26. August 2022

Ges­tern, bei der Rück­fahrt vom Welt­wo­che-Som­mer­fest in Zürich, habe ich es end­lich selbst erlebt: Beim Über­que­ren der deut­schen Gren­ze kommt die Durch­sa­ge, dass ab jetzt eine Mas­ke zu tra­gen sei, und die­sel­ben Leu­te, die zuvor unmas­kiert zusam­men im Abteil oder mit mir im Spei­se­wa­gen geses­sen, mit­ein­an­der gere­det und Aero­so­le aus­ge­tauscht haben, zie­hen sich lachend, aber folg­sam, die Mas­ken übers Gesicht…

„Ihr glaubt doch hof­fent­lich nicht, daß wir Schwei­ne dies aus Selbst­sucht tun oder um uns zu bevor­zu­gen? … Die gan­ze Füh­rung und Orga­ni­sa­ti­on der Farm hängt von uns ab! … Wißt Ihr auch, was gesche­hen wür­de, wenn wir Schwei­ne in unse­rer Pflicht wan­ken würden?”
Geor­ge Orwell, „Farm der Tiere”

Recht zügig kor­ri­gier­te auch der Süd­deut­sche Beob­ach­ter im Sin­ne der orwell­schen Schwei­ne sei­ne Bildauswahl.

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Die Aka­de­mi­ker­pre­ka­ri­ats­über­pro­duk­ti­ons­kri­se schrei­tet vor­an, sie har­mo­niert aufs Treff­lichs­te mit dem neue­ren, wenn auch nicht mehr brand­neu­en Staats­ziel der Bun­des­re­pu­blik, jeder Art Devi­anz ein Nor­ma­li­täts­zer­ti­fi­kat aus­zu­stel­len (rech­te Gesin­nungs­de­vi­anz, Quer­den­ke­rei etc. selbst­ver­ständ­lich aus­ge­nom­men), und sie treibt den Betrof­fe­nen immer neue Betreu­ungs­kol­lek­ti­ve in die ver­zwei­felt gereck­ten Arme. So war es weni­ger eine Fra­ge der Zeit, son­dern wur­de viel­mehr höchs­te Eisen­bahn, dass auch die adi­pö­sen Pum­mel­chen bzw. Wucht­brum­men intel­lek­tu­el­le Betreu­ung erhal­ten. So gesche­hen in der Quer­schnitt­stu­die oder womög­li­chen Wis­sen­schafts­sa­ti­re „Fat Stu­dies. Ein Glos­sar”. Sie ist ver­fasst von einem enga­giert fett­ver­bren­nungs­feind­li­chen, wenn auch nicht wirk­lich res­sen­ti­ment­frei­en Autoren­kol­lek­tiv, das sich sel­ber Autor*innenkollektiv schrei­ben wür­de, und unter­glie­dert in kur­ze Kapi­tel, die sozu­sa­gen Schlag­lich­ter in den Mirk­wood der Dicken­dis­kri­mi­nie­rung wer­fen. Sie ste­hen unter Über­schrif­ten wie zum Bei­spiel: Body-Mass-Index, Body-Posi­ti­vi­ty, Diä­ten, Gen­der, Femi­nis­mus (wuss­ten Sie, dass Dode­rers Roman „Die Dämo­nen” den Arbeits­ti­tel „Dicke Damen” trug?), Head­less Fet­tis, Healt­hism, Inter­sek­tio­na­li­tät, Männ­lich­keit, Nackt­heit, Que­er, Race, Scham, Schwab­beln, Sport, Stig­ma, Spra­che etc. pp.; Sie sehen, es fehlt unter dem Aspekt bzw. Joch der Zeit­geis­te­rei prak­tisch nichts. Nur Ricar­da Lang, die Reichs­büf­fet­eh­ren­frä­se und Bun­des­be­auf­trag­te für posi­ti­ve Selbst­wahr­neh­mung, ist lei­der nicht mit von der Par­tie, auch nicht als Schirm­her­rin oder Gruß­wort­ver­zap­fe­rin, doch ihres zufrie­de­nen Brum­mens – man soll mit vol­lem Mund nicht spre­chen, aber brum­men ist erlaubt – dür­fen sich die Ver­fas­ser sicher sein.

Ich gestat­te mir, drei Aus­zü­ge zu zitie­ren, die mich teil­wei­se bis zu Trä­nen gelä­chert haben.

