„Ich übe den Beruf des Schriftstellers seit 50 Jahren aus und habe ihn von Anfang an rauchend ausgeübt. Ich bin auf diese Weise 70 Jahre alt geworden. Vielleicht wäre ich bei gesünderer Lebensweise heute schon 75 oder 80, aber das lässt sich schwer feststellen.”
Friedrich Torberg
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Gönnen wir uns heute eine Abwechslung, ja Abschweifung.
„Gepriesen sei
der schmucklose Holztisch.“
Mit diesen Worten beginnt ein Vers im Lobgesang To Axion esti des griechischen Dichters Odysseas Elytis, Nobelpreisträger für Literatur anno 1979.
„Goldener Wein mit dem Mal der Sonne,
Spiele des Wassers auf spiegelnder Decke.“
Jeder, der einmal unter mediterranem Himmel an einem Holztisch saß, auf dem ein Krug und ein Glas mit goldenem Wein standen, während er hinaus aufs Meer schaute, über das eine flimmernde, sich in der Ferne verlierende Brücke zur Sonne führte, weiß, dass es nichts Vollendeteres auf Erden gibt als dieses Bild.
Der Tisch gehört zu den elementarsten Möbeln. Gebieterisch verlangt er nach dem Stuhl, der die Möglichkeit eröffnet, an ihm Platz zu nehmen. Historiker meinen, dass diese für die westliche Kultur so zentrale Symbiose sich aus dem Opferstein entwickelt habe; die Kombination von Tisch und Stuhl sei die säkularisierte Version von Opfertisch und Opferstuhl.
Auch wenn sie uns so urvertraut erscheinen und die Welt erobert haben, sind beides keine universellen Möbelstücke. Der Ägypter Rifā‘ah Rāfi‘ aṭ-Ṭahṭāwī, ein von seinem Gouverneur Muhammad Ali Pascha 1826 nach Paris entsandter Gelehrter, der die französische Gesellschaft erforschen sollte, beschrieb in seinem später veröffentlichten Tagebuch erstaunt, dass die Franken – so nannte er die Franzosen – auf Holzgestellen säßen, um von noch höheren Konstruktionen aus Holz zu speisen, weit vom Boden entfernt, obwohl in ihren Häusern die Böden so sauber seien, dass man auch von ihnen essen könne.
Der Tisch markiert einen Zivilisationsschritt. Man isst nicht mehr auf der Erde, auf Fellen, von Taburetts, mehr oder weniger im Hocken, sondern in einer erhöhten, man könnte sagen: erhabenen Position. Die Verwendung von Besteck, die Entwicklung – Soziologen würden sagen: die Ausdifferenzierung – des Geschirrs, das Prozedere des Tischdeckens, das Arrangieren einer Tafel – übrigens auch die Geburt des Schreibtischs –, all das waren ästhetische Verfeinerungen und Kulturfortschritte, die sich nur bei Tische verwirklichen ließen.
Der schmucklose Holztisch hat seine Dignität – die gedeckte Tafel die ihre. Ich befand mich einmal an der italienischen Westküste auf dem Weg von Genua zur Fähre nach Elba und machte irgendwo zwischen Livorno und Cecina Halt, in einem kleinen, schmucklosen Lokal direkt am Strand, das auf Stelzen ruhte, unter denen das Meer ans Ufer brandete. Drinnen befanden sich ein paar quadratische Holztische mit weißen Decken und einfachen, kopfüber stehenden Gläsern darauf, vor großen Fenstern, durch die man aufs Mare nostrum blickte. Auch dieser Anblick war vollendet.
Wir sind noch beim einfachen Tisch, doch nun immerhin schon mit einem weiteren Accessoire. Zu einem gedeckten Tisch gehört unverzichtbar das Tischtuch. Es schmückt die Platte und dämpft die Geräusche, die sich beim beschwingten Hantieren mit Gläsern, Geschirr und Besteck unvermeidlich ergeben. Ein gutes Tischtuch muss von einer gewissen Schwere sein, gestärkt und gebügelt, und ein guter Gastgeber darf sich keinen Augenblick darum scheren, in welchem Zustand es sich am Ende des Mahles befinden wird.
Ich glaube nicht, dass es viele Menschen auf Erden gibt, die der Anblick eines geschmackvoll arrangierten Tisches nicht erfreut. Ein gedeckter Tisch vermittelt bereits einen Vorgeschmack auf das, was später dort serviert, eingeschenkt und gesprochen wird. Das wirft die Frage auf, was das bedeutet: schön gedeckt? Wahrscheinlich gehen hier die Meinungen auseinander. Da in mir eine tiefe Intoleranz lebt, muss ich monieren, dass viele dieser Meinungen aus Geschmacklosigkeit und Stumpfsinn resultieren und auf meine Akzeptanz nicht rechnen dürfen. Wer seinen Tisch festlich anrichtet, muss heute zwischen der Scylla des Kitsches und der Charybdis der Designerware hindurchsegeln. Die Scylla ist gleichwohl der harmlosere der beiden Schrecken. Zwiebelmusterteller sind nicht so schlimm wie quadratische Glasteller. Geschirr muss aus Porzellan sein. Welcher Banause kam auf die Idee, einen Fisch oder ein Entrecôte auf Glas zu servieren? Allein die Geräusche, die Besteck auf Glas erzeugt, sind abscheulich. Mir ist das übrigens an zwei erstklassigen Adressen für viel Geld zugemutet worden: im Münchner „Tantris“ und im „Badrutt‘s Palace” zu Sankt Moritz.
Der Fluch, unter dem die Designerwelt lebt, besteht darin, dass ständig Neues geschaffen werden muss. Das meiste Neue ist naturgemäß Schrott, welcher dem gerechten Vergessen anheimfällt, während die wenigen guten Ideen, die sich durchsetzen, ex post das falsche Vorurteil befördern, Neues sei generell großartig. Nur ein Designer konnte auf die Idee kommen, Messer und Gabeln zu kreieren, die statt eines sich am Ende verbreiternden Griffes einen gleichförmigen Stil haben. Mit solchem Besteck kann niemand vernünftig essen. Ein gutes Besteck ist am hinteren Ende breit, damit es fest in der Hand liegt und man mit der Gabel zum Beispiel mühelos Spaghetti drehen und mit dem Messer sicher schneiden kann. Letztlich ist Besteck Handwerkszeug. Es kommt auch niemand auf den Gedanken, einen Schraubenzieher oder eine Zange so zu designen, dass sie in der Hand des Benutzers ein Eigenleben führen (allerdings müssen Schraubenzieher und Zange auch keinen Tisch zieren).
Früher gab es den Brauch – es gibt ihn vereinzelt heute noch –, bei der Hochzeit dem jungen Paar zum Beispiel Silberbesteck zu schenken. Oder es den Kindern zu vererben. Das ist ein Geschenk fürs Leben. Silberbesteck ist selten – und wenn es älter ist, sogar niemals – hässlich. Nur muss man heute befürchten, dass die Kinder es gar nicht haben wollen, weil sie es altmodisch finden und sich stattdessen den Designerschnickschnack haben aufschwatzen lassen. Dasselbe gilt für das Geschirr und die Gläser, wenngleich bei den Weingläsern eine gewisse Entwicklung stattfand, weniger ästhetisch als vielmehr weingeschmacksästhetisch, die ich nicht leugnen möchte. Natürlich gibt es auch ansprechendes modernes Geschirr – ich werde hier keine Marken nennen –, doch das meiste ist uniforme, bestenfalls langweilige, einfallslos dekorierte, spülmaschinentaugliche, mit Mikrowellengerichten kompatible Massenware. Wenn ich indes an den Geschirrschrank meiner Großeltern zurückdenke, so standen darin ausschließlich schöne, vielleicht mitunter etwas überladen dekorierte Sachen, und sogar die für den Weingenuss gänzlich ungeeigneten Römergläser aus buntem, geschliffenen Glas waren immerhin nicht unansehnlich. Die Tischkultur gehörte noch zu den grundlegenden Lebensvollzügen, die sich in verbindlichen Formen ereigneten, so wie sich die Menschen seinerzeit, auch wenn sie nicht besonders wohlhabend waren, zu kleiden wussten und nicht im grotesken „Casual chick“ herumliefen. Dieses Geschirr wurde nicht alle Jubeljahre weggeworfen und durch etwas Neues ersetzt, sondern es war tatsächlich fürs Leben.
An solchen alten Servicen erstaunt die nahezu vollständige Abwesenheit von Hässlichkeit bei zugleich hoher Funktionalität und Stabilität der Teile. Zugleich verströmt altes Geschirr Individualität. Es ist noch keine industrielle Massenware. „Sichtbar wurde die Schönheit der handwerklich hergestellten Gebrauchsgegenstände erst, als sie die Gelegenheit erhielten, sich vor dem Hintergrund serieller, entworfener Häßlichkeit abzuzeichnen“, schreibt der Dichter Martin Mosebach. „Es war mit der Schönheit der von anonymer Hand und ohne Kunstwillen und Entwerferstolz hergestellten Gegenstände, ohne einen anderen Ehrgeiz, als die Sache gebrauchsfähig und haltbar zu machen, wie mit der Venus aus der Vergilischen ‚Äneis’: Erst als sie sich umwandte und davonging, sah man, daß sie eine Göttin war.“
Es gibt natürlich viele Zeitgenossen, denen modernes Design gefällt – eine Gründerzeit-Wohnung würden sie freilich nie ablehnen –, und so gibt es auch Menschen, die das hippe Designergeschirr tatsächlich mögen; ich lebe mit einem solchen Menschen zusammen. Schwer sind mitunter die Prüfungen, die der Gott vor allem jenen auferlegt, die nicht an ihn glauben.
Wie in der Architektur, wie in der Malerei, wie in der Bildenden Kunst, hat das Serielle, Hässliche, Praktische, Unkomplizierte auch bei Tische die Herrschaft übernommen. Aber man muss sich diesem Diktat ja nicht fügen. Es genügt bereits, nicht gedankenlos hinzunehmen, was einem angeboten wird, sondern sich zu fragen, was einem wirklich gefällt. Und sich dann auf die Suche danach zu begeben. Die Entscheidung darüber, was man auf seine Tafel stellt, liegt schließlich bei jedem selbst.
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Zum Vorigen meint Leser ***:
Messer:
– mehr oder weniger stumpf (wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, damit ((sich)) niemand schneidet)
– von Igor Lokomotow russisch aus einem Stück gefeilt, also aus einem Stück Metall, dadurch nicht ausbalanciert, der Griff ist immer schwerer als die Klinge, dadurch fällt das Messer beim Abräumen immer vom Teller. Früher waren Griff und Klinge zwei unterschiedliche Teile. Der Griff war hohl und etwa gleich schwer wie die Klinge (Nachteil alter Bestecks: die verkittete Nahtstelle geht durchs Spülen im Lauf der Zeit kaputt, besonders im Geschirrspüler. Aber da gehört Silberbesteck sowieso nicht rein).
– die Klingenform: seltenst haptisch wirklich ‚gut’, meist entweder zu kurz, zu schmal, zu lang, zu breit
– der Griff: Oh Graus, hier tobt sich der Designer aus! Ganz furchtbar: Griffbreitseite um 90 Grad verdreht, so dass der Griff hochkant steht, am Ende immer abgeschrägt, damit er auch schön unangenehm in den Handteller piekt!
– Balance besser, weil das Griffstück nicht so massiv ist wie beim Messer
– Bei vielen Gabeln ist die Zinkenseite zu schmal, es fällt einem alles runter (ganz schlimm: zu schmale Gabeln bei italienischen Pastagerichten, selbst die Erbse vom ‚Kaisergemüse’ kann sich nicht oben halten).
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Verlässlich brillant: Bernd Zeller.
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Das erste und elementarste Wort, das mir im Zusammenhang mit dem Begriff „Mutter“ einfällt, ist „Trost“. Mit dem Vater mag sich die kindliche Assoziation „Sicherheit“ verbinden – ich rede hier von Normalfällen –, doch sie beschreibt nur ein sozusagen praktisch-weltliches Vermögen, während jenes, Trost zu spenden, in die Bezirke des Chthonisch-Bergenden und zugleich Transzendenten hineinreicht, weshalb es lange Zeit, wenn man der Obhut der Mutter entwachsen war, auch an den Geistlichen delegiert wurde. Einem unglücklichen oder kranken Kind Trost zu spenden, ist zwar eine der gewöhnlichsten Beschäftigungen der Mütter dieser Erde, doch sie funktioniert eben nur jeweils zwischen zwei unaustauschbaren Menschen. Nur die Mutter kann jenen ungetrübten Frieden schenken, von dem Proust spricht, wenn er beschreibt, wie seine Maman ihm Gute Nacht sagte. Die Verbindung des Kindes zur Mutter ist weit enger und dauerhafter als jene zum Vater; kein Gekreuzigter, mit Ausnahme des einen, rief nach seinem Vater, und auch die Schwerverletzten in den Schützengräben brüllten „Mutter!“ und nicht „Vater!“
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat in seinen alten Tagen immer wieder den Verlust der Mütterlichkeit in den jüngeren, also derzeit tonangebenden Generationen beklagt. Mütterlichkeit, das ist die Bereitschaft zu engelsgeduldiger Selbstverleugnung und dienender Aufmerksamkeit, ein liebevolles Sich-Aufopfern, das nicht nach Grund und Honorar fragt. Es ist das, was eine Feministin sofort „Ausbeutung der Frau“ nennt. Es ist ein Verzicht zugunsten anderer, wie ihn der Zeitgeist einfach nicht mehr vorsieht, und nur die enorme Kraft der Blutsbande vermag der Allgewalt dieses Zeitgeistes zu widerstehen. Deswegen finden wir in den Familien immer noch die Asymmetrie der Lastenverteilung, die sich in außerfamiliären Strukturen sofort als Ungerechtigkeit angeprangert sähe. Innerhalb der Familie darf noch gedient werden.
