Derzeit verbringe ich eine Woche Urlaub in Russland, nicht tief im Lande, nur in der ostpreußischen Exklave, im Oblast Kaliningrad. Einiges hat sich verändert, seit ich das letzte Mal hier war, die Grenze ist noch mehr Grenze als früher, es gibt praktisch überhaupt keine (westlichen) Touristen mehr, der Euro gilt nicht als Zahlungsmittel (man kann ihn aber offiziell zu einem besseren Kurs als in Deutschland in Rubel umtauschen), und mit meinen Kreditkarten kann ich weder Geld abheben noch irgendetwas kaufen. Es verkehrt kein einziger Flug von Deutschland nach Russland oder umgekehrt – die Einreise per Flieger ist nur über die Türkei möglich –, und es fährt auch kein Zug von Deutschland nach Königsberg; man kommt nur mit dem Bus oder dem Auto über die Grenze.
Die Einreise
In einem verranzten Busbahnhof in Gdansk alias Danzig beginnt der zeitlich unkalkulierbare Teil der Reise. Der Bus ist nicht ebenfalls gerade neu und bis auf den letzten Platz besetzt, fast ausschließlich mit Russen. Russisch ist selbstredend auch das Fuhrunternehmen. Dass es am Übergang vom NATO- und EU-Gebiet ins Feindesland schön lange dauert, hat aber vor allem damit zu tun, dass jetzt auch die Polen Grenzregime spielen; ein Beamter sammelt alle Pässe ein, eine halbe Stunde später wird jeder Insasse mit russischem Pass einzeln aufgerufen und muss sich im Vorderteil des Busses fotografieren lassen, die wenigen anderen bekommen ihre Papiere kommentarlos wieder eingehändigt. Währenddessen wird es allmählich dunkel, einige der russischen Passagiere müssen in Kaliningrad in Flugzeuge umsteigen, die sie weiter nach Russland bringen, und sie beginnen sich zu organisieren, bilden Reisegrüppchen, telefonieren mit Taxis, die sie auf der anderen Seite aufsammeln und zum Flughafen bringen sollen, und vereinbaren mit dem Fahrer einen Ort, wo er sie absetzen soll. Zu den Weitermüssern gehört auch meine Sitznachbarin, die durch ihre Ansehnlichkeit den penetranten Schweißgeruch des Gevatters vor mir etwas kompensiert, aber meine Vermutung, die polnische Version sei bestimmt nur der belangslosere Teil der Grenzschikane, mit der geseufzten Vermutung bestätigt, dass die Russen wahrscheinlich jedes einzelne Gespäckstück kontrollieren werden. Tatsächlich müssen alle Passagiere aussteigen, ihr gesamtes Gepäck aus dem Souterrain des Busses holen und damit durch den Zoll gehen; allerdings belassen es die russischen Grenzer dabei, die Pässe und Visa zu kontrollieren und das Gepäck wie beim Check-in am Flughafen zu durchleuchten, niemand muss seinen Koffer öffnen. Überraschend schnell geht es weiter, und wir sind in Russland.
Der Empfang
Das ist zwar privat, doch während der langen Fahrt mit ihrer ungewissen Ankunftszeit hat sich einiges an Appetit und auch Durst angestaut. Die Tafel unserer Gastgeber – Berge von Vorspeisen, Fisch, Schinken, Suppe, Braten, selbstgebackene Dessertküchlein, armenischer Kognak – macht alles Warten vergessen und löscht alle Unbequemlichkeiten aus. Wein habe ich sicherheitshalber selbst mitgebracht. Es soll der einzige Mangel sein, den ich hier feststellen kann (aber natürlich findet sich da und dort ein brauchbares Fläschchen).
Die Firewall
Apropos Mangel: Weder Twitter noch Facebook funktionieren. Aber das ist weniger ein Defizit als vielmehr eine Erholung. Später bemerke ich, dass sich die Webseiten der Springerpresse (Welt, Bild) ebenfalls nicht aufrufen lassen, desgleichen das Agitprop-Portal t‑online; alle anderen schon (auch die New York Times). Rein technisch funktioniert die Abschottung also. Da ich zudem wegen der unangemessenen Kosten hier sowohl auf mobile Daten als auch auf Telefonate verzichte, befinde ich mich aushäusig im präsmartphonischen Stadium, der telekommunikativen Steinzeit, und ich genieße das außerordentlich. Diese Idylle offeriert ihre Nachteile lediglich, wenn man ein Taxi braucht; die werden nahezu ausschließlich über eine App gerufen. Überhaupt ist man hier onlinetechnisch weit fortgeschritten, das Netz funktioniert ausgezeichnet, Bargeld ist out, überall wird mit der Kreditkarte bezahlt, sogar die ältere Frau, die in der Flanierstraße von Cranz (Selenogradsk) Blumensträuße feilbietet, akzeptiert Karten. Mit meinen Rubelscheinen bin ich ein Exot.
Die Klimaziele
Speziell der deutsche Gast, an dem die heimische Dressur, wie sehr er sich gegen sie gesträubt haben mag, dennoch ihr Werk getan hat, muss verblüfft feststellen, dass der Klimawandel und die Bekämpfung des teuflisch-tückischen CO2 hier kein Thema sind. Die Heizköper der Zentralheizung haben keine Temperaturregler, keinen Drehknopf zum An- und Abstellen, die Heizung läuft einfach, und wenn es zu warm wird, macht man das Fenster auf. Die Wohnung befindet sich in einem Plattenbau aus der Breschnew-Zeit, inwieweit diese Art der Temperaturregulierung repräsentativ ist, weiß ich nicht. Irgendwann, wenn der Winter vorüber und das Wetter warm genug ist, erzählt man mir, wird die Heizung einfach abgestellt. Auffällig ist die enorme Dichte der Pkw, durchweg Verbrenner, und zwar von der ältesten Mühle bis zum aktuellsten Luxusschlitten. Der Liter Benzin kostet 50 Rubel (= 50 Cent). Elektroautos habe ich keine gesehen. Fahrräder sehr selten. Eine Lastenradrabenmutter nie.
Die Versorgungslage
Die Straßen sind voll, die Geschäfte ebenfalls, auch Luxusmarken werden ausgiebig feilgeboten. Der Markt ist ein optisches und olfaktorisches Vergnügen.
Es herrscht eine überwältigende Fülle. Die Preise für einheimische Lebensmittel sind niedrig. Verständnislosigkeit erntet, wer, beispielsweise am Käsestand, eine Bestellung unterhalb des halben Kilogramms in Auftrag gibt. Rein kulinarisch gesehen, lässt es sich hier gut leben.
Die Stimmung
Am Sonntagabend Konzert in der Kaliningrader Philharmonie, dem musikalischen Zentrum der Stadt (mein Ehegespons hat dort 2006 mit den Kaliningrader Philharmonikern das Erste Klavierkonzert von Rachmaninow gespielt), zum Jubiläum des Komsomol (Gründungsdatum ist der 29. Oktober 1918), der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, ein befremdlicher Anlass. Der Konzertsaal befindet sich im wiederaufgebauten Gebäude der ehemaligen Königsberger Kirche der „Heiligen Familie”, die der Architekt Friedrich Heitmann 1904 bis 1907 erbaut hat.
Ein Armeeorchester ohne Streicher, quasi in überdimensionierter Big-Band-Besetzung, begleitet einen Bariton und eine Mezzosopranistin, die vor ausverkauftem Haus ein Medley aus sowjetischen Jugendliedern, Soldatenmärschen und Romanzen vortragen – auch „Katjuscha” ist dabei –, teilweise avanciert instrumentiert, durch und durch patriotisch, mitunter zum Heulen schön. (Ich konnte nicht einfach mitfilmen; unter anderem sang der Bariton dieses Lied.)
Bekanntlich hat in Russland so etwas wie eine „Vergangenheitsbewältigung” kaum stattgefunden, was entscheidend mit der Petitesse zusammenhängt, dass Stalin den Krieg gewonnen und Hitler ihn verloren hat – die meisten 68er wären glühende Nationalsozialisten geworden, wenn sie nicht die Nachkommen von Verlierern gewesen wären –, und die Ära der UdSSR mag für viele Russen heute als eine Zeit gelten, in der ihr Land etwas darstellte auf der Weltbühne. Das Publikum, die meisten alt genug, um die Sowjetunion noch erlebt zu haben, kennt alle Lieder, viele singen oder klatschen mit; bei einer Stalingrad-Ballade steht der halbe Saal auf. Es ist der einzige Moment der Reise, in dem mich eine Ahnung davon anweht, dass dieses Land sich im Krieg befindet.
Unter Putin erlebte oder erlebt die Sowjetunion eine gewisse Renaissance, je mehr sich Russland vom Westen ab- und dem Osten zuwandte. Dennoch handelt es sich bei diesem Konzert weniger um Sowjet- oder Großmachtpropaganda als vielmehr um ein musikalisches Eintauchen in gemeinsame Jugenderinnerungen, kollektive Privatnostalgie, wobei sich bemerkenswerterweise auch eine Reihe von jungen Leuten im Publikum befindet, die daran unmöglich teilhaben können. Wunderliches Volk. Man fände zu dieser Art Konzert in Deutschland kein Gegenstück.
Am Rande. Eine russische Bekannte hat für das klassische Konzertpublikum in Deutschland eine reizende Metapher geprägt: Von hinten sähen diese überwiegend im Pensionärsalter angelangten Zuhörer, insonderheit die Frauen, wie ein Pusteblumenfeld aus, weil sich deutsche Senioren, aus welchen Gründen auch immer, sei es Sparsamkeit, Achtlosigkeit oder der Wille zur „Authentizität”, ihr graues Haupthaar nicht färben lassen. Hier indes, beim Komsomolgedenkkonzert, sieht man keinen einzigen Graukopf, obwohl ein Gutteil der Anwesenden das entsprechende Alter erreicht hat.
Beim Gang durch die Stadt bestätigt sich eine Beobachtung von meinem ersten Besuch anno 2007 (ich habe damals im Focus darüber geschrieben): Die meisten und vor allem die jüngeren Frauen zeigen deutlich mehr Chic als beispielsweise gleichaltrige Berlinerinnen – die Männer dagegen nach wie vor eher nicht. Der Halloween-Unfug greift übrigens auch am Pregel um sich, wobei es fast ausschließlich Mädels sind, die sich auf gruselig schminken.
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Apropos Nostalgie: Im Küstenstädtchen Cranz hat man ein recht nagelneu wirkendes Denkmal dieses welthistorischen Bandenchefs mit Faible für Genickschüsse aufgestellt; frische Blumen liegen darauf.
Wie in jeder russischen Stadt gibt es auch in Kaliningrad einen „Platz des Sieges” und eine „Straße des Sieges” – umgekehrt sind in ’schland ja zahlreiche Straßen und Plätze in irgendeiner Umschreibung der Niederlage gewidmet; es passt also –, nach wie vor existiert eine „Ulitsa Dzerzhinskogo”, und auch das Denkmal für den versoffenen „Gustloff”-Torpedierer Alexander Marinesko steht noch.
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Und apropos Krieg: Meine Gastgeber erzählen, dass sich nach dem Angriff auf die Ukraine die Zahl der „Menschen aus den Republiken” (= Muslime aus dem Süden) erheblich reduziert habe. Angesichts einer drohenden Registratur und womöglichen Einberufung seien sie sofort verschwunden.
Redet Pistorius deshalb davon, Deutschland müsse sich auf einen möglichen Krieg vorbereiten? Ist der Mann so clever?