Heute soll unser Interesse der Frage gelten, ob die Nationalsozialisten Sozialisten waren. Auf den ersten Blick ist das eine recht absurde Frage, denn die Antwort steckt ja schon im Namen: National-Sozialisten. Ein Kompositum besteht aus dem Grundwort und dem Bestimmungswort, das Grundwort lautet: Sozialismus. Um es loszuwerden – und keineswegs nur, weil es bequemer ist und plastischer klingt –, hat sich die Bezeichnung „Nazis“ durchgesetzt. Oder wahlweise, wie in der DDR, im gesamten Ostblock und bei westlichen Linken, der irreführende Aliasbegriff „Faschisten” bzw. „Faschismus”.
Als ich gemeinsam mit Jan von Flocken das 1991 bei Ullstein erschienene Buch „Stalins Lager in Deutschland” schrieb, das sich unter anderem mit der Weiternutzung der Nazi-Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen durch die Sowjets beschäftigte, stellten wir das erste Kapitel unter die Überschrift „Die Austreibung des Faschismus mit dem Stalinismus” und statuierten: „Das verhängnisvolle Zusammenfallen von Antifaschismus und Stalinismus wurde der entscheidende Faktor bei der Installierung eines neuen Unrechtsregimes im Ostteil Deutschlands.”
Ein Rezensent der FAZ schrieb damals noch, man erkenne an der gewählten Begrifflichkeit – „Faschismus” statt Nationalsozialismus – die in der DDR Sozialisierten (übrigens auch an der Formulierung „Ostteil Deutschlands”; die Erwähnung der wirklichen Ostgebiete war in der Zone tabu, dort lebten ja „Brudervölker“). Die DDR-Vögte haben den Begriff Nationalsozialismus nicht nur nicht verwendet, sondern aus einer Art Inzestscheu mit einem Tabu belegt; dortzulande war stets die Rede vom „Faschismus” oder „Hitlerfaschismus”. Und heute kehrt die DDR-Sprachregelung sukzessive zurück, zunächst einmal, um den Sozialismus weißzuwaschen, außerdem um dem „Antifaschismus” seinen extremistischen Hautgout zu nehmen und ihn dem Publikum als legitimen Verbündeten der sich selbst so titulierenden „demokratischen Parteien” gegen die mindestens kryptofaschistische Opposition zu verkaufen.
Jedenfalls ähnelt die Situation insofern jener in der DDR, als sich die roten Freiheitsfeinde wieder durch ihr Antipodentum zu den braunen zu legitimieren suchen, was heute noch grotesker ist als seinerzeit, denn damals gab es immerhin noch geschlagene Nazis, während die heutigen fast samt und sonders halluzinierte sind. Wieder bezeichnen sich die Herrschenden als „Antifaschisten” und rücken die Konservativen, Rechten, Nationalen, Libertären, überhaupt jede Opposition in die Nähe irgendeines nicht näher definierten „Faschismus”. Deswegen kann Nanny Faeser Gastbeiträge in Antifa-Periodika schreiben und als Ministerin den Linksextremismus zur Petitesse downgraden, denn aus ihrer Sicht handelt es sich ja um die eigene Bodentruppe im Kampf gegen die AfD, Querdenker, „Reichsbürger”, Prepper, Kapitalisten, Waffenbesitzer, Meinungsfreiheitsfrömmler und Rechtsstaatsfanatiker.
Es ist deshalb in gewissen, durchaus maßgebenden Kreisen nicht erwünscht, dass die Frage, ob die Nationalsozialisten Sozialisten waren, überhaupt gestellt wird. Und wer dann auch noch behauptet, dass es sich so verhält, kann schnell in Schwierigkeiten geraten.
Während des ZDF-Films „Die Wannseekonferenz“, ausgestrahlt am 24. Januar dieses Jahres zum 80. Jahrestag der Konferenz, twitterte die Journalistin Anna Dobler: „Das waren nicht nur Mörder, sondern auch durch und durch Sozialisten.“
Der Twittermob reagierte prompt und warf der Journalistin Geschichtsrevisionismus vor. „Das sind Argumente von Rechtsextremen“, erklärte beispielsweise ein Politikwissenschaftler namens Florian Bieber. Doblers Arbeitgeber, das österreichische Boulevardportal Exxpress, distanzierte sich umgehend und kündigte seiner Autorin fristlos – so verhalten sich Polynesier nun mal, wenn man ihrem Totemtier zu nahe tritt. In einer Stellungnahme von Chefredakteur und Herausgeberin hieß es: „Wir wollen nicht, dass unsere Redaktion, unser ganzes Team auch nur mit dem geringsten Verdacht einer möglichen Relativierung des Nationalsozialismus belastet wird. Wir wollen nicht, dass die Sozialdemokratie derart falsch beschuldigt wird, wir wollen nicht, dass gute Freunde aus der Sozialdemokratie per Tweets gekränkt werden. (…) Wir wollen auch nicht, dass Redakteure mit dieser Meinung bei uns weiter ihren Dienst versehen.“ Dass dieser Text mit einem „Heil Vielfalt!“ schloss, ist allerdings nur ein Gerücht.
Nationalsozialisten waren keine Sozialisten, wer was anderes sagt, kränkt die Sozialdemokratie und „relativiert” den Nationalsozialismus – die Absurdität dieses Statements wird lediglich überboten von der reflexartigen Beflissenheit, mit welcher es abgegeben wurde. Es handelt sich also offenbar um ein heikles Thema. Nähern wir uns ihm mit heiligem Ernst.
