Ich las zuletzt zwei Bücher, die ich schon vor 50 bzw. 100 Jahren hätte lesen sollen: „Wiedersehen mit Brideshead” („Brideshead Revisited“) von Evelyn Waugh und „Gegen den Strich” („À Rebours“) von Joris-Karl Huysmans. Beides sind literarische Meisterwerke, beide spielen in der Welt exzentrischer Aristokraten – darüber hinaus halten sich die Gemeinsamkeiten in Grenzen (die Gemeinsamkeiten von „À Rebours“ mit jedem anderen Roman halten sich in Grenzen). Doch beide trösteten mich bei der Lektüre über ein zeitgenössisches Phänomen hinweg, welches sie zugleich verdeutlichen: das Verschwinden origineller, spleeniger, unterhaltsamer oder auf geistvolle Weise heikler Charaktere in den Zeiten der Diversity. Es handelt sich um Romane, deren Personal praktisch ausgestorben ist.
Waughs 1945 erschienenes Opus, das auf der Insel eine vergleichbare Popularität genießt (oder genoss) wie hierzulande (früher einmal) die „Buddenbrooks“ und das der „Clockwork Orange“-Verfasser Anthony Burgess nach eigener Auskunft „mindestens ein Dutzend mal“ gelesen hat, handelt vom Verfall einer Adelsfamilie, in die sich Charles Ryder, der Ich-Erzähler, verliebt. Brideshead ist eine Art britisches Gegenstück zu Lampedusas Donnafugata; wie das Geschlecht der Salina im „Gattopardo“ verliert auch die Familie Flyte – das Oberhaupt ist Marquess of Marchmain und Earl of Brideshead, lebt aber mit einer Geliebten in Venedig – in den Katarakten der Moderne ihre gesellschaftliche Stellung, ihre Reputation und ihr Vermögen.
Von Mister Waugh stammt der entzückende Ausspruch: „Ein Künstler muss reaktionär sein.“ In allem, was er bevorzugte oder ablehnte, war der gebürtige Londoner – Verlegersohn, Oxford-Student (Geschichte), Fallschirmjäger, sechsfacher Vater, Katholik, erfolgreicher Schriftsteller, Landhausbesitzer – vorbildlich: Er liebte die Aristokratie, die Kunst, die geistigen Getränke und die geistlichen Themen, er verachtete die Presse, das Zweite Vatikanische Konzil und die Moderne. Die Tories waren ihm zu links. Über sein literarisches Alter ego im Roman „Gilbert Pinfolds Höllenfahrt“ heißt es: „Er verabscheute Plastik, Picasso, Sonnenbaden und Jazz – eigentlich alles, was sich im Laufe seines Lebens entwickelt hatte und bekannt geworden war.“
Waugh erlag, 62jährig, am 10. April 1966 einem Schlaganfall. In seinem Nachruf schrieb der britische Journalist Malcolm Muggeridge: „Evelyn Waugh, wie ich ihn sehe, war ein antikes Stück auf der Suche nach einem passenden Zeitalter, ein Snob auf der Suche nach einer Klasse, und schließlich ein Mystiker auf der Suche nach einer seligmachenden Vision.“
Welche Vorlieben und Aversionen dieser fröhliche Reaktionär hegte, wäre allerdings ziemlich egal, wenn er nicht so stilsicher, unterhaltsam, liebevoll und boshaft hätte schreiben können. Allein für den Satz „Es gab keinerlei Anzeichen von Cocktails“ möchte man ihn knuddeln (was er sich verbitten würde). Eines jener Wiedersehen, von denen der Roman voll ist (und zwischen dem Jahre liegen), schildert er so: „Es war das krasse Gegenteil dessen, was man sonst bei derartigen Begegnungen empfindet, wenn man merkt, dass die Zeit ihre Verteidigungslinien angelegt, wunde Punkte getarnt und alle Wege, bis auf wenige, gut ausgetretene, vermint hat, so dass man sich höchstens über einen Drahtverhau zuwinken kann.“ Ein Mädchen, das plötzlich zur Frau herangereift ist, beschreibt er als „ein Wesen, das sich unversehens bewaffnet sieht“. Das ist glänzend.
