Gestern, bei der Rückfahrt vom Weltwoche-Sommerfest in Zürich, habe ich es endlich selbst erlebt: Beim Überqueren der deutschen Grenze kommt die Durchsage, dass ab jetzt eine Maske zu tragen sei, und dieselben Leute, die zuvor unmaskiert zusammen im Abteil oder mit mir im Speisewagen gesessen, miteinander geredet und Aerosole ausgetauscht haben, ziehen sich lachend, aber folgsam, die Masken übers Gesicht…
„Ihr glaubt doch hoffentlich nicht, daß wir Schweine dies aus Selbstsucht tun oder um uns zu bevorzugen? … Die ganze Führung und Organisation der Farm hängt von uns ab! … Wißt Ihr auch, was geschehen würde, wenn wir Schweine in unserer Pflicht wanken würden?”
George Orwell, „Farm der Tiere”
Recht zügig korrigierte auch der Süddeutsche Beobachter im Sinne der orwellschen Schweine seine Bildauswahl.
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Die Akademikerprekariatsüberproduktionskrise schreitet voran, sie harmoniert aufs Trefflichste mit dem neueren, wenn auch nicht mehr brandneuen Staatsziel der Bundesrepublik, jeder Art Devianz ein Normalitätszertifikat auszustellen (rechte Gesinnungsdevianz, Querdenkerei etc. selbstverständlich ausgenommen), und sie treibt den Betroffenen immer neue Betreuungskollektive in die verzweifelt gereckten Arme. So war es weniger eine Frage der Zeit, sondern wurde vielmehr höchste Eisenbahn, dass auch die adipösen Pummelchen bzw. Wuchtbrummen intellektuelle Betreuung erhalten. So geschehen in der Querschnittstudie oder womöglichen Wissenschaftssatire „Fat Studies. Ein Glossar”. Sie ist verfasst von einem engagiert fettverbrennungsfeindlichen, wenn auch nicht wirklich ressentimentfreien Autorenkollektiv, das sich selber Autor*innenkollektiv schreiben würde, und untergliedert in kurze Kapitel, die sozusagen Schlaglichter in den Mirkwood der Dickendiskriminierung werfen. Sie stehen unter Überschriften wie zum Beispiel: Body-Mass-Index, Body-Positivity, Diäten, Gender, Feminismus (wussten Sie, dass Doderers Roman „Die Dämonen” den Arbeitstitel „Dicke Damen” trug?), Headless Fettis, Healthism, Intersektionalität, Männlichkeit, Nacktheit, Queer, Race, Scham, Schwabbeln, Sport, Stigma, Sprache etc. pp.; Sie sehen, es fehlt unter dem Aspekt bzw. Joch der Zeitgeisterei praktisch nichts. Nur Ricarda Lang, die Reichsbüffetehrenfräse und Bundesbeauftragte für positive Selbstwahrnehmung, ist leider nicht mit von der Partie, auch nicht als Schirmherrin oder Grußwortverzapferin, doch ihres zufriedenen Brummens – man soll mit vollem Mund nicht sprechen, aber brummen ist erlaubt – dürfen sich die Verfasser sicher sein.
Ich gestatte mir, drei Auszüge zu zitieren, die mich teilweise bis zu Tränen gelächert haben.
„Gender, die Geschlechtlichkeit als biosoziale Differenzierung also, ist auf allen Ebenen – normativ, körperlich, affektiv, politisch, historisch usw. – unausweichlich mit anderen Differenzdimensionen verklammert. Ob männlich, weiblich, ob ‚divers’, non-binary, trans* … so oder anders, Geschlechtlichkeit ist nicht nur besonders relevant für die alltägliche Wahrnehmung von Menschen, sie ist zudem immer auch als anerkennbare Form im Alltag hervorzubringen. Doing gender findet permanent statt. Diese praktische, andauernde, konkrete, handlungsbasierte und normativ konstituierte, historisch bedingte Herstellung von Geschlecht ist auf zwei miteinander verbundene Normen hin gefluchtet, an denen sich das alltägliche Tun messen lassen muss: Als von Natur aus gegeben und als in sehr spezifischer – aber oft nicht explizierter – Weise eigentlich. Anders gesagt: Die phantasmatische Norm (Butler) von Geschlechtlichkeit impliziert eine vage, unfassbare, umso wirkmächtige Vorstellung einer ’natürlichen Eigentlichkeit’. Im Vergleich mit dieser Norm gibt es zahlreiche Variationen uneigentlicher, falscher, unangemessener, nicht-richtiger Formen von Geschlechtlichkeit. Dicke Gender sind genau solche ‚falschen Formen’. Literally. Dicke Körper werden durch die intersektionale Gender-Brille als in vielerlei Hinsicht falsch gelesen: falsch geschlechtlich, normativ und moralisch defizitär, womöglich nicht gar so menschlich, also monströs, pervers, wider- oder, paradoxerweise im Gegenteil, allzu natürlich (nicht kultiviert genug). In einem hegemonial binär-heteronormativen Differenzregime gilt: Dicke Männer sind demnach keine richtigen Männer, nicht richtig männlich, auf falsche Art männlich. Dicke Frauen sind demnach keine richtigen Frauen, nicht richtig weiblich, auf falsche Art weiblich. (…)
Das Stereotyp von der attraktiven – schönen – Frau ist, weiterhin und wesentlich, die junge, fit-gesunde, sich moralisch disziplinierende Weiblichkeit, die sich dem heteronormativen male gaze gemäß als zugleich tugendhaft und sexuell verfügbar präsentiert.”