Zunächst einmal: Was bedeutet der Begriff „Sozialismus” im Kern, was haben alle Sozialisten gemeinsam? Es sind drei Aspekte, die eng zusammengehören und auch bestens zusammenpassen. Erstens: Sozialisten verlangen das Primat des Staates gegenüber der Wirtschaft. Zweitens: Sie wollen die Menschen in ihrem Machtbereich sozialisieren, das heißt: dem Staat unterwerfen, entprivatisieren, entindividualisieren, zu gleichen, gehorsamen Gliedern der Gesellschaft machen. Das Kollektiv – ob nun die Klasse, die Volksgemeinschaft oder die Gemeinschaft der Woken – ist alles, du bist nichts, lautet ihre Maxime. Drittens: Sie glauben, dass die Entwicklung der Gesellschaft menschlicher Planung zugänglich ist und deshalb keineswegs dem Zufall – etwa dem chaotischen Markt – überlassen werden darf.
Sodann müssen wir fragen, wie Hitler und die Seinen die Sache selber sahen. Die Frage: Waren die Nazis Sozialisten? muss nach den heute geltenden Maßstäben eigentlich lauten: Empfanden sich die Nazis als Sozialisten? Und da ist die Antwort recht eindeutig.
Bereits das 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 verkündete als Motto „Gemeinnutz vor Eigennutz“ und fordert u.a. die Verstaatlichung von Betrieben – wörtlich hieß es etwas wirr „Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trust) Betriebe“ –, Gewinnbeteiligung an Großbetrieben sowie eine Bodenreform.
In einer Rede zum 1. Mai 1927 erklärte Hitler: „Wir sind Sozialisten, wir sind Feinde der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung für die Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen.”
„Wir sind Sozialisten“, echote Joseph Goebbels am 16. Juli 1928 im Angriff und führte aus: „Der Sozialismus ist die Befreiungslehre des Arbeitertums”, der „Aufstieg des vierten Standes und seine Einfügung in den politischen Organismus unseres Vaterlandes” sei „unlösbar mit der Brechung des gegenwärtigen Sklavenzustandes und der Wiedergewinnung der deutschen Freiheit auf das Innigste verknüpft” (…)
„Es war die Sünde des liberalen Bürgertums, im Sozialismus die staatsbildenden Kräfte zu übersehen und damit seine formgebende Energie in antinationalen Tendenzen leerlaufen zu lassen. Es war die Sünde des Marxismus, den Sozialismus zu einer Lohn- und Magenlehre zu degradieren und ihn damit in einen Gegensatz zum Staat und zur Verfechtung seiner nationalen Existenz hineinzumanövrieren. Aus diesen beiden Erkenntnissen heraus folgern wir die begriffliche und politische Bestimmung des Wesens eines neuen sozialistischen Gefühls, das seiner Natur nach nationalistisch, staatsbildend, befreiend und aufbauend ist.”
Am Abend der Märzwahl 1933 sagte der Führer in kleiner Runde, verärgert darüber, dass seine Partei die absolute Mehrheit verfehlt hatte, solange Hindenburg lebe, werde er diese konservative „Bande” nicht los. Was ihn an den alten Eliten abstieß, war keineswegs deren Nationalismus, sondern ihr besitzbürgerlicher Antisozialismus. Hitler nahm den Begriff Nationalsozialismus wörtlich: „Sozialismus kann nur sein im Rahmen meines Volkes”, erklärte er, denn es gebe „nur annähernd Gleiche in einem Volkskörper in größeren Rassegemeinschaften, aber nicht darüber hinaus.”
In seiner Schlussrede auf dem Reichsparteitag von 1933 erklärte Hitler, die von ihm verlangte Heranbildung einer neuen Elite „aus allen verschiedenen Ständen, Berufen und sonstigen Schichtungen“ sei „in Wahrheit eine sozialistische Handlung“, denn wenn „das Wort Sozialismus überhaupt einen Sinn haben soll, dann kann es nur den haben, in eiserner Gerechtigkeit (…) jedem an der Erhaltung des Gesamten das aufzubürden, was ihm dank seiner angeborenen Veranlagung und damit seinem Werte entspricht“.
Hitler hatte immer ein großes Interesse an der sogenannten sozialen Frage gezeigt; so erklärte er bereits im August 1920, er glaube nicht, „dass auf Erden ein Staat bestehen könne mit dauernder innerer Gesundheit, wenn er nicht aufgebaut wird auf sozialer innerer Gerechtigkeit“. Das Schicksal des Bürgertums, dessen Mission er für beendet und das er dem Marxismus gegenüber für heillos unterlegen hielt, war Hitler vollkommen gleichgültig; insofern war er jedenfalls kein Faschist im Sinne der Definition von Wolfgang Venohr: „Faschismus, das ist die bürgerliche Gesellschaft im Belagerungszustand.”
„Ich bin Sozialist, weil es mir unverständlich erscheint, eine Maschine mit Sorgfalt zu pflegen und zu behandeln, aber den edelsten Vertreter der Arbeit, den Menschen selbst, verkommen zu lassen“, sprach der „Führer“ anno 1935. Dieses Zitat platzierte die Deutsche Arbeitsfront neben ihre Losung: „Jeder Schaffende gehört in die D.A.F.“
Auf einer NSDAP-Veranstaltung am 16. Februar 1923 hatte Hitler bereits angekündigt: „Das Kapital muß Dienerin des Staates werden und nicht die Beherrscherin.“ Ähnlich äußerte er sich am 24. April desselben Jahres: „Das Kapital ist nicht die Herrin des Staates, sondern sein Diener.“ Im Juli 1930 sagte er zu seinem Vertrauten Otto Wagener, in der „Kampfzeit” Stabschef der SA und später Mitglied des Reichstages: „Wir leben mitten in einer Wende, die vom Individualismus und Wirtschaftsliberalismus zum Sozialismus führt.“ In einer Rede am 13. November desselben Jahres heißt es: „Im gesamten Wirtschaftsleben, im Gesamtleben an sich wird man aufräumen müssen mit der Vorstellung, daß der Nutzen des einzelnen das Wesentliche ist (…). Das Umgekehrte ist richtig. Der Nutzen der Gesamtheit bestimmt den Nutzen der einzelnen.“
Verweilen wir kurz bei diesem Herrn Wagener. 1978 erschien bei Ullstein postum sein Buch „Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929–1932“. Wagener, Jahrgang 1888 – er starb 1971 –, ist heute nur deshalb eher unbekannt, weil es 1933 ein Zerwürfnis mit dem „Chef” gab, das ihn aus dem Inner Circle schied. „Durch sein eigenwilliges Auftreten und sein besonderes Verhältnis zu Hitler machte sich Wagener unter den N.S.-Größen eine Reihe von Feinden. Der wichtigste davon war Hermann Göring, der anscheinend maßgeblich an seinem Sturz beteiligt war”, notiert der Herausgeber. Nach dem Krieg brachte Wagener seine Erinnerungen zu Papier.