Die teilweise autobiographisch inspirierte Handlung des Romans soll hier nicht weiter interessieren, umso mehr aber die handelnden Personen. Zunächst Sebastian Flyte, der jüngere der beiden Söhne von Lady Marchmain – sie hat noch zwei Töchter –, den Ryder im ersten Jahr in Oxford kennenlernt und mit dem ihn bald eine innige Freundschaft verbindet, von der man heute sagt (und die Verfilmung von 2008 führt es bis zum Kuss so vor), dass sie homoerotisch grundiert sei, was mir und eventuell auch Waugh nicht aufgefallen ist (oder daran liegt, dass zwischen homoerotisch und homosexuell ein erheblicher Unterschied besteht). Sebastian läuft immer mit einem großen Teddybären herum, studiert im eigentlichen Sinne kaum, redet vergnüglichen Unsinn, der ihn intelligent wirken lässt, und ist ein maßloser Trinker, was er mit seinem außergewöhnlichen Charme lange Zeit zu überspielen vermag. Dass aus seinem Mund, vom Erbrochenen bei der Kennenlernszene ganz abgesehen, nur Belanglosigkeiten kommen, bemerken Ryder und der Leser aber erst so richtig, als Anthony Blanche, das nächste Original, diese befremdliche Tatsache einfach ausspricht. Blanche ist ein stotternder homosexueller Dandy, der ebenfalls in Oxford studiert, und er hat zwei große monologische Auftritte. Im ersten zerstört er des Ich-Erzählers (und des Lesers) Illusion, Sebastian sei eine irgendwie geistvolle Person, der im weiteren Verlauf des Buches eine seine Trinkerei übersteigende Rolle zukommen könnte. Beim zweiten Auftritt macht Blanche wieder eine Illusion zunichte (des Lesers, womöglich nicht des Erzählers), nämlich jene, dass Ryder ein talentierter Maler sei.
Er platzt in dessen erste große Vernissage mit den Worten: „‚Ich bin erst gestern in London angekommen und hörte heute beim Lunch zufällig von deiner Ausstellung, da eilte ich natürlich augenblicklich zum Schrein, um dir meine Ehrerbietung zu erweisen. Habe ich mich verändert? Hättest Du mich wiedererkannt? Wo sind die Bilder? Ich möchte sie dir erklären.‘
Dann sah er sich alle Gemälde in den beiden Räumen an, seufzte ein- oder zweimal tief auf und blieb ansonsten stumm. Als er fertig war, seufzte er erneut, noch tiefer als zuvor, und sagte: ‚Aber wie man hört, bist du glücklich verliebt, mein Lieber. Das wiegt alles auf, nicht wahr, oder fast alles.‘
‚Sind sie so schlimm?‘
Anthony dämpfte die Stimme zu einem durchdringenden Flüstern. ‚Lass uns deine kleine Hochstapelei nicht vor diesen braven, einfachen Leuten erörtern, mein Lieber.‘ Damit warf einen verschwörerischen Blick auf die letzten Überreste der Menge. ‚Wir wollen ihnen doch nicht ihre unschuldige Freude verderben. Wir beide, du und ich, wissen, dass es schrecklicher Schund ist. Gehen wir lieber, bevor wir die Kinder vor den Kopf stoßen. Ich kenne eine verrufene kleine Bar gleich hier um die Ecke.‘“
