Verglichen mit dem Missbrauch der Güte ist der Angriff auf sie ein Kavaliersdelikt.
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Erinnern wir uns: Statt sturdeutsch ihrer tradionellen Leibesübung zu obliegen, traten ’schlands Fußballer bei der Weltmeisterschaft in Katar anno 2022 als moderne, weltoffene Bekenner auf. Die Mannschaft spaltete sich in einen rückschrittlichen Teil, der nur „Fußball spielen” und die Gegner diskriminieren wollte (mein Lieblingsspieler Ilkay Gündogan gehörte wohl dazu), und einen Fortschritts-Flügel um die Bayern-Kicker Manuel Neuer und Leon Goretzka, der Zeichen setzen wollte, wobei vor allem der Letztere bei jedem Medienkontakt seine Wokeness so offen herausstreicht wie früher ein verdienter DDR-Sportler seine Treue zur Staatsführung.
Das Bild der elf millionenschweren deutschen Kicker, die sich beim Mannschaftsfoto brav den Mund zuhielten, um danach, von ihrem Mut erschöpft, gegen Japan zu verlieren, wurde der ikonographische running gag des WM-Turniers. Eine sympathische deutsche Innenministerin mit der One-love-Binde am makellosen Oberarm vermochte das folgende Unheil nicht abzuwenden. Die Deutschen mussten nach der Vorrunde ihr politisches Missionswerk beenden und als Weltmeister der woken Herzen heimreisen. Die Häme und der Spott der rassistischen, sexistischen, trans‑, homo‑, gyno- und xenophoben anderen Sportnationen entschädigten die Kicker dafür in reichem Maße. In der Moraltabelle führen sie seither uneinholbar, mag der Engelländer auch fürderhin vor jedem Anpfiff sein zuweilen noch bleiches Knie engagiert in den Rasen rammen.
Diesen ersten Platz sollen die DFB-Spieler nun bei der Europameisterschaft daheim verteidigen.
Die UEFA und der DFB haben für die Fußball-EM im kommenden Jahr ihre „Strategie” vorgestellt. Früher, als die Welt noch unvollkommener, patriarchalischer und suprematistisch weißer war, bedurften Großturniere keiner „Strategie”, sondern allenfalls einer gewissen Logistik, um einen geregelten und vergnüglichen Verlauf zu gewährleisten. Die EM 2024 indes soll die „nachhaltigste aller Zeiten“ werden.
„Um das Ziel zu erreichen”, referiert die Junge Freiheit das 15-seitige Papier voller mutiger Visionen und origineller Formulierungen, „haben sich die Fußballverbände sogenannte ‚Interessenträger’ aus der ‚Zivilgesellschaft’ ins Boot geholt – zahlreiche linke Organisationen sind dabei.” In dem Papier benennen die beiden Verbände als strategische Ziele „Minderheiten- und Klimaschutz, Kampf gegen Rassismus und Nachhaltigkeit”. Wo Sozialisten eine Parteistrategie entwerfen, ist die Taktik nicht weit, in diesem Falle gehören beispielsweise der „Bau zusätzlicher Unisex-Toiletten“ in den Stadien sowie „Rauchverbote und Richtlinien zu Tabakfreiheit“ und eine „gesunde Verpflegung (alkoholfreie, vegane, gluten‑, laktose- bzw. nussfreie Speisen)” dazu.
Bei der EM gehe es um „Vertretung von Minderheiten, Förderung der Geschlechtergleichstellung und Vorbeugung von Diskriminierung und Rassismus“, heißt es im Strategiepapier. Falls jemand meint, es ginge um Fußball und Pokalemporstemmen als Endziel. Mit diesem Konzept werde „die EURO 2024 einen einzigartigen Platz in der Geschichte des Turniers einnehmen”.
Ja, darauf wird es wohl hinauslaufen.
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Zum Vorigen.
