eines gewitzten Mannes, in diesem Moment genau das Richtige: Sie hebt die Situation auf eine andere Ebene. Es geht plötzlich um Leben und Tod, um die Liebe zu den eigenen Kindern, um die Zukunft der Jungen. Die dünkelhafte Sippschaft Rinuccios besteht trotz allem aus Italienern, sie sind auf dieser Ebene ansprechbar. Und ihr Vater, von dem sie ja weiß, dass er sie liebt, verliert nicht das Gesicht, wenn er jetzt doch noch bleibt und hilft. Außerdem schmeichelt sie ihm, indem sie ihm von Beginn ihrer Arie an musikalisch zu verstehen gibt, wieviel Vertrauen sie in ihn setzt, als den großartigsten und erfindungsreichsten aller Väter. Formal ist die Arie ein schlichtes zweistrophiges Gebet. Derart gesungen von einem jungen hübschen Mädchen wirkt das überaus suggestiv, auch auf die widerstrebende Familie Rinuccios. Man darf sich also von der kindlichen Melodramatik der Arie nicht täuschen lassen. Ich denke, Schicchi begreift sehr schnell, was sie da tut, aber er ist innerlich breit, sich darauf einzulassen. Er gibt nach, und tatsächlich gibt es von keiner Seite mehr Widerworte, als er jetzt doch noch nach einem Ausweg sucht. Es ist allen klar, dass er nur aus Liebe zu seiner Tochter anderen Sinnes geworden ist.
Die Handlung hat jedenfalls auf diese Weise endgültig den Tiefengrund bekommen, der nötig war, um die Verbindung mit den beiden anderen Einaktern des Trittico zu gewährleisten und den Schlussstein zu setzen. Deshalb würde ich ‚Gianni Schicchi’ auch nicht als Burleske, sondern als Komödie (im Sinne Mozarts) bezeichnen. Dass Schicchi am Ende die anderen Betrüger betrügt, fällt nicht aus dem komödiantischen Rahmen.”