Das nächste Original ist der Vater des Ich-Erzählers: „Er war zu der Zeit Ende 50, aber es gehört zu seinen Eigenheiten, dass er viel älter wirkte, als er tatsächlich war. Er sah aus wie 70; hörte man ihn sprechen, schätzte man ihn an die 80.“ Der Herr Papa lebt im Gehäuse seines Arbeitszimmers wie ein Einsiedlerkrebs: „So gut gelaunt hatte ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen, als er zwischen den Seiten eines lombardischen Kirchenbreviers zwei Papyrusblätter aus dem zweiten Jahrhundert gefunden hatte.“ Eines Tages eröffnet er Charles: „Ich habe heute von dir geredet, als ich im Athenäum deinem zukünftigen Hausvater begegnete. Ich wollte mich über die Vorstellung der Etrusker von Unsterblichkeit unterhalten, er hingegen über zusätzliche Vorlesungen für die Arbeiterklasse, daher machten wir einen Kompromiss und sprachen über dich.“ Diesen Worten folgt die Auskunft, mit welcher jährlichen Summe er das Studium des Sohnes zu unterstützen gedenkt. Charles’ mehrmonatige Abwesenheit von daheim fällt ihm kaum auf; welches Fach der Filius studiert, ist ihm zwischenzeitlich entfallen. Auf die Frage des Sohnes, ob er es lästig finden würde, wenn er die Ferien daheim verbringe, antwortet diese zeitversetzte Dickens-Figur: „Ich hoffe, dass ich ein solches Gefühl nicht zeigen würde, selbst wenn ich es empfände“, um sich nach diesen Worten sofort wieder seinem Buch zuzuwenden.
Über den ältesten Sohn der Familie Flyte, genannt Bridey, erfährt der Leser: „Er war eigentlich immer grotesk, wahrte jedoch eine gewisse Würde durch seine unnahbare Art und seine Alterslosigkeit. Er war halb Kind, halb Veteran, schien keinen Funken modernen Lebens zu besitzen, dafür aber so etwas wie gediegene Rechtschaffenheit, Undurchdringlichkeit und eine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, die Respekt verlangten. Obwohl wir oft über ihn lachten, war er nie wirklich lächerlich und manchmal sogar beeindruckend.“ Bridey ist passionierter Sammler von Streichholzschachteln. Als er seiner Familie erklärt, dass er sich verlobt habe und heiraten wolle, gibt er auf die Frage, wie er seine Zukünftige kennengelernt habe, die Auskunft, ihr verstorbener Mann, ein Admiral übrigens, habe ebenfalls Streichholzschachteln gesammelt…
Wie im „Gattopardo“ taucht auch in Brideshead der bürgerliche Emporkömmling auf, der sich großspurig und peinlich benimmt, bespöttelt wird, aber dennoch das Rennen bei Julia, der älteren Tochter, macht. Er heißt Rex Mottram und verkörpert die Ablösung einer Klasse durch die andere, wobei die aufsteigende Klasse in ihrer geschäftstüchtigen Vulgarität tatsächlich einen kulturellen Niedergang darstellt. Das eigentliche Thema von „Wiedersehen mit Brideshead“ ist freilich der Katholizismus der Flytes. Die daraus resultierenden moralischen Konflikte lädt der Autor vornehmlich den Frauen auf, die den tragischen Handlungsverlauf bestimmen. Das Erstaunlichste an diesem Werk ist, dass ein dermaßen trauriger Roman so amüsant sein kann.
PS: „Brideshead” ist, wie gesagt, verfilmt worden, zweimal – Huysmans befindet sich mit „À Rebours“ in Sicherheit; das ist unverfilmbar –, ich habe mir gestern den Film (nicht die Serie) angeschaut und hätte ihn enttäuschend gefunden, wenn ich mich zuvor irgendwelchen Täuschungen hingegeben haben würde. Die Handlung ist durch chronologische Versimpelungen publikumswirksam geändert worden. Ausstattung und Kostüme waren aber toll.
