„Wer ‚Zusammenhalt’ sagt, will Zwietracht säen.”
Peter J. Brenner
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Auf den letzten anderthalb Seiten der „Recherche”, die zum schönsten gehören, was jemals ein Autor zu Papier gebracht hat, stellt Proust die vergleichsweise geringe Ausdehnung des Menschen im Raum der enormen Ausdehnung eines Lebens in der Zeit gegenüber. Ganz besonders trifft das natürlich für den alten Menschen zu, dessen Bewegungsradius in stetigem Abnehmen begriffen ist, während die sich „unter ihm” sammelnde Zeit mit jedem Tag wächst, bis es den Greis zu schwindeln beginnt, wenn er aus der Höhe seiner neunzig oder hundert Jahre hinab in die Tiefe der Vergangenheit blickt.
Jeder blickt nur hinab in seine Vergangenheit, nicht in die eines anderen. Um in der Proustschen Bildersprache zu bleiben, sitzen wir alle auf Säulen, die aus der sekretartig unter uns abgelagerten Zeit bestehen. Doch obwohl die Zahl der Jahre eine objektive Größe ist, bemisst sich die Tiefe der Zeit subjektiv. Jeder mag zusammenrechnen, wie viele Tage sein Leben schon währt, und sich dann fragen, wie viele davon in seinem Gedächtnis überdauert haben. Dieser Teil war sein Leben. Wir selbst bestimmen die Ausdehnung in der Zeit, denn sie besteht in dem, woran wir uns erinnern, das heißt, sie besteht in uns – sowie darin, was parallel dazu ein paar Verwandte, Freunde, Widersacher, Bekannte oder ein Publikum über uns erinnern, allerdings in ihrer Zeit, wie umgekehrt Verwandte, Freunde, Widersacher in unserer Erinnerung mitaufgehoben sind, bis der Tod alles einebnet.
Ist die vertikale Ausdehnung in der Zeit ohnehin schon eine subjektive, wird sie obendrein von retrograder Amnesie bedroht. Demenz bedeutet, dass sich auch der zeitliche Horizont immer mehr reduziert, bis zu dem Punkt, wo er mit den Ausmaßen des letzten Zimmers ungefähr übereinstimmt.
Einige wenige dehnen ihre Vertikale in der Zeit auch über ihren Tod aus, durch Werke, Taten, biographiewürdiges Verhalten. Sie leben gleichsam virtuell weiter und beanspruchen postum immer noch Platz in der Zeit, manche sogar ein notorisches Quantum Raum. Pharao Cheops, um ein Beispiel zu nennen, behauptet inzwischen viereinhalbtausend Jahre Ausdehnung in der Zeit und mehr als zweieinhalb Millionen Kubikmeter im Raum, und das wird nicht sein finaler Anspruch sein. Freilich darf man auch hier feststellen, dass die Ausdehnung in der Zeit jene im Raum in schwindelerregendem Maße übertrifft.
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„Die Menschen werden mitunter aufgefordert zu überlegen, was sie wohl auf dem Sterbebett bereuen werden, und ihr Leben daran zu orientieren – ich muss sagen: Was ich auf dem Sterbebett einmal bereuen werde, ist mir ziemlich egal. Warum soll ich darauf hören, was mir irgendein hundertjähriger seniler Trottel aus der Zukunft zuruft?”
Arne Kolb, „Trägheitsgesetze”, In Tumult, Sommer 2022
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Das aktualisierte sozialistische Klassikerzitat, 1. Folge.
„Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und er muss es so nützen, dass ihn sinnlos verbrachte Jahre nicht qualvoll gereuen, die Schande einer kleinlichen, binären Vergangenheit ihn nicht bedrückt und er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt – dem Kampf für die Befreiung der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Intergeschlechtlichen, Queeren und Asexuellen aus den Zwängen der Heteronormativität – geweiht. Und er muss sich beeilen, zu leben. Denn eine dumme (Geschlechts-)Krankheit oder irgendein tragischer Messerzwischenfall kann dem Leben jäh ein Ende setzen.”
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Letztmals zum Buchpreis für das „Blutbuch” von diesem Bub mit dem Musical-Namen à la Claas Relotius.