Darin finden wir auf S. 290 folgenden Gedanken des damals noch Führers in statu nascendi: „Der Jude ist kein Sozialist! Schon einmal hat er den großen Schöpfer der sozialistischen Erlöser-Idee ans Kreuz geschlagen! Er wird es stets wieder tun, wenn er es kann! Denn er ist Individualist, Wirtschaftsliberalist, Egoist.“
Danach wird Hitler zitiert mit den Worten: „Wenn nämlich erst die Nationen begonnen haben, innerhalb ihrer eigenen Grenzen eine sozialistische und sozialwirtschaftliche Neuordnung durchzuführen, dann kommt der Augenblick, dass die Gesamtheit der Nationen, also alle Völker und Staaten, davon abkommen, unter sich nach liberalistischen Grundsätzen um Macht und Vorherrschaft, Versklavung und Ausnutzung zu kämpfen, also nach imperialistischen Gesichtspunkten zu handeln, sondern dass auch unter ihnen Rücksichtnahme, Gemeinschaftsgeist, eben ‚Sozialismus’ herrscht. Was im kleinen erst innerhalb der einzelnen Völker vor sich ging, das wird dann innerhalb der ganzen Völkergemeinschaft der Erde vor sich gehen. Auch die Kleinsten werden Gleichberechtigung haben, auch die Habenichtse werden Anteil nehmen können an den Gütern und am Überschuss des Weltbesitzes der Großen. Das ist dann der Sozialismus der Völker!“
Wagener resümiert: „Wir waren die wirklichen Sozialisten Deutschlands. Sozialdemokraten und Kommunisten maßten sich diese Bezeichnung nur zu Unrecht an. Der deutsche sozialistische Gedanke wurde durch uns vertreten, nicht durch die anderen Parteien, die sogenannten Linksparteien.“
Nach der Machtergreifung, in seiner Ansprache zum „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933, verkündete der Führer als das Ziel seiner Regierung: „Wir wollen wiederherstellen das Primat der Politik.“ In seiner Rede zur Begründung des Ermächtigungsgesetzes zwei Tage darauf heißt es: „Das Volk lebt nicht für die Wirtschaft, und die Wirtschaft existiert nicht für das Kapital, sondern das Kapital dient der Wirtschaft und die Wirtschaft dem Volk!“ In einer Reichstagsrede am 21. Mai 1935 kündigte er an, Deutschland werde „nur durch eine planmäßig geleitete Wirtschaft“ den Weg in die ökonomische Selbständigkeit finden. In einer Rede zum Erntedankfest am 6. Oktober desselben Jahres versicherte er seinen Zuhörern und tags darauf den Lesern des Völkischen Beobachters: „Wir kommen ohne Plan nicht aus.“ In der Eröffnungsrede zum Reichsparteitag 1936 sprach sich der Führer gegen die „Zügellosigkeit einer freien Wirtschaftsbetätigung“ aus.
Wie der Herr, so das G’scherr. Die Gazette Der SA-Mann, „Organ der Obersten SA-Führung der NSDAP“ zu München, erschien am 7. Dezember 1935 mit der Schlagzeile „Der Sozialismus marschiert“ auf der Titelseite. Die Innsbrucker Nachrichten vom 28. März 1938 machten auf mit: „Hermann Göring verkündet die Rettung: Gigantischer Aufbau Deutschösterreichs. Sofortige Maßnahmen zur restlosen Beseitigung der Arbeitslosigkeit. – Sozialismus wird zur Tat.“
Marxisten pflegen an dieser Stelle triumphierend auszurufen, dass Hitler aber das Kapital nicht enteignet und das Privateigentum – jenes der Juden ausgenommen – weitgehend unangetastet gelassen habe. Das stimmt, und stimmt zugleich auch nicht. Die Nazis stellten das Privateigentum unter Kuratel. Sie verfügten über die Wirtschaft. Namentlich Hitler drohte den Unternehmern wiederholt mit Sanktionen oder Enteignung. Ein paar Beispiele.
In seiner Rede zur Eröffnung der Internationalen Automobilausstellung am 20. Februar 1937 forderte er, das Reich müsse bei der Treibstoff- und Gummiherstellung binnen zweier Jahre vom Ausland unabhängig werden: „Entweder die sogenannte freie Wirtschaft ist fähig, diese Probleme zu lösen, oder sie ist es nicht fähig, als freie Wirtschaft weiterzubestehen!“
Goebbels notierte am 16. März 1937 in sein Tagebuch: „Beim Führer Mittag. Große Tischrunde: es geht mächtig gegen die sogen. Wirtschaftsführer los. Sie haben keine Ahnung von wirklicher Nationalökonomie. Sie sind dumm, egoistisch, unnational und borniert eingebildet. Sie möchten gerne den 4 Jahresplan sabotieren aus lauter Feigheit und Denkfaulheit. Aber sie müssen nun.“
Am 8. September 1937 notierte Goebbels, der Führer habe auf dem Parteikongress „gegen wirtschaftliche Eigenmächtigkeiten” gewettert: „Wehe der Privatindustrie, wenn sie nicht pariert. 4Jahresplan wird durchgeführt.” Im Mai desselben Jahres hatte Hitler im Duktus einer späten großen Amtsnachfolgerin erklärt: „Ich sage der deutschen Industrie zum Beispiel: ‚Ihr müßt das jetzt schaffen’. … Wenn mir die deutsche Wirtschaft antworten würde: ‚Das können wir nicht’, dann würde ich ihr sagen: ‚Gut, dann übernehme ich das selber, aber das muß geschafft werden.’ ”
Alles nur Worte und Schaumschlägerei? Schauen wir auf die Taten der nationalsozialistischen Regierung.