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In Evelyn Waughs Familiendrama geht es um Moral. In Huysmans 1884 erschienenem Roman „À Rebours” betritt der Immoralismus die Szenerie. Neben dem in höheren gesellschaftlichen Rängen angesiedelten Personal besteht eine motivische Verbindung zwischen Brideshead und der Klause von Huysmans elegantem Outlaw: Durch beide Anwesen kriecht eine Schildkröte, in deren Panzer Juwelen eingearbeitet sind (ob es sich bei Waugh um ein Zitat handelt, weiß ich nicht). Während der Herzog Jean Floressas Des Esseintes, ein décadent und der Letzte seines Geschlechts, sich das Tier anschafft, um einen seiner Teppiche damit zu schmücken, weshalb er den Rückenschild mit Edelsteinen besetzen lässt (woran die Schildkröte stirbt), handelt es sich bei dem in Schloss Brideshead umherkrabbelnden Zierreptil um ein Geschenk des angeberischen Freiers Rex, das, wie wir einem Brief der jüngeren Tochter des Hauses entnehmen, irgendwann einfach verschwunden ist.
Des Esseintes ist ein Mann ohne Angehörige und Freunde. Er wurde in einer Jesuitenschule erzogen, stürzte sich, wie man sagt, danach in die Vergnügungen der besseren Gesellschaft, und zieht sich eines Tages, enttäuscht von dieser Existenz – „Er betrachtete voller Ekel und Bestürzung das Defilee der Jahre seines gelebten Lebens“ – in ein Haus vor den Toren von Paris zurück, das ganz nach seinen Vorstellungen für ein einzelgängerisches Leben als Gegen-Welt ausgestattet wurde. In dieser splendid isolation widmet er sich seinen – kapitelweise vorgestellten – Liebhabereien: einer Bibliothek erlesen gebundener, vor allem lateinischer Autoren; der Malerei; einer Sammlung exotischer, möglichst unnatürlich wirkender Pflanzen; seinen Blumen, Möbeln, Edelsteinen, Parfüms, Weinen und Likören.
Im Speisezimmer gibt es einen eigens für die Likörfässchen angefertigten Schrank, deren Versammlung er seine „Mundorgel“ nennt. „Ihm zufolge entsprach nämlich der Geschmack eines jeden Likörs dem Klang eines Instruments.“ Die Analogien setzten sich fort; in der Musik der Liköre entdeckt Des Esseintes Tongeschlechter, Ober- und Untertöne. „Nun, da er diese Gesetze aufgestellt hatte, war es ihm dank gelehrter Versuche gelungen, sich auf der Zunge stumme Melodien und schweigende, pompöse Trauermärsche zu spielen und in seinem Mund Pfefferminzlikörsoli und Magenbitter- und Rumduette zu hören. Es glückte ihm sogar, wirkliche Musikstücke in seinen Gaumen zu übertragen…“
Des Herzogs ästhetischer Anspruch besteht darin, „die Wirklichkeit durch den Traum der Wirklichkeit zu ersetzen“. Nach seiner Meinung hat „die Künstlichkeit das Erkennungszeichen des menschlichen Genies zu sein“. Die Natur habe „ihre Zeit gehabt. Durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und Himmel hat sie die Aufmerksamkeit und Geduld der Menschen mit verfeinertem Geschmack endgültig erschöpft. Der Augenblick ist gekommen, da man sie, wo irgend möglich, durch Künstlichkeit ersetzen muss.“ Das ist die Stimmung des Fin de Siècle.