Fairerweise will ich den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1991 in Erinnerung rufen, bei dem der „Babyficker”-Text des ebenfalls Schweizer Autors Urs Allemann („Ich ficke Babys. Ich kann nicht anders”) zur Wahl stand. Er gewann weiland immerhin den Preis des Landes Kärnten; eine Kärntner FPÖ-Politikerin nannte Allemanns Phantasie „die grösste preisgekrönte Schweinerei”, während der Spiegel-Kritiker Hellmuth Karasek, einer der Juroren, den Text verteidigte und erklärte, er hätte ihm sogar den ersten Preis gewünscht, „weil es in Klagenfurt keinen stärkeren Text gab”.
Wie wir wissen, ist der „Babyficker” längst ein Klassiker, das schmale Bändchen hat die Literatur revolutioniert und weltweit sein Publikum gefunden; es gibt kaum eine/n lebende/n Autor:*_In (m/w/d), der/die/das diese Prosa nicht bewundert und zu kopieren versucht. Innert der nächsten Dekade wird das „Blutbuch” dem einen literarischen Fick den anderen beigesellen und die Schweizer literarische Weltherr(!)schaft für den nächsten Äon begründen. Die starken Texte setzen sich am Ende einfach durch.
Denn: „Die Kunst ist über jeden Inhalt groß“ – mit diesem Zitat (lese ich auf einer Webseite, auf welcher die Kritiker der „Babyficker”-Preziose zu „Reaktionären” nobilitiert wurden) soll Karasek damals Rilke als Zeugen und Eideshelfer für den Kunstwert des Allemannschen Jahrhunderttextes angerufen haben, und dasselbe gilt auch für das „Blutbuch”. Ich weiß nur leider nicht, wo Rilke das geschrieben haben soll. Aber egal; dass dem Haudrauf von Schloss Duino sowohl der Hammer- als auch der Ambosstext gefallen hätte, steht ja außer Frage. Hier gilt’s der Kunst, ob nun binär oder nonbinär, „das ist ja gleich” (Mandryka, „Arabella”).
Wir bleiben bei den Künsten und dem Fortschritt im Umgang mit ihnen, wechseln nur das Genre. Jetzt soll es darum gehen, was van Gogh und Monet gefallen hätte.
In diesem Falle überlasse ich Leser *** das Wort:
„Wenn eine Jessica Kordouni als Rundfunkrat des NDR und Politkarikatur der Grünen die Beschädigung des Monet im Barberini und des van Gogh im London Museum auf Twitter rechtfertigt und behauptet, Kartoffelbrei und Tomatensuppe seien Kunst und damit nicht die Büchse Warhols meint, schreit sie nach mehr. Das ist keine Verteidigungsrede für die ignoranten Selbstdarsteller mehr, sondern ein öffentlicher Aufruf, gemeinhin Anstiftung genannt. Der Nachweis zur konkreten Tat wird sich nur schwer führen lassen. Aber man kennt doch den Begriff der psychischen Beihilfe, des Applaudierens. Und wer behauptet, Tomatensuppe oder Kartoffelbrei sei in dem gewählten Kontext ‚absolut Kunst’, gar Monet und van Gogh hätten den Protest gemocht, nimmt die Toten für sich in Anspruch, will sich an deren Größe messen lassen. Man möchte Frau Kordouni eine Torte ins parfümierte Gesicht klatschen und sehen, wie sie als Lebende reagiert.
Und wenn dann noch ein vom ZDF als Kunstexperte berufener Özdem Terli den Frevel als ‚Kunstaktion’ adelt, stehen wir unmittelbar vor dem letzten Akt des Zusammenbruchs westlicher Werte.”
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Allmählich geht mir dieser Hetzer auf den Keks.
Wie hier bereits ausgeführt, ist es ganz allein Deutschlands Sache und geht speziell Herrn Melnyk einen feuchten Kehricht an, woher es seine Energie bezieht – vor allem angesichts solcher parallel geäußerten Forderungen bzw. Phantasien, die von einer enormen Dreistigkeit bzw. exakter Kenntnis deutscher moralischer Hühneraugen bzw. von beidem zugleich zeugen.
Ich habe von Anfang an gesagt, dass Deutschland zu den großen Verlierern dieses Krieges gehören wird.