Das habe ich vor 13 Jahren geschrieben. Heute lese ich:
Hier endet alles. Wer das Urwort „Mutter” in Frage stellt, ist ein Feind der Humanität.
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Ich zitierte hier vor ein paar Tagen einen Bekannten, der bei Tische die Theorie entwarf, dass die USA längst Polen als neuen Frontstaat zum russischen Erb- und Weltfeind betrachteten, während das Land der Deutschen in ihren geopolitischen Spielchen nicht mehr jene Rolle innehabe, die ihm während des kalten Krieges zugedacht war; eine deutsch-russische Allianz in jenem von den US-Eliten früher gefürchteten Sinne der Symbiose aus deutscher Technik und russischen Rohstoffen sei keine Gefahr mehr, da die Energieadern aus Russland gekappt wurden und die deutsche Technik längst internationales Mittelmaß sei, wobei die fortgesetzte Einwanderung von Analphabeten und kulturfremden Störenfrieden – Danisch würde hinzufügen: sowie das Fluten der Universitäten und Unternehmen mit Quotenfrauen und Genderistas – einen weiteren Abstieg garantiere. Der verrückt gewordene einstige Konkurrent auf dem Weltmarkt entwickle sich zum Schwellenland und reinen Absatzmarkt.
Sieht ganz so aus.
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„Was die vier Leser (im letzten Eintrag ‚Das meint der Leser’) schreiben, ist schön und gut”, schreibt Leser ***. „Verständnis haben wir alle. Aber: Ich wuchs während meiner Gymnasialjahre in der 12.000 Einwohner großen Kleinstadt Bad Mergentheim auf. In den 70er Jahren war das eine kulturell und gesellschaftlich blühende Kurstadt. Die Krise des Kurwesens verbunden mit der ubiquitären Landflucht hat zu einer Art Proletarisierung geführt, wie ich bei meinen regelmäßigen Besuchen feststellen musste.
Seit 2015 aber geht etwas sehr schnell vor sich, was grundsätzlich neu ist. Das Straßenbild, der öffentliche Raum hat sich dramatisch verändert. Herumstehende Gruppen afghanischer Jugendlicher, Okkupierung der öffentlichen Bänke durch sich laut unterhaltende Orientalen, Kinderwagen schiebende, mit Smartphones telephonierende muslimische Schwarze, überhaupt eine drastische Zunahme der Verhüllung mit ihren tristen modischen Aspekten. Keine einzige dieser Personen ist persönlich in ihrer Heimat verfolgt worden, das behaupte ich einfach mal; sie sind schlichtweg summarisch hier. Meine in Bad Mergentheim lebenden Freunde meiden die Innenstadt ab den Abendstunden.
Es geht doch gar nicht darum, ob diese Leute – ich nenne sie mal die Fremden – nett sind oder was auch immer; natürlich sind sie differenzierter, als man von außen sieht, und denken sich ihr Teil, sicher einer anders als der Andere. Es geht aber um ein Faktum, nämlich das sichtbare Ende unserer Welt – ich bin fremd hier. Das ist einfach nicht mehr meine Heimat. Es ist etwas Anderes, etwas Künstliches, etwas auf dem globalistischen Reißbrett Entworfenes. Ich habe das Elternhaus, nachdem nun auch mein lieber Vater verstorben ist, ohne Reue verkauft. Was soll ich hier? Da kann ich ja gleich nach Frankfurt-Griesheim oder Berlin-Kreuzberg ziehen. Da bin ich genauso Anywhere wie hier.”