Dasjenige der Naturwerke, welches „als das erlesenste gilt“, sei die Frau, überlegt Des Esseintes an einer Stelle – doch habe der Mann nicht ein „künstliches Wesen geschaffen, das ihr an plastischer Schönheit nicht nachsteht? Wo gibt es hienieden ein in der Freude des Fleisches gezeugtes und unter Schmerzen dem Mutterleib entsprungenes Wesen, dessen Modell, dessen Typus betörender und herrlicher wäre als jener der beiden Lokomotiven, die auf der Strecke der Nordeisenbahn verkehren? Die eine, die Crampton, ist eine anbetungswürdige, zarte, hochgewachsene Blondine mit schriller Stimme, eingezwängt in ein funkelndes Kupferkorsett und über die biegsame, nervöse Gestrecktheit einer Katze verfügend (…) Die andere ist die Engerth, eine gewaltige, düstere Brünette mit dumpfen, rauhen Schreien und stämmigen, in einem gusseisernen Harnisch gepressten Lenden, ein Ungetüm von einem Tier mit einer wilden Mähne aus schwarzem Rauch und sechs niedrigen, aneinander gekuppelten Rädern…“ 25 Jahre später wird Marinetti in seinem „Manifest des Futurismus” statuieren, dass „ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen”, schöner sei „als die Nike von Samothrake”.
Oscar Wilde bezeichnete „À Rebours“ als „das seltsamste Buch, das ich je gelesen habe. Ein Buch voller Gift“. Oh ja. Eine tiefe Menschenverachtung – aber was soll man sonst verachten, wenn nicht Menschen? – durchzieht den Text wie der Basso continuo ein Barockkonzert, und er erreicht im berüchtigten VI. Kapitel, wo Des Esseintes einen Straßenjungen auf dem Umwege der sexuellen Abhängigkeit von einer Hure zum Mörder machen will, eine satanische Gehässigkeit. Motivisch weist das vorangehende Kapitel darauf hin, in welchem sich der luxuriöse Eremit für die beiden „Salome”-Gemälde von Gustave Moreau begeistert (im Buch besitzt er sie sogar), weil es ihn „nach einer subtilen, erlesenen Malerei verlangte, die, unseren Sitten und Tagen entrückt, hinabgetaucht war in einen alten Traum, in antike Verderbtheit”. Er sitzt nächtelang vor den Bildern und betrachtet sie: „Diamanten blitzen auf der feuchtglänzenden Haut; Armbänder, Gürtel und Ringe speien Funken; auf ihrem perlenbesetzten, silberberankten, golddurchwirkten Prunkgewand entflammt das Kettenhemd aus Geschmeide, dessen Maschen Juwelen sind: gleich herrlichen Insekten mit karmesingeäderten, morgenrotgelbübertupften, stahlblaugesprenkelten, pfauengrüngetigerten Flügeln, deren Glanz blendet, irrlichtert es über das matte Fleisch, die teerosenfarbene Haut, züngelt es wie eine Feuerschlange.“
Wenn ich vorhin schrieb, die Gemeinsamkeiten mit jedem anderen Roman hielten sich in Grenzen, stimmt das insofern nicht ganz, als es einen Autor gibt, der eine vergleichbare Konstellation – ein einsamer, überfeinerter, lebensuntüchtiger, egozentrisch um sich selbst kreisender, mit der Welt hadernder, suizidgefährdeter Geistesmensch versucht verzweifelt, seine Tage herumzubringen – in vielen seiner Bücher thematisiert hat: Thomas Bernhard.