Wir werden von Leuten regiert, die Deutschlands Energieversorgung systematisch an Russland (Merkel) sowie das Zufallsprinzip der Erneuerbaren geknüpft – und die Atomkraft verteufelt – haben (Merkel, Grüne und Rote), zugleich keine Energie mehr aus Russland beziehen wollen und nun behaupten, Putin trüge die Schuld an der desolaten Versorgungslage. Die ukrainische Führung verlangt von Deutschland, einem wirtschaftlich schlingernden, von Energiekrise, kulturfremder Massenmigration und Morbus Habeck (auch: Grüner Star) schwer gezeichneten Land, das obendrein über eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat und die Ukraine sowohl mit Geld als auch mit schweren Waffen unterstützt, dass es auf russische Energie verzichten, also seine Wirtschaft weiter ramponieren bzw. ruinieren, aber zugleich der Ukraine sechs Milliarden Dollar pro Jahr spendieren soll. Das ist ungefähr so, als wenn ein havarierter Frachter am 14. April 23.59 Uhr von der „Titanic” Rettungsboote fordert.
Wobei der Witz darin besteht, dass die deutsche „Titanic” tatsächlich ein paar davon rausrücken wird. Noch hat die erste Klasse ja trockene Füße.
PS: Und die nächste Hyäne – pardon: Hyänin – naht.
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Zwei Meldungen aus Deutschland wird sich ändern, und ich freu’ mich drauf.
Text: „Die mutmaßliche Räuberbande soll im August eine 67-Jährige in Annaburg in Sachsen-Anhalt getötet haben. Die Frau wurde am 19. August tot in einem Einfamilienhaus gefunden. Kurz darauf soll die Bande einen 83-jährigen Mann in Berlin-Reinickendorf im Märkischen Viertel getötet haben. Ein Bekannter des Mannes hatte am 22. August die Leiche gefunden. Außerdem sollen die Verdächtigen zwischen dem 1. Juli und dem 1. September weitere alte Menschen in ihren Wohnungen in Berlin überfallen und zum Teil schwer verletzt haben. (…) Die gefassten Verdächtigen wohnen in Berlin und haben den Angaben zufolge teilweise die serbische und deutsche Nationalität.”
Unsere Nanny für Inneres, Nancy, wird eine Task Force einrichten, die sich denjenigen widmet, die aus solchen Meldungen falsche Schlüsse ziehen.
Im Übrigen wird sich die Öffentlichkeit des besten Deutschland ever auch daran gewöhnen, wenn das Ausspähen von einsamen Rentnern mit finalem Einbruch bei ihnen daheim, um ihnen Wertsachen und ggfs. das Leben zu rauben (sie müssen daheim sein, damit sie verraten, wo die Wertsachen liegen), zum Existenzmodell einer gewissen Klientel und damit zum Nebentrend im Haupttrend der Generalverbuntung jenes Landes wird, das diese Rentner einst aufgebaut haben.
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Ein Leser macht mich auf einen Zahnarzt aufmerksam, der ein Tätigkeitsverbot von seinem Landkreis (Wesermarsch) erhalten hat, weil er sich nicht impfen lässt, was der Mann mit einer sein Herz-Kreislauf-System betreffenden medizinischen Kontraindikation begründet: „Ich bin als Mediziner nicht dazu bereit, mich diesem Risiko auszusetzen.” Zumal man zuvor ein Formular unterzeichnen müsse, in dem geschrieben steht, dass seltene Nebenwirkungen vorkommen könnten und man das akzeptiere.
Sodann erläutert der querulantische Dentist, welche Vorsichtsmaßnahmen er in seiner Praxis getroffen hatte: ständiges Maskentragen, Sterilisierung der Luft, Behandlung der Luft mit Ozon, tägliche Corona-Tests bei sich selbst. Nebenher weist er darauf hin, dass die Impfung vor Ansteckung nicht schütze und außerdem die Versorgung der Bevölkerung stark eingeschränkt werde, wenn man seine Praxis schließe. Resümee: „Für mich ist das eine wirtschaftliche Vernichtung. Ich werde trotzdem nicht gegen meine Überzeugung als Arzt handeln, denn was wäre ich dann für ein Arzt?”