„Beim ‚Sommermärchen’ anno 2006 stand die WM unter dem Motto ‚Die Welt zu Gast bei Freunden’. Wie sehr das Vergangenheit ist, erkennt man aus dem Positionspapier von UEFA und DFB zur EM 2024. ‚Die Welt zu Gast bei Oberlehrern’ könnte man es nennen”, notiert Leser ***. „Sie merken nicht, daß sie 99 Prozent der Fußballfans außerhalb ihrer eigenen Blase nur auf die Nerven gehen mit diesem elenden Gouvernantengetue. Besonders die englischen Fans werden sich über Alkohol- und Rauchverbote besonders freuen. Und über veganes Essen sowieso. Und Unisextoiletten im Stadion. Aber wahrscheinlich muss dieser Wahn noch einmal sich richtig austoben, damit er zu einem Ende kommt. Ich vermute, das könnte die Schraube sein, die am Ende zu oft angezogen wurde, und nun fällt alles auseinander.
Der einzig sichtbare Effekt wird sein, daß wesentlich weniger Fans anreisen werden als erhofft. Wäre ich ein ausländischer Fan und mir wäre bekannt, daß mir die Reise in eine Erziehungsdiktatur bevorsteht, würde ich lieber zu Hause bleiben. In Katar haben sie sich aufgeregt, daß man dort auf der Straße kein Bier ausgeschenkt bekommt und händchenhaltende Schwule in der Öffentlichkeit nicht gesehen wurden. Das ist nun mal deren Kultur, und der Fußball als solcher hat in diesen Kulturen keine Tradition. Der dient der Imagepflege und dem Geschäft.
Die deutsche Fußballkultur hingegen hat eine lange Tradition und lässt sich nicht mit der verkrampften Besserwisserei der obersten Tugendhüter in Deckung bringen. Aber offenbar soll es genau darum gehen: die letzten Restbestände einer unverkrampften und politisch nicht korrekten Fankultur abzuräumen. Wahrscheinlich werden wir mit dieser EM – wie bei der Energie- und der Verkehrswende sowie unserer professionellen Außenpolitik mit Sanktionen, die uns nur selbst schaden – zur Lachnummer Europas und der Welt. Die Welt zu Gast bei Vollpfosten.”
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Immer noch zum Vorigen.
Natürlich könnte man meinen, die Verantwortlichen im DFB und in deutschen Sportfunktionärszirkeln hätten erkannt, was bei den letzten Turnieren schief gelaufen ist, und konzentrierten sich wieder aufs Sportliche. Das hieße aber, den Mutwillen der Bolschewoken zu unterschätzen. Ich meine, das alles geschieht mit der Absicht, dem deutschen Fußball, der nach dem Verlust der D‑Mark der letzte kollektive Identitätsstifter war, samt Nationalfarben, Hymne und all dem tümelnden Tamtam, endlich den Garaus zu bereiten. Der nationalstolze Taumel von 1954, 1974 weniger, aber dann 1990, auch 2006 und ein bisschen noch 2014, soll so wenig wiederkehren wie „Wir sind das Volk!”-Rufe in den deutschen Grenzen von 1989. Wer das deutsche Volk, das deutsche Staatsgebiet, die deutsche Industrie, die deutsche Kulturtradition abräumen will, hat mit einer nicht unerheblichen Logik auch kein Interesse am Fortbestand des Lieblingssports der Almans, zumal sich nicht garantieren lässt, dass eine Mehrheit der Spieler mit dem berühmten Hintergrund die Hymne am Ende nicht doch mitsingt.
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Die Politisierung des Sports war den real- wie nationalsozialistischen und faschistischen Diktaturen eigentümlich. Wir erleben seit einiger Zeit eine Wiederbelebung dieser Indienstnahme, mit „Respect”- und Antirassismus-Kampagnen (oder sind Sie Rassist?), dem erzwungenen Niederknien der Nationalspieler vor dem Anpfiff aus „Solidarität” mit randalierenden Schwarzen in Übersee und ähnlichen Bekenntnisfaxen. Vereine überbieten sich mit linientreuem Gefuchtel, zum Beispiel die schwarz-gelben Schneeflöckchen, die auf’m Platz fürs Gewinnen viel zu sensibel sind und sich, da sie weder gegen die Bayern noch gegen eine Truppe wie Chelsea London eine Chance haben, stattdessen voll reinhauen in den viel erfolgversprechenderen „Kampf” gegen „rechts”.
Seinem Neuzugang Felix Nmecha, der in der Vergangenheit, wie die Wahrheits- und Qualitätspresse meldete, durch „homophobe” bzw. „queer- und transfeindliche” Äußerungen aufgefallen war und gegen den schönen Brauch der Abtreibung ebenfalls irgendwas gesagt haben soll, angeblich weil er als Christ gelesen werden will, hat der Toleranzverein nun einen Maulkorb verpasst, der sich offiziell ein Verbot zu missionieren nennt, was in dieser missionarischsten aller Sportbranchen durchaus komisch anmutet. Manchen von den Medien als „Fans” Gelesenen genügt das allerdings noch nicht.
Nmecha ist übrigens auch deutscher National- bzw., wie man sie inzwischen nennt, Vorrundenspieler. Er wird noch öfter die Gelegenheit bekommen, seinen Mund zu halten.
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Angefangen hat diese Politisierung, so weit ich mich erinnere, damit, dass man unbedingt schwule Fußballer zur Selbstoffenbarung nötigen wollte, als ob das irgendwen auf den Rängen je interessiert hätte.
„Unsere Volkspädagogen haben ein neues Betätigungsfeld entdeckt: das Fußballstadion”, erlaubte ich mir im Herbst 2012 im Focus zu kommentieren (mit der Folge eines nicht unerheblichen Begleitgeheuls aus der schwulen Community – wer beides nachlesen mag: hier). „Nur: Wem soll das Bekenntnis eines Fußballers, er sei schwul, etwas nützen? Den Schiedsrichtern? Möchtegern-Spielerfrauen auf dem zeitweiligen Holzweg? Dem Bundestrainer? Den Betroffenen wohl am allerwenigsten. Das hat einen einfachen Grund: Es gibt insgesamt deutlich mehr gegnerische Fans als eigene. Spieler können von einer Selbstoffenbarung nicht profitieren. Deshalb wollen sie auch nicht.”
Die Begründung – auch für die Motive der Erzieher – gilt heute um kein Iota weniger als weiland:
„Das Fußballstadion aber ist eine archaische Sphäre. Auf dem Platz imitieren Männer das Jagdrudel von ehedem und kämpfen gegen ein anderes Rudel. Die Ränge bilden den Ort der Parteinahme, der emotionalen Aufwallung, der Enthemmung, der Triebabfuhr. Das Stadion gehört zu den raren Klausuren, wo der von Verhaltensvorschriften und Tabus umstellte moderne Mensch sich noch gehen lassen kann. Die Fankurve ist die letzte Bastion gegen den Totalitarismus der Toleranzerzwinger. Hier hüten von den Medien sonst gern übersehene Normalos das heilige Feuer des temporären Menschenrechts, sich danebenzubenehmen, zu fluchen, zu höhnen, sich maßlos zu echauffieren und dem Gegner unzivilisierte Beleidigungen zuzubrüllen.
Wer dort in irgendeiner Weise hineinmaßregeln will, kann sich darauf verlassen, dass unangemessene, ja pöbelhafte Reaktionen aus dem Publikum folgen. Und damit wäre wohl auch die Frage beantwortet, wem bekennend schwule Fußballer etwas nützen würden. Es gibt eine gewisse Klientel, deren Lebensglück und oft auch ‑unterhalt davon abhängen, dass sie Diskriminierungen aufspürt und anprangert. Diese Lobby will ihre Aufgabe bestätigt sehen, indem sie nachweist, dass die Fankurve ‚homophob’ ist (so wie die ‚Mitte’ angeblich ‚extremistisch’) und noch unendlich viel erzieherische Arbeit zu tun bleibt.”
Der Kommentar schloss mit den geflügelten Worten:
„Die Grenzen der gebotenen Toleranz sind erreicht, wenn sie in Belästigung umzuschlagen beginnt.”