Im Grunde ist „Gegen den Strich” ein vorweggenommener Thomas-Bernhard-Stoff. Das fiel mir besonders beim Kapitel III auf, das von Des Esseintes Beschäftigung mit den Lateinern handelt. Ich muss jetzt einfach ein bisschen zitieren (überfliegen Sie es, steigen Sie aus, aber am besten, lesen Sie weiter): „Unter anderem schien ihm der sanfte Vergil einer der schrecklichsten Schulmeister, einer der finstersten und ödesten Schwätzer zu sein, den die Antike jemals hervorgebracht hatte; seine sauber gewaschenen und herausgeputzten Schäfer, die sich gegenseitig eimerweise sentenziöse und eiskalte Verse über dem Kopf ausleeren, … sein Äneas, diese unentschlossene und fließende, wie aus einem Schattenspiel stammende Gestalt mit hölzernen Gebärden erbitterten ihn. Aber er hätte sie noch hingenommen, diese langweiligen Albernheiten, die diese Marionetten wechselseitig in die Kulissen sprechen; er hätte auch die schamlosen Anleihen bei Homer, Theokrit, Ennius und Lukrez hingenommen und den unverhohlenen Diebstahl, den uns Marcrobius im zweiten Gesang der ‚Äneis‘ nachwies, worin fast wortwörtlich ein Gedicht Pisanders wiedergegeben wird, kurz: die ganze unaussprechliche Plattheit dieses Haufens von Gesängen, wäre da nicht die Machart der Hexameter gewesen, von denen ihn noch mehr schauderte: blechern klangen sie und schepperten und dehnten ihre mit dem Litermaß abgemessenen Wortmengen nach den starren Vorschriften einer pedantischen und trockenen Prosodie … Diese der perfektionierten Schmiede des Catull entlehnte, ewig gleiche Metrik ohne Phantasie und Erbarmen, die überquoll vor Phrasen, Füllseln und Flickwörtern, deren Verzierungen alle ähnlich und voraussehbar waren, dieses Elend des homerischen Epithetons, das unentwegt vorkam, um nichts zu bezeichnen, nichts anschaulich zu machen, dieses ganze armselige Vokabular mit seinen tonlosen und faden Farben: all das war eine Marter für ihn.“
Und weiter geht es mit seinem „Abscheu vor der elefantenhaften Grazie eines Horaz“ oder: „Ebensowenig wie Cicero begeisterte ihn der für seine lakonische Kürze berühmte Caesar, denn hier zeigte sich das andere Extrem: die Dürre eines Trockenfurzers, die Sterilität eines Notizzettels, eine unglaubliche und ungebührliche Verstopfung.“
Das könnte von Bernhard stammen, wenn, ja wenn dieser Bernhard von irgendeiner Sache tatsächlich Ahnung besessen hätte und nicht die so kenntnisarme wie stereotype Rohrspatziade zur Attitüde seines Schreibens gemacht hätte. Huysmans dagegen verfügt nicht allein über ein bemerkenswertes sprachliches Repertoire, sondern auch über erstaunliche literarische, ästhetische, botanische und kulinarische Kenntnisse. Und olfaktorische!
Es gibt antike Autoren, die der Herzog mag, und einen, den er „wirklich liebte”: Petronius. „Dieser realistische Roman, diese aus dem nackten römischen Leben herausgeschnittene Scheibe”, die „in einer strahlenden, wie vom Goldschmied bearbeiteten Sprache die Laster einer abgelebten Zivilisation, eines zerbröckelnden Reiches schilderte, ohne dass der Verfasser auch nur einmal hervorträte, ohne dass er auch nur den geringsten Kommentar abgäbe, ohne dass er das Tun oder Denken seiner Figuren billigte oder verdammte, diese Geschichte fesselte Des Esseintes.“ Den eigentlichen Grund seiner Zuneigung zum Autor des „Satyricon” aber fand er in dessen „eigenartig krudem, farbsicheren Stil, einem Stil, der aller Dialekte mächtig ist, sich Ausdrücke aus allen in Rom vertretenen Sprachen holt, der alle Grenzen, alle Fesseln des sogenannten großen Jahrhunderts aufhebt, indem er jeden sein Idiom sprechen lässt“.
Der Herzog (bzw. sein Erfinder) ist, bei aller Eigenwilligkeit seines Urteils, ersichtlich ein Kenner der Lateiner. „Ein einziger christlicher Dichter, Commodian von Gaza, vertrat in seiner Bibliothek die Dichtkunst des 3. Jahrhunderts”, lesen wir. „Diese geschraubten, dunklen, nach Raubtier riechenden Verse voller Begriffe aus der Umgangssprache, voller Wörter, deren ursprüngliche Bedeutung verdreht wurde, forderten und interessierten ihn sogar mehr als der überreife und bereits grünspanbezogene Stil der Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus und Aurelius Victor, des Briefschreibers Symmachus und des Sammlers und Grammatikers Macrobius. Er zog sie sogar den echten, skandierten Versen der gesprenkelten und herrlichen Sprache vor, die Claudianus, Rutilius und Ausonius sprachen. Sie waren damals die großen Meister der Dichtkunst, sie füllten das sterbende Imperium mit ihren Schreien.“ – Und so geht es immer weiter hinein ins Latein der Spätantike.
Die bevorzugten zeitgenössischen Autoren des Herzogs sind Mallarmé, Baudelaire, Flaubert, Poe und überraschend auch Zola – Huysmans war mit dem Schöpfer der Rougon Macquart und Begründer des französischen Naturalismus befreundet, und bei Tageslicht besehen ist „À Rebours” nicht nur ein Manifest der décadence, sondern auch die passagenweise halbwegs naturalistische Darstellung einer erblich bedingten neurotischen Zerrüttung. (Bezeichnenderweise wird im Buch die für Zolas Werk eher untypische Romanphantasie „Die Sünde des Abbé Mouret” erwähnt, die ich vor vielen Jahren nur deshalb las, weil eine schwarzlockige Schöne mir riet, ich möge sie als jene Albine sehen, die darin den Geistlichen verführt – ich schweife ab…)
Ein amazon-Rezensent bemängelt in „Gegen den Strich” die „ermüdende Aneinanderreihung von Schilderungen, wie der Herzog versucht, dem Leben soetwas wie einen Kick zu entringen” – er schreibt von „irgendwelchen Hobbys” –, „und die Enttäuschung, dass es nie das zu sein scheint, was er sich in seiner Fantasie hatte ausmalen können. Also das ganz natürliche Dilemma aller, die hinter die Illusion zu blicken wagen. Heute ist der beschriebene Zustand des Herzogs der Normalzustand eines durchschnittlich gelangweilten Berliners. Und manches Technokid hat es in Sachen Dekadenz mit 21 weiter gebracht, als der Herzog im Roman.” Aus dieser Rezension spricht entweder eine intime Kenntnis subtilster, kaum zu beschreibender und deshalb auch nicht einmal angedeuteter Vergnügungen und Stimuli – oder eben der entsetzliche Stumpfsinn unseres Epöchleins. Aber natürlich haben auch Chopin und H. P. Baxxter gewisse existentielle Gemeinsamkeiten.
Huysmans ist zuletzt durch eine – mehr oder weniger indirekte – Empfehlung Michel Houellebecqs wieder ins Gespräch und zu Ehren gekommen. Das erste Kapitel von Houellebecqs 2015 erschienenem Bestseller „Unterwerfung“ beginnt mit dem Bekenntnis des Ich-Erzählers François, eines Literaturwissenschaftlers, in all den Jahren seiner „traurigen Jugend” sei der Pariser Romancier sein „Gefährte” und „treuer Freund” gewesen, und so habe er denn sein Literaturstudium an der Sorbonne mit einer Doktorarbeit über ihn abgeschlossen. François und sein Schöpfer interessieren sich aber nicht primär für den Ästhetizismus Huysmans, sondern für dessen Wendung zum Katholizismus. Der Ästhetizismus war dabei nur ein Zwischenschritt. Am Ende des Vorworts zur Neuauflage von „À rebours“ von 1903, zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans geschrieben, zitierte Huysmans eine Kritik aus dem Jahr 1884, die mit der Feststellung endete, dass nach einem solchen Buch dem Verfasser „nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes“ bleibe, und schloss lakonisch: „Das ist geschehen.“
Von der Sache mit Gott handelt auch „Wiedersehen mit Brideshead”. Ryder, der als Agnostiker eingeführt wurde und der katholischen Familie in Glaubensdingen immer ein Fremder bleibt, spricht am Ende allein in der Kapelle von Brideshead „uralte, neu erlernte Worte“: ein Gebet.