Wenn man die Frage stellt, welchen Eigenschaften sich der Aufstieg des Westen zur wissenschaftlich, wirtschaftlich und kulturell führenden Zivilisation verdankte, dann wird vor allem die gesellschaftliche Durchlässigkeit mit der Möglichkeit des individuellen Aufstiegs, die Offenheit für Innovationen und die Förderung des Unternehmergeistes genannt werden. Die westliche Welt, könnte man sagen, war flexibler, nonkonformistischer, weniger hierarchisch als der Rest der Welt.
Worauf aber beruht wiederum dies?
Eine Antwort – nicht die Antwort, aber eine wesentliche – lautet: im Ritual des gemeinsamen Trinkens. Der Philosoph Roger Scruton, er ruhe in Frieden, der nicht nur ein bedeutender Kopf, Autor von mehr als sechzig Büchern, Professor in London und Boston und ein leidlicher Klavierspieler war, sondern auch ein Trinker vor dem Herrn – eines seiner Bücher trägt den Titel „I drink, therefore I am“ („Ich trinke, also bin ich“) –, von der Queen zum Ritter geschlagen anno 2016, Sir Roger Scruton hat das gemeinsame Trinken als einen Pfeiler der abendländischen Kultur bezeichnet. Denn dieses gemeinsame Trinken gestatte es, dass Menschen sich schnell von einer Gruppe, Beziehung, Geschäftsverbindung oder einem Lebensstil zum nächsten wenden, dass sie immer neue Institutionen und Zusammenschlüsse schaffen könnten und – bei aller Verschiedenheit – friedlich miteinander umgingen, ohne dass es einer besonderen Loyalität gegenüber einer Bruderschaft oder einem Stamm bedürfte. Die Fluidität der westlichen Gesellschaften wurde gewissermaßen vom Trank erzeugt.
Es genügt in diesem Zusammenhang eigentlich, auf den erfolgreichen Geschäftsabschluss und das anschließende gemeinsame Anstoßen zu verweisen. Oder die Cocktailparty. Überhaupt die Party. Das Trinken bringt Menschen zusammen, die sonst nie ein Wort miteinander wechseln würden. Es ist der Drink, der das Eis zwischen Fremden sofort schmelzen lässt, der sie locker macht und Geselligkeit herstellt. Man kommt mit dem Schmiermittel des Tranks viel besser ins Gespräch als mit Wasser oder Tee. Vor allem ist man beschwingter. Unzählige Geschäftsbeziehungen, Freundschaften, Partnerschaften sind von Bacchus gestiftet worden. Abertausende verstrittene Menschen haben sich bei einem Glas wieder versöhnt. Das gemeinsame Abendessen oder besser Abendtrinken, ob zu zweit oder zu zwanzigst, ist ein elementarer Bestandteil der westlichen Lebensweise. Und wenn sich geistvolle Menschen zum Trinken treffen, bekommt der Geist Flügel…
Ich weiß, jetzt treten sofort die Puristen, die Nörgler, die Prohibitionisten, die Blaustrümpfe der Abstinenz auf den Plan und verweisen auf die sozialen und die buchstäblichen Kosten, die durch den Rauschtrank entstehen: Alkoholismus, Unfälle, Schlägereien, sexuelle Belästigungen, zerstörte Familien. Ein Autounfall im Suff, eine zerrüttete Familie, eine Alkoholikerin im Bett, das alles mag schlimm sein, aber haben Sie schon mal einen Abend in Gesellschaft von Abstinenzlern verbracht? Das sind Qualen. Mit Menschen bei Tische zu sitzen, die Wasser oder Saft trinken, deprimiert mich zutiefst, und ich suche solche Gesellschaft mit allen Mitteln zu meiden. So geistvoll, amüsant und originell kann kaum jemand sein, dass er das kompensierte. Zumindest habe ich äußerst selten einen solchen Menschen kennenlernen dürfen.
Ernst beiseite: Jede Freiheit hat ihre Kehrseite, das ist ein Weltgesetz, immer muss man Kosten und Nutzen abwägen, und im Falle des Alkohols – allein dass man immer von Alkohol spricht, obwohl der Wein beispielsweise nur aus 12 bis 14 Prozent „Alkohol“ besteht – überwiegt der gesellschaftliche Nutzen den Schaden um ein Vieltausendfaches. Wobei ich hier einräumen möchte, dass ich noch nie beim Trinken an irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen gedacht habe, dafür mundet mir der holde Rebensaft einfach viel zu gut.