Aus der Perspektive eines nordwestdeutschen Qualitätsjournalisten liest sich das so:
Deswegen sei der mit Berufsverbot bedachte Giftspender hier zitiert:
„Ich finde, bevor ein Staatsdiener, der letzten Endes ein Mitesser ist und davon lebt, dass andere Leute das Geld erwirtschaften, das er oder sie nachher erhält, und letzten Endes aus meiner Sicht, verzeihen Sie mir die Aussage, berufliches Fallobst ist, der nicht schafft, sondern nur verwaltet, mir ins Gesicht sagt, ich könnte ja die viereinhalb Monate abwarten, es (das Verbot) sei ja nur bis Ende des Jahres gültig, und meint, dass ich danach weiter arbeiten kann, dann fehlt mir jedes Verständnis. Zu sagen, ich könnte jetzt viereinhalb Monate Urlaub machen, danach darf ich ja weiterarbeiten, das ist nicht nur ein Spuck ins Gesicht, sondern es ist einfach so unhaltbar dumm, dass es eigentlich für mich nicht vorstellbar ist, dass man so eine Dummheit an den Tag legen kann.”
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Apropos.
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Am 11. und 12. Oktober lag die Corona-Inzidenz zu München bei knapp 1500, inzwischen ist sie, Stand heute, auf 269 gesunken. Erstmals seit Mitte September lag sie in Bayern wieder unter dem Bundesdurchschnitt, meldete dpa am 21. Oktober, nämlich bei 635,6. Es scheint, das Oktoberfest – Durchseuchung bis zur Herdenimmunität – entfaltet seine Wirkung?
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Hier spricht der Sponsor.
Fälschungsfluten: Die San-Marzano-Tomate. Hier die echte.
Wenn Lebensmittelspezialitäten, die aus engbegrenzten Anbaugebieten oder Weideflächen stammen – wie etwa die San-Marzano-Tomate oder der Jamón Ibérico de Bellota sich einen Ruf (und einen entsprechenden Preis) erworben haben, dann widerfährt ihnen eine ganz wundersame, geradezu explosive Vermehrung: Sie füllen alsbald die Supermarktregale und die Speisekarten in aller Welt. Fast 100 Prozent der so ausgelobten Ware ist getürkt. Bei der San-Marzano, der unbestrittenen Geschmackskönigin aller Saucen-Tomaten, kann der Kundige allerdings leicht die Spreu vom Weizen trennen: Die berühmte DOP-Tomate aus Salerno am Fuße des Vesuv ist nur echt, wenn die Dose folgende Merkmale zeigt: Aufschrift: »Pomodoro San Marzano dell’Agro Sarnese Nocerino« und das D.O.P zeichnet je einzelne Dose mit einer Nummer in diesem Format aus »N ° XXXXXXX«. Hier gibt’s die echte.
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(Das war eine Anzeige.)
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Symbole spielen im politischen Leben seit jeher eine bedeutende Rolle, und wenn mein Eindruck nicht trügt, befindet sich der sich wunder wie aufgeklärt dünkende Westen mitten in einer Regression zurück zu Totem und Tabu.
Bislang genoss das Hakenkreuz das Privileg, als Symbol des germanomorphen Leibhaftigen Entsetzen und Fassungslosigkeit zu verbreiten. Aber plötzlich wankt auch, zumindest im Strafgesetzbuch, die Singularität des Holocaust.
„Weil diesem Land eine liberale Tradition fehlt, fehlt es auch an einer Debatte über das Recht auf Irrtum. Ohne Recht auf Irrtum gibt es keine Meinungsäußerungsfreiheit. Ohne Meinungsäußerungsfreiheit stirbt die Demokratie”, schreibt Leser ***. Klar, wer sich den Demos vom Halse schaffen will, muss so vorgehen. Wahrscheinlich wird es bald auch bei Strafe verboten sein, darüber zu diskutieren, ob die deutsche Schutztruppe 1904 tatsächlich einen „Völkermord” beging, als sie die Herero und Nama in die Omaheke-Trockensavanne trieb.