Ich kenne eine Reihe nichtlinker und total unwoker Schwuler, denen das Gezeter der Homo-Lobby immer peinlich gewesen ist, aber man wird ihnen demnächst wohl ihre Homosexualität einfach aberkennen. Bekanntlich haben Schwule heute in vielen Städten und Freibädern Angst, als solche erkannt zu werden, weil die Parteien, denen sie die Wahrung ihrer Interessen naiv anvertrauten, in stattlicher Zahl eine Klientel importierten und weiterhin importieren, die Homosexualität nicht besonders leiden mag. Da die besagten Parteien diese Klientel als ein, verglichen mit den Homosexuellen, weit wirkungsmächtigeres Betreuungs‑, Dehomogenierungs- und Drohkollektiv identifiziert haben, läuft die Islamophobie der Homophobie so souverän den Rang ab wie Sambias Fußballelfe Barbra Banda den DFB-Spielerinnen. Die Feministinnen wiederum, und die Lesben als deren Kerntruppe, werden momentan von den Transsexuellen aus Wahrnehmung und Diskurs verdrängt. Die Revolution frisst, wie gewöhnlich, ihre Kinder.
Mal sehen, wie lange es den Vereinen gelingt, ihre muslimischen Spieler, die ja (fast) ausnahmslos so denken bzw. empfinden wie Nmecha, den Regeln der LGBTQ-Omertá zu unterwerfen. Schließlich ist Gender gegen Allah, und deshalb ist Allah gegen Gender.
Darauf schon mal einen Dujardin!
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Der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt hat erklärt, in der Geschichte sei immer dasselbe passiert, wenn politische Flaggen vor den Gebäuden der Polizei aufgehängt wurden: Es habe politische Verfolgung begonnen.
Dieser Gedankengang leuchtete Berlins sogenanntem Queerbeauftragten Alfonso Pantisano dermaßen ein, dass er ihm umgehend mit einer Strafanzeige gegen Reichelt sekundierte.
In einem Tweet hatte Reichelt darüber mokiert, dass vor dem Berliner Polizeipräsidium die Regenbogenfahne aufgezogen wurde; es sollten, schrieb er, „vor der Polizei und vor den düstersten Fassaden unserer Geschichte nie wieder die Flaggen einer politischen Bewegung gehisst” werden. Das, fuhr es Pantisano durchs Gedankenfach, könnte, zumindest im besten Deutschland ever, eine Anzeige wegen Volksverhetzung rechtfertigen. „Wenn wir uns gegen Hass und Gewalt gegen queere Menschen aussprechen, dann ist es unsere Aufgabe, solche Vorfälle zu ahnden“, schrieb der Spezialdemokrat auf Facebook. „Ich vertraue sehr auf unsere Sicherheits- und Ermittlungsbehörden, die sich nun mit diesen Straftatbeständen auseinandersetzen werden.“
Man sieht: Das Vertrauen auf die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden im Grünen Reich schwankt je nach Parteizugehörigkeit bzw. ‑präferenz.
Dem Tagesspiegel sagte Pantisano, Reichelt bringe „die queere Community in die Nähe der Nationalsozialisten, was ich eine geschichtsvergessene Ungeheuerlichkeit finde“. Und was macht ein echter Queerdenker, wenn er etwas ungeheuerlich findet? Melden!
Man sollte den Volksverhetzungsparagraphen um ein Vergleichs- und Assoziationsverbot erweitern und das „Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole” um das „Ziehen verfassungfeindlicher Vergleiche” als Straftatbestand ergänzen. Damit a Ruh’ is!
Nur Böswillige können auf die Idee kommen, die Regenbogenbeflaggung ähnele jener in der DDR, der Sowjetunion oder im Dritten Reich. Sie ist doch bunt!
Und die Hauptstadt der Bewegung ist München.
Also ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken.
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Amüsant, wenn einer aus der eigenen Blase das „Narrativ” zerschießt.
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Zum Klima-„Narrativ” gehört bekanntlich die Story, die Hitze steigere bei unseren orientalischen Eskimos den ansonsten erfreulich unterentwickelten Aggressionsdrang ins nahezu Biodeutsche und sei auch für die jüngsten Vor- und Zwischenfälle in Freibädern verantwortlich. Was bei starkem Sonnenlichte besehen ja nichts anderes heißt als: Erst machen sie mit ihrem CO2-Ausstoß das Klima kaputt, dann regen sie sich auf, wenn als direkte Folge ihrer Umweltsauerei mal einem deutschen Mädel im Schwimmbecken die Brust liebkost oder ein Bademeister scherzhaft zu Boden geboxt wird.
Leser *** erinnert in diesem Zusammenhang an einen Spiegel-Artikel aus dem Juli 1964 über ähnliche klimabedingte Zwischenfälle in französischen Badeanstalten – ich habe ihn hier schon vor ein paar Jahren zitiert, aber man kann vor menschengemachten Entwicklungen ja gar nicht oft genug warnen –, in dem es u.a. heißt:
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Dieser Einwand scheint mir nicht unberechtigt zu sein.
Ich sagte unlängst zu der inzwischen legendären – und von den Medien in propagandaschulmäßiger Perfidie verdrehten – Formulierung, Gauland habe zum Ausdruck bringen wollen, dass die Nazis scheiße sind – ein Scheißhaufen in der deutschen Geschichte –, sich allerdings bei der Wahl der Metapher in der Dimension des besagten Haufens vergriffen. Stellte der Redner indes einzig die Zeitstrecken einander gegenüber, dann sind zwölf Jahre inmitten von tausend tatsächlich nur ein „Vogelschiss”.
Ob nun so oder so, Gauland hat dieses Gleichnis nicht im Ansatz auf die Verbrechen des NS-Staates bezogen. Trotzdem hat sich diese Lüge durchgesetzt wie die Chemnitzer „Hetzjagden”-Lüge und all die anderen offiziellen Propagandalügen.
PS: „Ihre These”, notiert Leser ***, „die berühmten zwölf Jahre der deutschen Geschichte seien mörderischer als die anderweitigen tausend gewesen (1,2 Prozent), ruft schon aus quantitativen Gründen nicht nur begründete Zweifel hervor, das auch aber nicht nur aus rhetorischen Gründen sarkastisches, womöglich gar sardonisches Lachen begleitet.”
Wenn man die Toten aller Kriege addiert, können die tausend mit den zwölfen halbwegs konkurrieren, ja. Die Frage ist zum einen, wie man den Begriff „mörderischer” auslegt – was den prozentualen Anteil der Opfer an der Gesamtbevölkerung angeht, war der Dreißigjährige Krieg der mörderischste, den Deutschland erlebt hat –, zum anderen, wem man welche Opfer anlastet. Ich winde mich jetzt aus der Sache heraus mit der Feststellung, dass alle deutschen Herrscher der tausend Jahre nicht so viele Opfer produziert oder verschuldet haben wie der eine Führer in den zwölfen.
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Die Sonne bringt es an den Tag. Der deutsche Mensch von ungefähr fünfundvierzig Jahren abwärts ist inzwischen vor allem eins: tätowiert. Insbesondere in Berlin registriere ich scharenweise Tätowierte beiderlei Geschlechts, bei denen wenig Hautfläche mehr frei ist, darunter solche, die nur ein hartgesottener Sexist wie ich noch als weiblich zu lesen vermag – das Schamgefühl verwehrt mir, die Bilder genauer zu betrachten. Unlängst lief mir dort eine junge, üppige Maid entgegen, bei der ich wähnte, sie trüge blaue Leggins, bis sich aus der Nähe herausstellte, dass die Stampferchen durchgängig blaugestochen waren. Und immer früher fangen sie damit an, sich irgendein existentielles Zwischenfazit stechen zu lassen! Wenn ich mir überlege, ich hätte das, was mir mit neunzehn, zwanzig Jahren im Kopf herumging, auf meiner Haut verewigt, wird mir ganz blümerant zumute.
Aber damals war es gottlob noch kein Trend. In meiner Teenagerzeit galten die blauen Stigmata als Erkennungsmerkmal von Männern, die im Knast gesessen hatten (Frauen trugen so etwas nicht, jedenfalls nicht an allgemein sichtbaren Stellen). Seeleute und Ethnien mit Tattoo-Tradition gab es in der „Ehemaligen” ja kaum bzw. gar nicht. Aber alle bedeutenden Schläger, die ich kannte, waren tätowiert. Man las diese Bemalungen also wie Warnsignale. Sie blieben auf spezielle Milieus beschränkt, zwischenzeitlich hatte ich ihrer nicht mehr geachtet, und nun, dreißig Jahre später, wimmelt die kollektive deutsche Epidermis nur so von Tattoos. Warum?
Eine praktische Erklärung lieferte ein Freund, der sagte: Erst habe der Sport im Allgemeinen und der Body-Building-Trend im Besonderen die Körper geformt, danach habe man sich die Haare vom trainierten Körper rasiert und plötzlich entdeckt, dass die freigelegte Leinwand einer Bemalung bedürfe. Jetzt seien eben die Maler am Werk. Das leuchtet ein. Ich vermute überdies, dass stark tätowierte Frauen (auch) eine erotische Botschaft senden: Mich kannst du hart hernehmen, ich halte was aus.
Aber das sind nur Sekundärphänomene. Primär markieren die Bemalungen einen Paradigmenwechsel. Tätowieren ist eigentlich ein Brauch der Unterschichten. Wir erleben seit Jahren eine Umkehrung des kulturellen Einflusses; statt dass die oberen Klassen oder Schichten mit ihren Sitten die unteren beeinflussen, übernehmen sie deren Gepflogenheiten und halten das für „authentisch”. Es ist ein Kulturverfallssymptom sui generis: Oben und unten werden habituell ununterscheidbar. Die Luxusvorstellungen eines Firmenchefs oder Politikers ähneln inzwischen denen eines Gangsta-Rappers. Über die gesamte westliche Welt ist die Kultur der Unterschicht hereingebrochen.
Dieser Prozess ist eine logische Folge des 1968er Destruktionstheaters; die Befreiung des Menschen von den „bürgerlichen Zwängen” lief naturgemäß darauf hinaus, dass er seinen animalischen Trieben mehr Auslauf verschaffen durfte. Am signifikantesten verkörperten die sogenannte sexuelle Revolution, der explodierende Drogenkonsum und die Rockmusik den neuen Trend. Der amerikanische Kulturhistoriker Paul Fussell hat dafür den Begriff prole drift geprägt. Die Umkehrung der kulturprägenden Fließrichtung von unten nach oben sei in traditionellen Zivilisationen unvorstellbar gewesen.
Zur prole drift gehört auch die Schleifung der Umgangsformen, wovon heute vornehmlich die allgegenwärtige Duzerei zeugt. Die Reste der aus der aristokratischen Kultur gewachsenen bürgerlichen wandern derweil ins Museum; Oper, klassisches Konzert, Hausmusik, Salon, Tischsitten, Konventionen, Konversation, Bildungskanon, all das sind nur noch von distinkten Käuzen gepflegte Überbleibsel einer verschwindenden Epoche. Wer einen Prozess namens prole drift überhaupt bemerkt, gehört schon zur Minderheit solcher Käuze.
Das Phänomen prole drift manifestiert sich auch in der Vorliebe für Massenveranstaltungen, Massenpartys, Massentourismus, Massenstrände, Massenskipisten, überhaupt alles Massenhafte; Boxkämpfe, Fußballspiele, überhaupt Sportereignisse als der zentrale Kult unserer Zeit zählen ebenfalls dazu. Wer das Publikum dieser Massenveranstaltungen betrachtet, wird bei dessen Kleidung einen Wandel ins Funktionale, Praktische, Stillose, Bequeme, Beliebige, aber in ihrer Beliebigkeit entsetzlich Uniforme feststellen. Womit wir wieder bei den Tätowierungen wären.
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Schau an, eine im Zuge des Personalwechsels hierzulande in den Gemeinplatzrang aufgestiegene Zote war bereits im bolschewistischen Russland bekannt.
„Die beiden Soldaten (beide hatten sie seltsamerweise pockennarbige Gesichter) fragten, soviel verstand Krug, nach seinen (Krugs) Papieren. Er tastete seine Taschen nach dem Paß ab, während sie ihn zur Eile trieben und eine flüchtige Liebschaft mit seiner Mutter erwähnten, die sie gehabt hatten oder zu haben gedachten oder zu der sie ihn einluden.
‚Ich bezweifle’, sagte Krug, immer noch damit beschäftigt, seine Taschen zu durchsuchen, ‚daß derlei Wunschvorstellungen, die wie Maden aus uralten Tabus hervorgekrochen sind, wirklich in die Tat umgesetzt werden können –’ ”
Aus: Vladimir Nabobov, „Das Bastardzeichen”.
Apropos.
Wussten Sie nicht, dass Mike Tyson mit seinem Stil vor allem Axel Schulz und Regina Halmich beeinflusst hat?