Dem gemeinsamen Trinken, nicht zum Zwecke des stumpfsinnigen Besäufnisses, sondern des Plauderns und gemeinsamen stufenweisen Emporsteigens in den Rausch, oblag man bekanntlich schon in der Antike, wovon Platons „Symposion“ das schönste Zeugnis ablegt. Über die Germanen berichtet Tacitus, dass sie, wenn sie sich zu Beratungen versammelten, am ersten Abend maßlos tranken – klugerweise ohne Waffen –, um tags darauf, wenn sie wieder nüchtern geworden waren, die eigentlichen Gespräche zu führen. Wo die Römer hinkamen, dorthin kam nicht nur die Zivilisation, sondern auch der Wein. Nicht nur das Weintrinken ist Kultur, auch der Weinanbau. Zu einer Kulturlandschaft gehören einfach Rebstöcke und Weingüter. Wo die Römer ihre Feldzeichen nicht hinpflanzten, ist Bier- und vor allem Branntweingebiet, die Trinkgewohnheiten in Russland, Irland, Skandinavien wären sonst andere, vielleicht etwas kultiviertere.
Ich lebe in München, und dort gibt es immerhin die Biergärten. Im Grunde ist die Biergartenkultur – das Oktoberfest eingeschlossen – die einzige Art Sozialismus, die funktioniert. Man sitzt zusammen, egal ob man sich kennt – „Hock di hie“, heißt es dann –, ist nicht getrennt nach Stand und Rang, und längst ist es auch einerlei, welcher Hautfarbe, Nationalität oder Religion man angehört (bis auf eine natürlich). Wer sich ein Restaurant nicht leisten kann, bringt seine Brotzeit mit, holt sich sein Bier dazu und ist doch „auswärts essen“, an der frischen Luft, inmitten tausender Zecher und für (relativ) wenig Geld. Das gemeinsame Trinken integriert auf eine meistens friedliche Weise.
Ich sprach eben von der einen Religion, deren Vertreter wir hierzulande nirgendwo treffen, wo getrunken wird, weil Allah es verboten hat. Muslime verbreiten derzeit überall in Europa den Gegentrend zur Enthaltsamkeit, und vielleicht passen sie gerade deshalb nicht so recht hierher. Was die islamische Kultur in den vergangenen fünf Jahrhunderten der Abstinenz zuwege gebracht hat, ist ja, verglichen mit dem trinkfreudigen Westen, nicht besonders eindrucksvoll. Ich habe den Eindruck, dass Teile der hiesigen Jugend, die Generation Greta, sich den unfroh-abstinenten Gepflogenheiten anschließen. Es ist obendrein (und in erheblichem Unterschied zu den Moslems) die erste Generation, aus deren Mitte die Forderung ertönt, auf Kinder zu verzichten, weil sie das Klima zerstören. Wahlweise auch, weil man keine Kinder in diese Welt setzen dürfe. Die Rede ist natürlich nur von weißen Kindern; die Anderen für ihre Zeugungszugewandtheit zu kritisieren, wäre ja rassistisch. Auch die Bewegung der Woken ist mit ihrer sexuellen Verklemmtheit, ihrer fanatischen Geschlechter‑, Rassen- und Milieutrennung, ihrer Sprachzensur und ihren Verhaltensvorschriften extrem ungesellig, unvergnüglich und genussfeindlich.
Wenn das gemeinsame Trinken Lebensfreude ist, so ist die gemeinsame Abstinenz eine Art Todesfreude.
Vielleicht arrangieren sich die Jünger:_*Innen des Ordens vom beschädigten Klima, wenn sie erwachsen geworden sind und das Klima sich trotz ihrer Gruppengebete nach wie vor munter wandelt, doch noch mit dem abendländischen Grundnahrungsmittel. Vielleicht sind diese selbstklebenden Menschenwesen aber auch die Vorboten einer neuen Geistlosigkeit und Prüderie, was sich notwendigerweise auf die geistigen Getränke wegen ihrer enthemmenden, befreienden, illuminierenden Wirkung erstrecken muss (womöglich gibt es auch keinen wirklich passenden Wein zu Mehlwurm und Rüsselkäfer).
Wird im Abendland mit dem gemeinsamen Trinken aufgehört, dann ist es wirklich untergegangen.