1934 trat im Reich der „Neue Plan“ in Kraft, der die Kontrolle des gesamten Außenhandels durch 25 nach Branchen unterschiedene „Überwachungsstellen“ anordnete. Der Staat übernahm damit das Außenhandelsmonopol und entschied über sämtliche Investitionen – und das, ohne die Unternehmen zu enteignen.
Ebenfalls 1934 wurde das „Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit“ verabschiedet, dessen Inkrafttreten das Wirtschaftsleben praktisch gleichschaltete. Der Unternehmer besaß zwar innerbetrieblich uneingeschränkte Weisungsbefugnis, war jedoch an die Vorgaben eines „Treuhänders der Arbeit“ gebunden, eines Staatsbeamten, der Arbeitszeiten, Lohnhöhe und die konkrete Arbeitsgestaltung diktieren konnte. Das Gesetz stärkte zugleich die Befugnisse des Staates und schwächte die Rechte von Unternehmern und Arbeitnehmern.
Im Dritten Reich wurden Löhne und Preise staatlich festgelegt; seit 1936 gab es einen „Reichskommissar für die Preisbildung“. Unternehmer, die staatliche Planvorgaben missachteten, konnten sich vor dem Volksgerichtshof wiederfinden.
Als Sozialist und Sozialdarwinist in Personalunion schwankte Hitler in seiner Wirtschaftspolitik zwischen dem Zulassen von Privatinitiative und der Verstaatlichung, im Laufe der Jahre mit Tendenz zu Letzterer. Am 26. Juli 1942 sagte er im Tischgespräch, der NS-Staat könne „der Privatinitiative deshalb eine viel größere Freiheit lassen, weil eben der Staat sich jederzeit Eingriffsrechte vorbehalte. Der Staat soll aber nicht selbst die Privatwirtschaft in die Hand nehmen; denn das würde zu einer entsetzlichen Verbeamtung und damit Erstarrung der bearbeiteten Gebiete führen. Der NS-Staat möge im Gegenteil soweit als möglich die Privatinitiative fördern.“ Ihm schwebte ein staatlich dirigierter Kapitalismus vor, mit vergesellschaftlichten Bodenschätzen und Schlüsselwirtschaften. Tatsächlich sprach sich Hitler für die Sozialisierung der großen Aktiengesellschaften, der Energiewirtschaft sowie von Wirtschaftszweigen aus, die „lebensentscheidende“ Rohstoffe produzieren, zum Beispiel die Stahl- und Eisenindustrie.
In einer Rede zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Eisenbahn anno 1935 pries der Diktator die Reichsbahn als „das erste ganz große sozialistische Unternehmen“ und stellte sie „den Gesichtspunkten der Vertretung reinkapitalistischer Eigeninteressen“ gegenüber. Die Reichsbahn sei der lebendige Beweis dafür, dass man sehr wohl ein Gemeinschaftsunternehmen betreiben könne ohne privatkapitalistische Tendenz und ohne privatkapitalistische Führung. Welchen schrecklichen und zugleich höchst unprofitablen Zwecken die Staatsbahn später dienen sollte, ahnte er damals wahrscheinlich selbst noch nicht.
„Das Wirtschaftsministerium hat nur die nationalwirtschaftlichen Aufgaben zu stellen und die Privatwirtschaft hat sie zu erfüllen. Wenn aber die Privatwirtschaft glaubt, dazu nicht fähig zu sein, dann wird der nationalsozialistische Staat aus sich heraus diese Aufgabe zu lösen wissen“, stellte der Führer in seiner Denkschrift zum Vierjahresplan 1936 klar. „Dann wird nicht Deutschland zugrunde gehen, sondern es werden dies höchstens einige Wirtschaftler.“
Mit der Eisen- und Stahlindustrie, diesen kriegswirtschaftlich entscheidenden Branchen, lag die NS-Regierung ständig im Clinch. Das hing im Wesentlichen damit zusammen, dass die Förderung deutscher Erze wegen ihres Verunreinigungsgrades unprofitabel war. Hitler drohte am 17. Dezember 1936 in einer Rede vor Industriellen: „Das Wort unmöglich gibt es hier nicht, ich werde nicht länger die Praxis des Kapitalismus dulden, sich Besitztitel für Bodenschätze zu verschaffen, die man dann ungenutzt liegen lässt, weil ihr Abbau nicht profitabel erscheint. Erforderlichenfalls werde ich solche Vorkommen vom Staat beschlagnahmen lassen.“ Hermann Göring sekundierte seinem Chef am 16. Juni 1937 in einer Rede vor Stahlunternehmen mit der Ankündigung, wenn sie sich weiterhin weigerten, dann „nehmen wir Ihnen das Erz ab und machen es selbst“.
Im Krieg wurde der Ton noch schärfer. In Goebbels Tagebuch heißt es unter dem 14. Februar 1942, der Führer habe erklärt, „daß die Unternehmer, die sich den von uns gegebenen Richtlinien nicht fügen wollen, ihre Betriebe zu verlieren haben, ohne Rücksicht darauf, ob sie dabei wirtschaftlich zugrunde gehen“.
Natürlich setzte Hitler sich durch. Zur Ausbeutung geringwertiger Eisenerze, die nur ungenügende Profitchancen für das Privatkapital boten, aber für die Kriegswirtschaft unverzichtbar waren, gründete das Regime am 15. Juli 1937 in Berlin die Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten „Hermann Göring“, kurz Reichswerke „Hermann Göring“ genannt. Der Kapitaleinsatz lag bei fünf Millionen Reichsmark, der Staat übernahm einen neunzigprozentigen Aktienanteil. An der Spitze der Aktiengesellschaft stand der Namenspatron selbst. Die Reichswerke waren neben der IG Farben der größte Konzern im Dritten Reich. 1940 beschäftigte das Staatsunternehmen 600.000 Menschen. Im Juni 1941 wurde der Sitz von Berlin nach Salzgitter verlegt, das Werk in Salzgitter wurde schließlich das größte in Europa. Besser lässt sich Hitlers „Primat der Politik“ schwerlich illustrieren.
Der Führer setzte sich auch gegen die Automobilindustrie durch mit seiner Forderung, sie möge einen für die breite Masse erschwinglichen Wagen produzieren. Da ihm die Industrie immer nur für seine Begriffe zu teure Modelle vorschlug, setzte er kurzerhand einen „Generalbevollmächtigten für das Kraftfahrwesen“ ein und gründete das Volkswagenwerk, das unter der Führung der Deutschen Arbeitsfront die Verwirklichung des Projektes in Angriff nahm.
Der Ökonom und Soziologe Friedrich Pollock, Mitgründer des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und als Jude 1933 in die USA emigriert, konstatierte 1941, die Funktion des Privateigentums in Deutschland habe sich grundlegend verändert, „selbst den mächtigsten Konzernen“ habe die NS-Regierung das Recht aberkannt, dort zu investieren, wo man die höchsten Profite erwarte, und die Produktion dort zu unterbrechen, wo sie unrentabel werde; gegenüber den Entscheidungen des Regimes sei „der Eigentumstitel machtlos“ geworden.
Der Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, der ebenfalls als Jude in die USA emigrierte, hat schon früh gute ökonomische Argumente für den sozialistischen Charakter der braunen Diktatur vorgetragen. Einer seiner Schüler, der Wirtschaftsprofessor Georg Reisman, führt dazu aus: „Grund der Annahme, Nazi-Deutschland sei kapitalistisch gewesen, ist die Tatsache, dass die meisten Unternehmen in Nazi-Deutschland formal in privaten Händen verblieben. Mises betont hingegen, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln unter den Nazis nur dem Namen nach existierte, dies Eigentum aber tatsächlich beim Staat lag. Denn der deutsche Staat, nicht der nominelle Privateigentümer, verfügte über alle wesentliche Macht an den Produktionsmitteln; der Staat bestimmte, was in welcher Menge und auf welche Art zu produzieren war und wem die Produkte zugeteilt werden sollten; er bestimmte auch, welche Preise zu verlangen, welche Gehälter zu bezahlen und welche Dividenden oder andere Einkommen den nominellen Privateigentümern zu beziehen erlaubt waren.“
Mises sprach von einem „de facto staatlichen Eigentum an den Produktionsmitteln“. Doch was den real existierenden Sozialismus in Nazi-Deutschland erst richtig besiegelt habe, sei die Einführung von Preis- und Lohnkontrollen im Jahre 1936 gewesen. „Diese wurden als Antwort auf die Inflation des Geldangebots eingeführt, die das Regime seit seiner Machtergreifung Anfang 1933 betrieb. Die Nazi-Regierung ließ immer mehr Geld drucken, um die immens ansteigenden Staatsausgaben zu finanzieren, die für öffentliche Arbeiten, Subventionen und Wiederbewaffnung erforderlich waren.”
Es gibt eine berühmte Fotomontage von John Heartfield mit dem Titel „Der Sinn des Hitlergrußes“. Dort steht ein kleiner, auf seine übliche Art – also nicht mit nach vorn ausgestrecktem Arm, sondern den Unterarm nonchalant nach hinten abgewinkelt – grüßender Hitler und bekommt von einem vielfach größeren Anzugträger ein Bündel Geldscheine in die offene Hand gesteckt. Der Führer ist nur eine Marionette des Kapitals, sollte das heißen. Tatsächlich waren die Kräfteverhältnisse umgekehrt, er hätte sämtliche Kapitalisten in seinem Machtbereich jederzeit einfach verhaften oder erschießen lassen können, nie hatten diese Männer Macht über ihn. Man muss nur die Feigheit heutiger Kapitalisten oder besser: Manager studieren, die sich der wokeness andienen und aus Opportunismus der wirtschaftsfeindlichen Politik der Grünen unterwerfen, obwohl ihnen keine Konzentrationslager drohen, um das zu begreifen.
Nichts ist durchsichtiger interessengeleitet als die kommunistische Theorie, die Nazis seien nur die Agenten des Großkapitals gewesen. In der Kriegswirtschaft war der Staatssozialismus bereits hergestellt. Um die Kapitalisten zu einfachen Volksgenossen gleichzuschalten und de facto zu enteignen, das heißt komplett der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, fehlte allein der „Endsieg”. Man darf nicht vergessen, dass die Nationalsozialisten, anders als ihre roten Zwillingsbrüder im Osten, nur zwölf Jahre Zeit zur Verfügung hatten, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Es liegen eine Reihe von Betrachtungen darüber vor, wie die Welt aussähe, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte; darin geht es vor allem um seine Eroberungs‑, Vernichtungs- und Versklavungspolitik. Dass dieser Politik auch das freie Unternehmertum zum Opfer gefallen wäre, kam daneben offenbar nicht so sehr in Betracht. In einem verräterischen Aktenvermerk Heinrich Himmlers vom 21. Oktober 1942 heißt es, „während des Krieges“ sei „eine grundsätzliche Änderung unserer total kapitalistischen Wirtschaft nicht möglich“. Danach wohl schon.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hitler die Privatwirtschaft behandelte, wie er die meisten staatlichen Institutionen oder Einrichtungen behandelte: Er beseitigte sie nicht, sondern baute sie um, unterwarf sie seinem Willen, von manchen Segmenten ließ nur die Fassade stehen – es sei daran erinnert, dass die Weimarer Reichsverfassung von den Nazis nie außer Kraft gesetzt wurde. Hitler verband die Attitüde des Revolutionärs und Volkstribuns mit der des Traditionalisten, dem eine gewisse Konstanz der bürgerlichen Institutionen am Herzen liegt. Er verhielt sich in dieser Frage so ambivalent wie in der Abwägung zwischen staatlichen Vorgaben und privatwirtschaftlicher Konkurrenzfreiheit. Entscheidend war nur, dass alles unter seiner Kontrolle blieb.
Ich nannte eingangs als einen der drei Hauptaspekte des Sozialismus die Kollektivierung. „Wir sozialisieren die Menschen”, erklärte Hitler gegenüber Hermann Rauschning (der als unseriöser Zeuge gilt, doch dieses Zitat fügt sich gut in Hitlers sonstige Äußerungen). Die Sozialisierung der Banken und Unternehmen sei daneben sekundär: „Was ist das schon, wenn ich die Menschen fest in eine Disziplin eingeordnet habe, aus der sie nicht herauskönnen?”
Betrachtet man das öffentliche Erscheinungsbild des Dritten Reichs, dann findet sich kaum ein Unterschied zu den kommunistischen Diktaturen des Ostblocks: Es gibt nur eine Partei; deren Herrschaft ist absolut, wenngleich die wirkliche Macht – bis über Leben und Tod aller – von einem kleinen Klüngel innerhalb der Parteiführung ausgeübt wird; das gesamte gesellschaftliche Leben ist nach militärischem Muster durchorganisiert, das Leben des Einzelnen desgleichen; bereits die Kinder stecken in Einheitskleidung; das Kollektiv ist absolut, der Einzelne demgegenüber nichts; eine Fülle von zentralistischen Organisationen saugt die Menschen auf und bestimmt über ihren Tagesablauf; die öffentliche Meinung ist gleichgeschaltet; rund um die Uhr läuft Propaganda, regelmäßig gibt es Massenkundgebungen und Aufmärsche, überall sieht man Fahnen, Parolen und Uniformen. Dazu passt, dass Hitler ständig Uniform trug, wie Stalin, wie Mao, wie Pol Pot, Fidel Castro oder Kim Jong-il auch.
Wer im Dritten Reich mitspielte und nicht zu den rassisch oder politisch Verfolgten gehörte – also die übergroße Mehrheit –, der führte bis zum Kriegsbeginn ein ähnliches Leben wie später ein Angehöriger der übergroßen Mehrheit in der DDR. Das Leben war von der Wiege bis zur Bahre vom Staat organisiert, ein Großteil davon fand in Kollektiven statt, denen man sich nur schwer entziehen oder verweigern konnte, es gab eine staatlich erwünschte Meinung und eine staatlich erwünschte sozialistische Lebensweise, die Medien schrieben alle das gleiche, die Grenzen waren dicht. Es dürfte kaum übertrieben sein, auch die DDR einen national-sozialistischen Staat zu nennen; das Nationale war zwar in der offiziellen Rhetorik verpönt, aber das rigide Grenzregime und die weitgehende Unmöglichkeit, ins Ausland überzusiedeln, machten die DDR automatisch dazu. („Was gibt es Nationaleres als ‚Keiner rein, keiner raus?“, fragte Leser ***.)
Man kann durchaus zugleich national-sozialistisch – Stalin sprach nach der Beseitigung der Trotzkisten vom „Sozialismus in einem Lande” – und antifaschistisch sein. Bezeichnenderweise hatten ja bereits die braunen nationalen Sozialisten Vorbehalte gegenüber den originären Faschisten, obwohl sie gegen denselben Gegner standen.
Armin Mohler, der das Dritte Reich als Zeitzeuge erlebt hat, berichtet in seinem Essay „Der faschistische Stil”, wie er 1942 während seines Studiums in Berlin „gegenüber einem höheren Hochschulbeamten” den Namen Ernst Jünger erwähnt habe, woraufhin der Mann, „ein linientreuer Nationalsozialist”, ihn misstrauisch angeblickt und „mit tadelndem Unterton” gesagt habe: „Jünger ist ein Faschist!” Und sogleich als Erklärung nachschob: „Jünger kämpft nicht für sein Volk – im Kriege kämpfte er um des Kämpfens willen.” Hellhörig geworden, so Mohler, habe er in der Folgezeit festgestellt, dass die Vokabel „faschistisch” im internen Gebrauch der Nationalsozialisten der „geistige(n) Diskriminierung” diente. Faschistisch zu sein, war „undeutsch”. Es waren Nationalsozialisten, die im Juli 1934 in Wien den faschistischen Kanzler Engelbert Dollfuß ermordeten.
Das hing im Wesentlichen damit zusammen, dass der Faschismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus klerikal, international, elitär, ästhetizistisch und tatsächlich rechts war. Die Faschisten wollten die bürgerliche bzw. ständische Gesellschaft und deren Traditionen gegen den Angriff von links verteidigen, den der Marxismus und speziell die russische Revolution losgetreten hatte, aber sie hatten nicht vor, eine sozialistisch nivellierte Volksgemeinschaft zu schaffen, andere Länder zu erobern und die dortigen Völker durch Umvolkung sukzessive auszurotten. Welcher Faschistenführer wäre auf die Idee gekommen, seine Landsleute irgendwo in den Steppen des Ostens ansiedeln zu wollen? Wer weiß heute noch, dass Angehörige der von Horia Sima geführten „Eisernen Garde”, radikale rumänische Klerikalfaschisten, in Buchenwald und Sachsenhausen eingesperrt waren? Sie hatten gegen Antonescu geputscht und mussten emigrieren. Aber die Nazis konnten mit ihnen auch nichts anfangen.
Ein faschistischer Staat hätte nicht, wie die Nazis, die Standesschranken geschliffen und die Standesprivilegien abgeschafft – das Offizierskorps etwa war im Ersten Weltkrieg und noch zur Zeit der Weimarer Republik eine reine Adelsdomäne.
„Hitler ist keineswegs so leicht als extrem rechts im politischen Spektrum einzuordnen, wie viele Leute es heute zu tun gewohnt sind”, notierte Sebastian Haffner in seinen berühmten „Anmerkungen zu Hitler” (München 1977). „Er war natürlich kein Demokrat, aber er war ein Populist: ein Mann, der seine Macht auf Massen stützte, nicht auf Eliten; in gewissem Sinne ein zu absoluter Macht gelangter Volkstribun. Sein wichtigstes Herrschaftsmittel war Demagogie, und sein Herrschaftsinstrument war keine gegliederte Hierarchie, sondern ein chaotisches Bündel unkoordinierter, nur durch seine Person an der Spitze zusammengehaltener Massenorganisationen. Alles eher ‚linke‘ als ‚rechte‘ Züge.”
Haffner hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die einzige ernsthafte Opposition gegen Hitler „rechts” von ihm stand und aus den konservativen Funktionseliten stammte („ernsthaft” meint hier: aus Regimeperspektive oberhalb der Ebene eines Polizeiproblems angesiedelt). Sie gipfelte, wie jeder weiß, im Attentat des 20. Juli 1944, nach welchem der Führer sein Bedauern darüber kundtat, dass er zwar mit den Kommunisten aufgeräumt, aber die reaktionäre Adels- und Offiziersclique vergessen habe, „dieses Gesindel, das sich aus der einstigen Zeit herübergerettet hat”.
Ich habe noch zwei Zeitzeugen, die selten bis nie zitiert werden, obwohl – oder weil – ihre Ausführungen in puncto Sozialismus im NS-Staat sehr erhellend sind.
Zunächst Denis de Rougemonts „Journal aus Deutschland 1935–1936”. Der seit 1930 in Paris lebende Schweizer lehrte 1935/36 auf Vermittlung von Otto Abetz, des späteren deutschen Botschafters im besetzten Frankreich, als außerplanmäßiger Dozent für Französisch an der Universität Frankfurt am Main. Die heute von den Sozialisten tabuisierte Frage, die das Motto meines Vortrags bildet, beschäftigte seinerzeit jeden verständigen Zeitgenossen, also auch de Rougemont. Die Nationalsozialisten bezeichnet er als „Jakobiner im Braunhemd”, den Nationalsozialismus als „ein deutsches Jakobinertum”. Beide Extremismen gemeinsam seien „die Kontrolle der Menschen, die Einebnung des Verstandes, die Vergöttlichung der Massen und die Abschaffung der Individuen”.
Er schrieb: „Ich kam mit der Überzeugung aus Paris, der Nationalsozialismus sei eine ‚rechte’ Bewegung, ein letzter Versuch, den Kapitalismus und die bürgerlichen Privilegien zu retten. (…) Ich begegne vielen Angehörigen des Bürgertums. Ich muss zugeben, dass sie alle gegen das Regime sind. Es ist ein verkleideter Bolschewismus, wiederholen sie (…) Sie beklagen sich darüber, dass alle Reformen zugunsten der Arbeiter und der Bauern erfolgen, dass die Höhe der Steuern sich zu einer Beschlagnahme des Kapitals entwickelt hat und dass das Familienleben zerstört wird, die Autorität der Eltern untergraben wird und die Religion verfälscht, aus dem Erziehungswesen eliminiert und durch tausend heimtückische Mittel methodisch verfolgt wird. (…) Bald werden sie kein Vermögen mehr haben, aber unter den neuen Herren werden sie ihre Titel und Ämter behalten.”
„Der ‚Führer des Unternehmens’ darf seine Arbeiter nicht entlassen, aber diese dürfen auch nicht streiken. Der soziale Frieden wurde durch die Fixierung der gegenseitigen Pflichten auf einem höchst dürftigen, aber stabilen Gerechtigkeitsniveau erreicht.”
„Die Nazis haben verstanden, dass der Wirtschaftssozialismus nur die Hälfte einer Doktrin ist: Der Staat wird erst Herr über das Geld sein, wenn er Herr über die Menschen ist.”
„Ihr ‚Nationalismus’ (im bürgerlichen Sinne) ist für sie ein Propagandamittel, ein Mittel, die Rechten zu verführen und dem Ausland Angst zu machen; aber die dahinter stehenden Vorstellungen des Regimes sind der strengste Staatssozialismus, der je erträumt wurde; nicht ein Bourgeois wird das überleben.”
Das unterstreicht den vorhin geäußerten Befund. Die Nationalsozialisten besaßen nicht genug Zeit, um die Gesellschaft bis in die letzte Pore nach ihren Vorstellungen umzugestalten; hätten sie den Krieg gewonnen, wäre das Ende der Bourgeoisie besiegelt gewesen. Warum hätten die NS-Bonzen dann noch eine Klasse von Unternehmern an ihrer Seite dulden sollen? Wer hätte sie daran hindern können, diese Konkurrenz durch deren „Eingliederung in die Volksgenossenschaft” zu beseitigen?
