Die Sonntage (zur Abwechslung wieder einmal) den Künsten!
Wenn ich vor Publikum aus meinem Roman „Land der Wunder“ lese, gehört eine Passage zu den sicheren Lachern, in der es um Käse geht, genauer: um die in vielen französischen Lokalen herrschende Gepflogenheit, für jene Gäste, die zum Nachtisch Käse bestellen, eine gemeinsame Platte herumgehen zu lassen. Die Hauptperson des Buches, Johannes Schönbach mit Namen, ist ein soeben wiedervereinigter Ostdeutscher, der von seinem Chef in ein teures französisches Lokal eingeladen wird und von diesem Brauch nichts weiß. Dann passiert Folgendes:
„Der Kellner brachte eine zur Hälfte aufklappbare Käseglocke und einen Teller. Schönbach war bestürzt über die Menge, außerdem hatte von der Platte schon jemand gegessen (von wegen vornehmes Lokal!). Aber da sein Gastgeber, der seine Crème brûlée bekommen hatte, daran nichts Anstößiges zu finden schien, fragte er nicht nach und stellte sich der Herausforderung. Schnell war sein verbliebener Appetit gestillt, nur aus Pflichtgefühl und um den netten Maître nicht zu kränken, schob er weiter ein, was eben ging und noch ein paar Bissen darüber hinaus, bis ihm allmählich übel wurde. Er verspeiste etwa ein Pfund Käse, doch es war einfach zu viel. Jetzt werden sie sauer sein, dass sie so viel wegschmeißen müssen, dachte er. Aber wie konnte man auch einen solchen Montblanc als Nachtisch servieren?
Der Kellner blickte eher erstaunt als erbost auf das Schlachtfeld, das Schönbach hinterlassen hatte, und trug die Platte kopfschüttelnd zu der zunehmend betrunkener werdenden Herrenrunde am Nachbartisch. Nun verstand Schönbach überhaupt nichts mehr. Wieso brachte man seine Essensreste an einen anderen Tisch? War das so Sitte in Frankreich? Hatten sie diesen Brauch von ihrem Algerien-Abenteuer mitgebracht?”
Das Komische an der Sache besteht darin, dass mir das genau so selbst passiert ist, anno 1990 in Strasbourg; ich weiß nicht mehr, in welchem Lokal es geschah, und ebensowenig, mit welchen Sorten ich mich damals stopfte, der Zwang, unter den ich mich fälschlicherweise gesetzt sah, und das nachträgliche Peinlichkeitsgefühl haben die Erinnerung an die Einzelheiten vollends überlagert. Zurück blieb damals lediglich noch der nun auch den Käse einschließende Eindruck einer verblüffenden Vielfalt, gerade für einen langjährigen Bewohner einer kulinarischen Öde namens DDR.
Unsere linksrheinischen Nachbarn rühmen sich, weit mehr verschiedene Käsesorten hervorgebracht zu haben, als das Jahr Tage hat. Was das Rühmen betrifft, haben sie sicher recht. Ich will weder den braven Schweizern noch den achtbaren Italienern ihren Rang streitig machen, aber in der Welt der Käse herrscht Frankreich. Gewiss, der Greyerzer oder Le Gruyère ist ein famoser Käse wie auch der Appenzeller, der Parmigiano, der Taleggio und die Mozzarella (ich meine nicht die aus dem deutschen Kühlregal, frisch in Napoli müssen Sie sie kaufen, wenn Sie wissen wollen, wie eine Mozzarella wirklich schmeckt), doch die Tempel, in welchen der geronnenen Essenz der Milch, jenem Labsal aus Lab gehuldigt werden sollte, sind die französischen Käseläden.
Zunächst einmal empfängt eine solche Fromagerie den Besucher mit einem unglaublichen Geruchsspektrum. Sodann eröffnet sich ihm eine appetitliche, zum sofortigen Vernaschen einladende Fülle der Formen, Farben und Konsistenzen, wie kein Bordell sie offerieren könnte: die ausladenden Rundlaiber der Hartkäse, Rinden in allen Ocker‑, Aschen- und Erdtönen, weißer, blauer und rotschmieriger Edelschimmel, die gestärkten, schon etwas ramponierten Hemdbrüste der Bries und Camemberts, die klinkerfarbenen Quader des Maroilles, die Pyramidenstümpfchen des Pouligny-Saint-Pierre, die von Blauschimmel durchzogenen Zylinder des Charolais, die morchelartige Haut des Chabichou du Poitou, der appetitlich verschrumpelte Saint-Marcellin, die schwärzliche Mumie des Sainte-Maure, der marmorne Saint-Nectaire, die von Kratern durchzogene Marsoberfläche des Mimolette – ich halte hier erschöpft und tropfenden Zahnes inne.