Politische Symbole können Massen mobilisieren, verbinden und auf ein Ziel ausrichten. Zugleich können sie irritieren, Aversionen auslösen, als Gorgoneion wirken. Seit jeher verteidigt Homo sapiens die Feldzeichen der eigenen Gruppe und schändet die Symbole des Gegners. Man sieht das sehr schön beim öffentlichen Schwenken oder Verbrennen von Fahnen. Aber der Mensch der Moderne, der gern alles ironisiert, verwechselt doch nicht das Symbol mit der Sache, den Begriff mit dem Gegenstand? Doch, genau das tut er (inzwischen wieder). Auf „böse” Symbole und Begriffe reagiert der „Jetztsasse” (Thomas Kapielski) mit zuerst ohnmächtigem und dann aggressivem Entsetzen, ungefähr wie ein Polynesier auf die Schlachtung seines Totemtieres. Das magische Denken, die Ineinssetzung von Symbol und Sache, ist zurückgekehrt. Probieren Sie es, nein, nicht gleich mit einem Hitlergruß, es genügt das Tragen eines Abzeichens in den Farben des Kaiserreichs auf dem Bundespresseball. Oder schminken Sie Ihr Gesicht schwarz und rufen Sie laut „Ich bin ein Neger!” in der Kantine der Zeit. In Chemnitz wurde vor dreizehn Jahren ein funkelnagelneues Wandbild übermalt, weil darauf ein Keltenkreuz zu sehen war. Interessanterweise lösen Hammer und Sichel oder der Sowjetstern nicht im Ansatz vergleichbare Reaktionen aus, sondern nur „rechte” Symbole. Totemistisch empfinden offenbar vor allem Linke. (Natürlich ist der Anteil derer, die ihr Entsetzen lediglich aus taktischen Gründen vorspielen, bei uns weit größer als bei den achtbaren Polynesiern.)
Soeben ist ein Lexikon der politischen Symbole erschienen – es gab bislang kein Nachschlagewerk dieser Art* –, verfasst von dem beneidenswert belesenen Karlheinz Weißmann, und ich schmökerte stundenlang mit Pläsier darin. Zum Schmökern lädt der 600-Seiter mit seinen 200 Einträgen und 1700 Abbildungen wahrlich ein, auf jeder Seite gibt es etwas zu entdecken und zu lernen.
Es stimmt ja, der öffentliche Raum ist heute von politischer Symbolik durchsetzt wie zu allen Zeiten. Die Regenbogenfahne zum Beispiel ist beinahe so omnipräsent wie die rote Fahne in der DDR und die Hakenkreuzflagge im Dritten Reich – inzwischen weht sie sogar vor Regierungsgebäuden –, und ihr Anspruch ist ja vergleichbar allumfassend. Neuerdings tritt ihr die Ukrainefahne zur Seite und ein bisschen ins Feld; bald aber sollte die kunterbunte auch die blau-gelbe Fahne verdrängt haben. „Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges”, orakelt Leser ***, „werden die ukrainischen Soldaten das Land nicht mehr wiedererkennen, für dessen Existenz sie ihr Leben riskiert haben; wenn die erste ‚Love-Parade’ in Kiew an ihnen vorbeizieht, dann werden sie begreifen, wofür sie gekämpft haben.”
In meiner Teenagerzeit lief ich, damals in Ostberlin, mit dem Anti-Atomkriegs-Zeichen auf dem Rücken meiner grauen Jacke herum, um die Genossen zu ärgern, das war übrigens meines Wissens das einzige politische Symbol, dessen ich mich jemals bewusst und freiwillig bediente (sofern man das AfD-Logo auf meinen Chemnitzer Wahlkampfplakaten ausnimmt). Während die meisten Symbole sehr alt sind – Hexagramm und Pentagramm zum Beispiel existieren seit Urzeiten –, stammt das Anti-Atomkriegs-Zeichen aus den frühen 1950er Jahren, es erlebte nur eine kurze Blüte und war um die Jahrtausendwende jenseits der Ostermärsche so gut wie verschwunden. Aber, der Krieg macht’s möglich, im März dieses Jahres hat der Bundesliga-Verein VfL Wolfsburg seinen Mittelkreis so gekreidet, und andere Stadien zogen nach, in diesem Falle Köln.
Wir sprachen eben von einer Fahne und von einer geometrischen Form; damit wären die beiden Hauptkategorien politischer Symbolik benannt: Farben und Zeichen. Allein der Farbe Orange widmet Weißmann 14 Seiten (Schwarz-Rot-Gold bringt es auf 15, es siegt aber Rot mit noch einer halben Seite mehr). Diese „Farbe zweiten Ranges” machte ihre eigentliche Karriere erst in jüngster Zeit, was, notiert der Historiker, „wahrscheinlich mit der Veränderung des allgemeinen Farbgeschmacks durch die Popkultur der sechziger und siebziger Jahre zu tun” habe. Am bekanntesten ist die „Orange Revolution” in der Ukraine. Aber auch in Indien spielt „Safrangelb” eine wichtige Rolle, vor allem als Farbe der 1925 gegründeten hinduistisch-nationalistischen RSS. In Europa verband sich die Farbe begrifflich mit dem Haus Oranien, niederländisch Oranje (bis heute trägt die Fußball-Nationalmannschaft der Holländer orangfarbene Trikots), französisch Orange. „Seit dem 12. Jahrhundert gehört Orange zum Heiligen Römischen Reich, im 16 Jahrhundert kam es durch Erbgang an die Grafen von Nassau-Dillenburg. Spätestens jetzt wurde die Verknüpfung von Namen und Farbe so eng, daß daraus eine entsprechende Symbolik abgeleitet werden konnte. (…) Wenn sich die Farbgebung bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in Richtung Rot-Weiß-Blau verschob, hatte dies vor allem mit dem wachsenden Widerstand gegen das Haus Oranien in den unabhängig gewordenen Generalstaaten zu tun.”