(aus: Paula-Irene Villa, „Gender”)
„Was die Stigmatisierung der Dickleibigkeit betrifft, richtet diese sich auch auf dicke Tiere – und hre Besitzer*innen. Tierärzt*innen gaben in einer Studie zum Umgang mit dicken Hunden jedenfalls an, Verachtung gegenüber dicken Hunden und auch gegenüber ihren Besitzer*innen zu empfinden. Wenn die Besitzer*innen selbst dick sind, geben Tierärzt*innen ihnen die Schuld am ‚Übergewicht’ ihres Hundes, wie sie auch davon ausgehen, dass die Diätempfehlungen für den Hund nicht eingehalten werden. Damit wird ein Phänomen sichtbar, dass sich auch in Bezug auf dicke Eltern zeigt: Haustierbesitzenden werden Fehler bei der Tierpflege unterstellt und Verantwortung für das Gewicht ‚ihres’ Tieres zugewiesen.
In den Fat Studies sind dicke Haustiere bislang kaum Thema. Zu den seltenen Ausnahmen gehört der 2009 erschienene Beitrag »Fat Pets« von Don Kulick. Er zeichnet die vielschichtigen Analogien des öffentlichen Sprechens über Fettleibigkeit von Menschen und Haustieren nach: (…)
Mit Bezug auf die Human Animal Studies versteht er die Diskursivierung der Dickleibigkeit bei Haustieren als Indikator der Neuverhandlung von Mensch-Tier-Grenzen: ‚as humans get fatter, they become less human, but […] as pets get fatter, they become more human’. Dies erinnert daran, dass dicke Menschen immer in der Gefahr stehen, als ‚Monster’ animalisiert zu werden, während Haustiere, die sowieso schon starken Anthropomorphisierungen unterliegen, durch ihr Dickleibigkeit einmal mehr praktisch zu ‚Menschen’ werden: Es ereilen sie die gleichen Problemdiagnosen und Stigmatisierungen, wie sie auch mit ihren Halter*innen an ihrem Gewicht arbeiten müssen.”
(aus: Lotte Rose, „Haustiere”)
„Dieser Beitrag könnte auch ‚Wut’ heißen, denn nichts erzürnt die Allgemeinheit so sehr wie vermeintlich unzureichend bekleidetes Fett. Während schlanke Beine, die aus knappen Hotpants herausragen, als Geschenk des Himmelsbetrachtet werden (Sexismus!); gelten fette Beine in knappen Hotpants als persönliche Beleidigung, ein schwerer Affront gegen ungefragte Passant*innen. Fremde springen auf, tun spontan ihren Ekel, ihr Entsetzen, ihre Betroffenheit kund ob dieser nackten fetten Beine, die hier der Öffentlichkeit zugemutet werden. Das gleiche gilt für nackte Bäuche, eigentlich für jedes nackte fette Körperteil, das in Sichtweite anderer gerät. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass Nacktheit fetter Menschen immer als ein ‚Obwohl’ und in den seltensten Fällen als ein ‚Aufgrund’ verstanden wird.”
(aus: Debora Antmann, „Nacktheit”)
Alle Menschen sind gleich, also auch gleich attraktiv (und intellektuell gleich limitiert), niemand ist für irgendetwas verantwortlich (nicht einmal für den eigenen Körper), ausgenommen die bürgerliche, weiße, patriarchalische Gesellschaft mit ihren gleichheitszersetzenden Normen und ihrem diskriminierenden Leistungsdenken. Es gibt sogar ein Kapitel „Covid-19”, in dem die Autorin versucht, die Diskriminierung durch das Virus irgendwie zum Konstrukt der Gesellschaft umzuetikettieren, so wie andere Autor*innen die These vertreten, dass auch die statistisch allerwahrscheinlichsten Anlässe für solide Erektionen gesellschaftlich konstruiert seien, was uns von der fetten Venus von Willendorf in die Sackgasse zu Hungerhaken wie Candice Swanepoel und Alessandra Ambrosio geführt hat.
PS: Wann wird endlich dieses einstens populäre, stigmatisierende, menschenfeindliche, in schlimmen Zeiten noch mit einem Augenzwinkern abgetane und verharmloste Hetzlied gelöscht?
PPS und Ergänzung für Esel: Ich habe nichts gegen dicke Menschen und behandle sie mit derselben Höflichkeit wie alle anderen auch. Ich kann mich aber nicht dazu durchringen, sie attraktiv zu finden.
PPPS: So, jetzt steig’ ich für die nächsten vier, fünf Stündchen aufs Rennrad.
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An dieser Stelle (warum sagt man das eigentlich? es ist ja klar) bedanke ich mich sehr herzlich für die vielen Glück‑, Heils- und Segenswünsche zu meinem 60. Wiegenfeste!