Auf den anderen Zeitzeugen wies mich ein Leser hin. Der mir bis dahin unbekannte Mann hieß Karl Iwanowitsch Albrecht, eigentlich Karl Matthäus Löw, lebte von 1897 bis 1969, war Weltkriegsteilnehmer, KPD-Mitglied, emigrierte 1924 in die Sowjetunion, engagierte sich in der KPdSU, wurde als „Trotzkist” 1932 ausgeschlossen, zum Tode verurteilt, später ins Reich abgeschoben – er war deutscher Staatsbürger geblieben –, wo er sogleich im Gestapo-Gefängnis landete, auf freien Fuß kam, neuerlich ins Ausland floh und nach einigen Irrungen durch die Türkei und die Schweiz – es gab Zeiten, da hatten Menschen noch Biographien, keine Lebensläufe – das antikommunistische Buch „Der verratene Sozialismus” schrieb, mit dem er sich gewissermaßen bei den Nazis habilitierte.
Es war der erste Fall, dass ein prominenter sowjetischer Funktionär zu ihnen übergelaufen war. Das Buch wurde von der NS-Propaganda gepriesen und im Reich zum Bestseller. 1944 überstieg die Gesamtauflage die Zwei-Millionen-Grenze. Zuletzt diente Albrecht als Adjutant bei General Andrej Andrejewitsch Wlassow, dem Kommandeur der russischen Freiwilligenarmee, die an der Seite des Teufels für die Befreiung ihrer Heimat von der Herrschaft Satans kämpfte (lebte Sophokles noch, er fände allein darin Stoff für mindestens eine Trilogie). Nach dem Krieg setzten die Kommunisten in der Ostzone das Buch sofort auf den Index.
Karl Iwanowitsch Albrecht widmete sein Buch: „Den Opfern des Bolschewismus. Den Toten des unglücklichen russischen Volkes zum Gedächtnis. Den wahren Sozialisten in aller Welt zur Warnung“. Im Vorwort – Berlin, im Juni 1942 – nennt er Adolf Hitler einen „der größten Sozialisten aller Zeiten“ und schließt mit den Sätzen, „daß die Frucht des Sieges, dessen wir gewiß sind, diese neue bessere Welt sein wird, die wir Sozialisten stets ersehnten: Eine Welt der sozialistischen Gleichheit, eine Welt wahrhafter sozialistischer Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, eine Welt wahrhafter sozialistischer Völkergemeinschaft.“
Die aktuellen Sozialisten werden natürlich behaupten, das sei alles Maskerade, Propaganda, Etikettenschwindel, Lüge gewesen. Sozialisten streiten sich ja immer darüber, wer von ihnen den „wahren Sozialismus“ repräsentiere. Mir als Antisozialisten ist das gleichgültig, mir sind sämtliche Sozialisten zuwider, in welcher Färbung oder Uniform auch immer.
Es war jedenfalls kein oder allenfalls ein maßvoller Etikettenschwindel, dass Hitler seinen politischen Kampfbund „Arbeiterpartei” nannte. Als der Führer sich am 30. November 1941 in einem seiner legendär-berüchtigten Monologe der „Kampfzeit” erinnerte, offenbarte er: „Meine damalige Partei war doch zu neunzig Prozent aus Links-Leuten zusammengesetzt. Ich habe nur Leute brauchen können, die geprügelt haben.”
Im Übrigen kam es direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 zu spontanen „antikapitalistischen” Terrorakten von SA-Leuten gegen Banken und Börsenvorstände. Und 1926 wollte der Straßer-Flügel der Partei den von den Kommunisten beantragten Volksentscheid zur Enteignung der Fürstenhäuser unterstützen, was Hitler aus taktischen Gründen unterband.
Der Historiker Joachim Fest schrieb: „Als im Frühjahr 1933 ganze kommunistische Kampfformationen geschlossen in die SA übertraten, wurde das von den roten Parteisoldaten keineswegs als Bruch empfunden, und der Berliner Volkswitz, der diese Einheiten als ‚Bulettenstürme’ verhöhnte (‚außen braun, innen rot’) deckt auf, wie nahe beieinander auch die Öffentlichkeit die einen und die anderen wahrnahm. Man wechselte sozusagen nur den Anführer und die Fahne, nicht einmal die Treffkneipe. Im Herzen blieb man Sozialist, nur dass man von nun an auch noch national sein durfte, kein ‚Vaterlandsverräter’ der Komintern.”
Deswegen konnten die Kommunisten nach Stalins Sieg über Hitler den sozialistischen Seitenwechslern in der späteren DDR auch ein Rückticket offerieren. „Nomineller PG“, hieß es auf einem Flugblatt, „die SED ruft dich zur Mithilfe am Neuaufbau Deutschlands! Sie ruft dich dann, wenn du nicht aus materiell egoistischen Gründen, sondern aus Überzeugung und Idealismus einstmals zur NSDAP gegangen bist, wenn du dorthin gingst im Glauben, das Gute im Sozialismus zu finden, dann komm zu uns, denn was Hitler dir versprochen hat und niemals hielt, das wird dir die SED geben.“
Den „wahren“ Sozialismus nämlich. Jenen „wahren“ Sozialismus, der dort, wo immer er in Angriff genommen wurde, sofort zum falschen Sozialismus, zum Staatsterrorismus entartete. Der „wahre“ Sozialismus ist unauffindbar. Eine Illusion. Was die Linken nicht hindert, es wieder und wieder zu versuchen.
Wir hatten gefragt, ob „die“ Nazis sich für Sozialisten hielten. Die Antwort lautet: Sie hielten sich nicht nur dafür. Sie waren Sozialisten, wie ihre roten Milchbrüder und internationalsozialistischen Fressfeinde, deren Methoden sie kopiert haben. Rot ist das Original, Braun die Kopie. Und dieser Schoß ist in der Tat fruchtbar noch.