Ich wählte die Farbe Orange als Beispiel, als ein Pars pro toto. Hier ein Blick ins Buch, zur Geschichte des schlimmsten aller Symbole.
In der Einleitung sinniert Weißmann darüber, was angesichts der „Unübersichtlichkeit der politischen Symbolik” sowie des „inflationären und chaotischen Gebrauch(s) des Wortes ‚Symbol’ ” überhaupt symbolfähig sei. Es kommt ja einiges in Frage: Wappen, Logos, Orden, Medaillen, Schmuck, verschiedenste Arten von Kleidung, vor allem Tracht und Uniform, Bart- und Haartracht, Körperbemalung bzw. – inzwischen wieder sehr en vogue – Tätowierung, Fahnen, Plakate, und das alles miteinander vermischt. Bei den bildhaften Symbolen dominieren neben rein graphischen wie dem Hakenkreuz, dem Stern oder dem Halbmond vor allem Tiere, voran das womöglich älteste und universellste von allen, der Drache, gefolgt von Adler, Löwe, Bär und Eber.
Zur symboltauglichen Kleidung gehört die sogenannte phrygische Mütze.
Naheliegenderweise beziehen sich Tiersymbole auf besonders kräftige, gefährliche oder schöne Tiere. Aber es gibt Ausnahmen. „Der Esel ist aus naheliegenden Gründen als politisches Symbol kaum geeignet, er gilt traditionell als Verkörperung der Dummheit bestenfalls der Demut, wenn man ihn in Zusammenhang mit der christlichen Überlieferung bringt. Dass er dennoch seit dem 19. Jahrhundert als Zeichen der Demokratischen Partei in den USA Verwendung findet, zeugt von einem hohen Maß an Selbstironie.”
Hätten Sie’s gewusst?
(Das Buch können Sie hier bestellen.)
* Leser *** korrigiert, dass dtv bereits 1972 ein solches Lexikon herausgebracht hat, das freilich nur noch antiquarisch zu erwerben ist.
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Jemand sagte: „Ein Moslem, der behauptet, er achte das Grundgesetz mehr als die Gebote des Islam, ist kein Moslem mehr und belügt entweder uns oder seinen Gott.”
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Long Covid bleibt Handarbeit!
Niemals würde ich eine Margarete attackieren! (Nur die Frage sei wiederholt, warum man nie etwas von Long Covid bei Selbständigen hört.)
PS: „Long Covid scheint tatsächlich eine sehr selektive Krankheit zu sein”, notiert Leser *** und verweist auf einen WDR-Beitrag. „Ein paar Auszüge daraus beantworten schon mal Ihre Frage:
‚[…], dass vor allem Menschen in Verwaltungsberufen, Lehrberufen oder im Beamtentum sich signifikant häufiger bei uns vorstellten, als Patientinnen und Patienten, die eher handwerkliche Berufe haben – also Berufe wie Bauarbeiter oder Berufe mit starker körperlicher Arbeit.’
‚Wir konnten als Risikofaktor identifizieren, dass vor allem Patientinnen und Patienten, die schon psychologisch-psychatrische Vorerkrankungen hatten, besonders anfällig für Long-Covid sind.’
Das würde z.B. sehr gut erklären, warum Frau Stokowski, die nach eigener Einschätzung ja einen an der Klatsche hat, so von ‚Long-Covid’ gebeutelt ist.”
Eine Komma-Allergie hat sie auch noch.
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Manchmal ist sogar die Wikipedia komisch.
Sein Geschäft befand sich zwischen denen eines ultraorthodoxen syrischen Schuhverkäufers und eines radikalmarxistischen jemenitischen Kesselflickers.
PS: Diesen Jux in den falschen Hals bekommen hat Leser ***; er schreibt: