Gibt es eine „prole drift”, also ein allmähliche Ausbreitung der Unterschichtskultur in die „bessere” und letztlich die gesamte Gesellschaft? Ein Leser moniert eine Acta-Notiz dazu (vom 19. Juli 2023) mit so köstlich anmaßenden Worten, dass eine Replik angezeigt scheint. Mein Eintrag war recht kurz, ich rücke ihn hier noch mal ein:
„Die Sonne bringt es an den Tag. Der deutsche Mensch von ungefähr fünfundvierzig Jahren abwärts ist inzwischen vor allem eins: tätowiert. Insbesondere in Berlin registriere ich scharenweise Tätowierte beiderlei Geschlechts, bei denen wenig Hautfläche mehr frei ist, darunter solche, die nur ein hartgesottener Sexist wie ich noch als weiblich zu lesen vermag – das Schamgefühl verwehrt mir, die Bilder genauer zu betrachten. Unlängst lief mir dort eine junge, üppige Maid entgegen, bei der ich wähnte, sie trüge blaue Leggins, bis sich aus der Nähe herausstellte, dass die Stampferchen durchgängig blaugestochen waren. Und immer früher fangen sie damit an, sich irgendein existentielles Zwischenfazit stechen zu lassen! Wenn ich mir überlege, ich hätte das, was mir mit neunzehn, zwanzig Jahren im Kopf herumging, auf meiner Haut verewigt, wird mir ganz blümerant zumute.
Aber damals war es gottlob noch kein Trend. In meiner Teenagerzeit galten die blauen Stigmata als Erkennungsmerkmal von Männern, die im Knast gesessen hatten (Frauen trugen so etwas nicht, jedenfalls nicht an allgemein sichtbaren Stellen). Seeleute und Ethnien mit Tattoo-Tradition gab es in der ‚Ehemaligen’ ja kaum bzw. gar nicht. Aber alle bedeutenden Schläger, die ich kannte, waren tätowiert. Man las diese Bemalungen also wie Warnsignale. Sie blieben auf spezielle Milieus beschränkt, zwischenzeitlich hatte ich ihrer nicht mehr geachtet, und nun, dreißig Jahre später, wimmelt die kollektive deutsche Epidermis nur so von Tattoos. Warum?
Eine praktische Erklärung lieferte ein Freund, der sagte: Erst habe der Sport im Allgemeinen und der Body-Building-Trend im Besonderen die Körper geformt, danach habe man sich die Haare vom trainierten Körper rasiert und plötzlich entdeckt, dass die freigelegte Leinwand einer Bemalung bedürfe. Jetzt seien eben die Maler am Werk. Aber das sind nur Sekundärphänomene. Primär markieren die Bemalungen einen Paradigmenwechsel. Tätowieren ist eigentlich ein Brauch der Unterschichten. Wir erleben seit Jahren eine Umkehrung des kulturellen Einflusses; statt dass die oberen Klassen oder Schichten mit ihren Sitten die unteren beeinflussen, übernehmen sie deren Gepflogenheiten und halten das für ‚authentisch’. Es ist ein Kulturverfallssymptom sui generis: Oben und unten werden habituell ununterscheidbar. Die Luxusvorstellungen eines Firmenchefs oder Politikers ähneln inzwischen denen eines Gangsta-Rappers. Über die gesamte westliche Welt ist die Kultur der Unterschicht hereingebrochen.
Dieser Prozess ist eine logische Folge des 1968er Destruktionstheaters; die Befreiung des Menschen von den ‚bürgerlichen Zwängen’ lief naturgemäß darauf hinaus, dass er seinen animalischen Trieben mehr Auslauf verschaffen durfte. Am signifikantesten verkörperten die sogenannte sexuelle Revolution, der explodierende Drogenkonsum und die Rockmusik den neuen Trend. Der amerikanische Kulturhistoriker Paul Fussell hat dafür den Begriff prole drift geprägt. Die Umkehrung der kulturprägenden Fließrichtung von unten nach oben sei in traditionellen Zivilisationen unvorstellbar gewesen.
Zur prole drift gehört auch die Schleifung der Umgangsformen, wovon heute vornehmlich die allgegenwärtige Duzerei zeugt; die Reste der aus der aristokratischen Kultur gewachsenen bürgerlichen wandern derweil ins Museum. Oper, klassisches Konzert, Hausmusik, Salon, Tischsitten, Konventionen, Konversation, Bildungskanon, all das sind nur noch von distinkten Käuzen gepflegte Überbleibsel einer verschwindenden Epoche. Wer einen Prozess namens prole drift überhaupt bemerkt, gehört schon zur Minderheit solcher Käuze.
Das Phänomen prole drift manifestiert sich auch in der Vorliebe für Massenveranstaltungen, Massenpartys, Massentourismus, Massenstrände, Massenskipisten, überhaupt alles Massenhafte; Boxkämpfe, Fußballspiele, überhaupt Sportereignisse als der zentrale Kult unserer Zeit zählen ebenfalls dazu. Wer das Publikum dieser Massenveranstaltungen betrachtet, wird bei dessen Kleidung einen Wandel ins Funktionale, Praktische, Stillose, Bequeme, Beliebige, aber in ihrer Beliebigkeit entsetzlich Uniforme feststellen. Womit wir wieder bei den Tätowierungen wären.”
Leser *** meint denn dazu:
„Ihre Kolumne von 19.07. bringt sehr gut das konservativ-reaktionäre Dilemma zum Vorschein: einen erheblichen Mangel an historischem Wissen und einen Hang zu verschwörerischen Vorstellungen und Welterklärungen, die in keinster Weise der Realität entspringen.”
Klar, profundes historisches Wissen findet sich recht eigentlich nur bei den Linken. Was an meiner flotten Notiz „verschwörungstheoretisch” sein soll, erschließt sich mir allerdings nicht – respektive „in keinster Weise”, jenem kecken Pseudo-Elativ von nicht, den glatt die prole drift hervorgebracht haben könnte –, denn ich vermute keinen Ränkeschmied oder sogenannten Drahtzieher hinter diesem Prozess (nicht einmal im Sinne von Jürgen Klopps Devise: den Gegner auf unser Niveau herunterziehen).
Wer so anhebt, hat sich im Grunde schon wieder verabschiedet – „und scho sammer wieder draußen”, sagen in Wien die Kellner zu unerwünschten Gästen, während sie sie hinauskomplimentieren –, doch schauen wir trotzdem mal, was der Bub so auf der Pfanne hat.
PPS: Leser *** ist der Ansicht, das Phänomen „prole drift” werde erst dann verständlich, „wenn man anstelle des Gegensatzes ‚Ober- versus Unterschicht’ den Gegensatz ‚Afrika versus Europa’ als eigentliche zugrundeliegende Dynamik annimmt”. Europäische Ober- und Unterschichten habe es schon immer gegeben, doch diese prole drift habe erst eingesetzt, „als die ungeheure Vitalität der Afrikaner auf die verschiedenen europäischen Kulturen traf. Die prole drift hat als Dreh- und Angelpunkt die schwarze Musik, die dann von den Weißen übernommen und adaptiert wurde. Jazz, Blues, Salsa, Samba, sogar (kubanischer) Tango stammen allesamt von den Schwarzen aus der Neuen Welt, und Rockmusik ist nichts anderes als Schwarze Musik, von jugendlichen Weißen gespielt, die fehlendes Rhythmusgefühl durch Aggressivität und Lautstärke kompensieren.
Die plötzliche Attraktivität der Unterschichtkultur lässt sich nur damit erklären, dass hier die wilde, sinnliche, extrem körperbetonte und sexualisierte afrikanische Dynamik auf die zivilisierte, eingehegte, schuld- und schambelastete Kultur des christlichen Abendlandes getroffen ist und dies nicht nur für die Jugendlichen eine ungeheure Befreiung ihrer unterdrückten biologischen Natur bedeutet hat. Die europäische Musik musste mit der Entstehung des Jazz einen ähnlichen prole drift überstehen wie die Kultur als Ganzes, Musik, die von ganz unten kommt, aber mit mitreißendem Swing und Polyrhythmen europäische Musik schnell als gestelzt, verkopft, blutleer und asexuell erscheinen lässt. Besonders bemerkenswert dabei die ungeheure Kreativität der Schwarzen, ohne Theorie, ohne Schriftlichkeit ganz Neues zu erschaffen und dabei quasi im Vorbeigehen nach Gehör Harmonien zu verwenden, die als ‚Tristan-Akkord’ zu Zeiten von Wagner noch zu Aufruhr unter den (ich vermute, sexuell verklemmten und leicht hysterischen) europäischen Musikliebhabern führten.”