Einer meiner Favoriten ist der Époisses, ein wundervoll übelriechender französischer Weichkäse aus Kuhmilch. Er muss im Verlauf des Reifeprozesses regelmäßig mit einer Salzlake gewaschen werden, welcher mit zunehmender Reife immer mehr Marc de Bourgogne, ein Tresterbrand, zugesetzt wird. Auf diese Weise entsteht die cremig-schmierige Rotkulturrinde, während zugleich ein unerwünschter Schimmelbefall verhindert wird. Diese dicke, allmählich vom gesamten Käse Besitz ergreifende und ihn ins Laufen bringende Rotschmiere bekommt man schwer vom Messer los, auch von den Zähnen – und allenfalls durch eine bösartige Amnesie verliert man sie jemals wieder aus seiner Geschmackserinnerung. Es waren französische Zisterziensermönche, die im frühen 16. Jahrhundert den Époisses erfanden, und ich gedenke ihrer in tiefer Dankbarkeit. Überhaupt sollten wir den Altvordern gegenüber viel dankbarer sein wegen der zahlreichen Köstlichkeiten der Tafel, die sie in die Welt brachten und über Generationen verfeinerten. Wie lange mag es zum Beispiel gedauert haben, bis Menschen gelernt hatten, dass man einen Tintenfisch ausgiebig gegen einen Stein schlagen muss, damit er weich wird, bevor man ihn auf den Grill legt? Aber einen Käse mit Tresterbrand waschen, damit Rotschmiere entsteht – darauf muss ja erst einmal jemand kommen!
Der Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin, nach dem übrigens ein sehr wohlschmeckender fromage benannt wurde, nannte den Époisses den „König der Käse”. Auch Napoleon soll den schmierigen Stinker geliebt haben. Man kann ja schwerlich über Käse sprechen, ohne den Geruch zu thematisieren. Oder sagen wir ruhig: Gestank. Es sind animalische Aromen, die ein guter Käse verströmt, Gerüche vulgärster und ordinärster Art, die aus den verschiedensten menschlichen Körperöffnungen stammen könnten, teils frisch, teils abgestanden, und desto hinreißender, je übler.
Napoleon, der Époisses-Liebhaber, ließ seiner Joséphine über einen Boten aus dem Felde einen Brief zukommen, in dem geschrieben stand: „Nicht waschen – komme in drei Tagen.“ Andere sagen, es sei nicht Napoleon, sondern Napoleon III. gewesen, der an seine Geliebte schrieb, sie möge sich bitte nicht waschen – vielleicht übernahm der Dritte ja auch den Brauch vom Ersten –, und es habe sich nicht um Tage, sondern um Wochen gehandelt. Sei’s drum, beides ist so stimmig wie der Bach’sche Kontrapunkt. Und wenn ich schon beim punctum contra punctum bin: Für einen Époisses ist ein Gewürztraminer wie geschaffen, und ich denke nicht unbedingt an einen trockenen.
Es gibt übrigens für den Begriff Käse kein Synonym – außer: Unsinn. Für einen solchen – also für großen Käse – halte ich es, wenn Leute vom Hartkäse oder, wie ich neulich sah, vom Taleggio die Rinde abschneiden, bevor sie ihn verzehren. Dabei ist die Rinde oft das Beste! Sie ist ja ein Teil des Laibs! Ich meine selbstverständlich nur die Naturrinden, nicht irgendwelche künstlichen Schutzhüllen. Jeder mag tun, was er will, ich für meinen Teil esse die Rinde mit, auch die dickeren wie etwa beim Tomme de Savoie oder beim Cantal. Oder beim Pecorino. Und die Rinde des Parmigiano kommt in die Minestrone.
Von Jorge Luis Borges stammt die reizende Idee, das Paradies sei eine Bibliothek. Ich wäre einverstanden, sofern dieses Paradies einen Weinkeller und eine Fromagerie einschlösse.