„Gen­der, die Geschlecht­lich­keit als bio­so­zia­le Dif­fe­ren­zie­rung also, ist auf allen Ebe­nen – nor­ma­tiv, kör­per­lich, affek­tiv, poli­tisch, his­to­risch usw. – unaus­weich­lich mit ande­ren Dif­fe­renz­di­men­sio­nen ver­klam­mert. Ob männlich, weib­lich, ob ‚divers’, non-bina­ry, trans* … so oder anders, Geschlechtlich­keit ist nicht nur beson­ders rele­vant für die all­täg­li­che Wahr­neh­mung von Men­schen, sie ist zudem immer auch als aner­kenn­ba­re Form im All­tag hervor­zu­brin­gen. Doing gen­der fin­det per­ma­nent statt. Die­se prak­ti­sche, andau­ern­de, kon­kre­te, hand­lungs­ba­sier­te und nor­ma­tiv kon­sti­tuier­te, his­to­risch beding­te Her­stel­lung von Geschlecht ist auf zwei mit­ein­an­der ver­bun­de­ne Nor­men hin gefluch­tet, an denen sich das all­täg­li­che Tun messen las­sen muss: Als von Natur aus gege­ben und als in sehr spe­zi­fi­scher – aber oft nicht expli­zier­ter – Wei­se eigent­lich. Anders gesagt: Die phan­tasmati­sche Norm (But­ler) von Geschlecht­lich­keit impli­ziert eine vage, unfassbare, umso wirk­mäch­ti­ge Vor­stel­lung einer ’natür­li­chen Eigent­lich­keit’. Im Ver­gleich mit die­ser Norm gibt es zahl­rei­che Varia­tio­nen unei­gent­li­cher, falscher, unan­ge­mes­se­ner, nicht-rich­ti­ger For­men von Geschlecht­lich­keit. Dicke Gen­der sind genau sol­che ‚fal­schen For­men’. Lite­ral­ly. Dicke Kör­per wer­den durch die inter­sek­tio­na­le Gen­der-Bril­le als in vie­ler­lei Hin­sicht falsch gele­sen: falsch geschlecht­lich, nor­ma­tiv und mora­lisch defi­zi­tär, womög­lich nicht gar so mensch­lich, also mons­trös, per­vers, wider- oder, para­do­xer­wei­se im Gegen­teil, all­zu natür­lich (nicht kul­ti­viert genug). In einem hege­mo­ni­al binär-hete­ro­nor­ma­ti­ven Dif­fe­renz­re­gime gilt: Dicke Män­ner sind dem­nach kei­ne rich­ti­gen Män­ner, nicht rich­tig männ­lich, auf fal­sche Art männ­lich. Dicke Frau­en sind dem­nach kei­ne rich­ti­gen Frau­en, nicht rich­tig weib­lich, auf falsche Art weib­lich. (…)
Das Ste­reo­typ von der attrak­ti­ven – schö­nen – Frau ist, wei­ter­hin und wesent­lich, die jun­ge, fit-gesun­de, sich mora­lisch dis­zi­pli­nie­ren­de Weib­lichkeit, die sich dem hete­ro­nor­ma­ti­ven male gaze gemäß als zugleich tugend­haft und sexu­ell ver­füg­bar präsentiert.”
(aus:
Pau­la-Ire­ne Vil­la, „Gen­der”)

„Was die Stig­ma­ti­sie­rung der Dick­lei­big­keit betrifft, rich­tet die­se sich auch auf dicke Tie­re – und  hre Besitzer*innen. Tierärzt*innen gaben in einer Stu­die zum Umgang mit dicken Hun­den jeden­falls an, Ver­ach­tung gegen­über dicken Hun­den und auch gegen­über ihren Besitzer*innen zu empfin­den. Wenn die Besitzer*innen selbst dick sind, geben Tierärzt*innen ihnen die Schuld am ‚Über­ge­wicht’ ihres Hun­des, wie sie auch davon aus­ge­hen, dass die Diät­emp­feh­lun­gen für den Hund nicht ein­ge­hal­ten wer­den. Damit wird ein Phä­no­men sicht­bar, dass sich auch in Bezug auf dicke Eltern zeigt: Haus­tier­be­sit­zen­den wer­den Feh­ler bei der Tier­pfle­ge unter­stellt und Ver­ant­wor­tung für das Gewicht ‚ihres’ Tieres zuge­wie­sen.
In den Fat Stu­dies sind dicke Haus­tie­re bis­lang kaum The­ma. Zu den seltenen Aus­nah­men gehört der 2009 erschie­ne­ne Bei­trag »Fat Pets« von Don Kulick. Er zeich­net die viel­schich­ti­gen Ana­lo­gien des öffent­li­chen Spre­chens über Fett­lei­big­keit von Men­schen und Haus­tie­ren nach: (…)
Mit Bezug auf die Human Ani­mal Stu­dies ver­steht er die Dis­kur­si­vie­rung der Dick­lei­big­keit bei Haus­tie­ren als Indi­ka­tor der Neu­ver­hand­lung von Mensch-Tier-Gren­zen: ‚as humans get fat­ter, they beco­me less human, but […] as pets get fat­ter, they beco­me more human’. Dies erin­nert dar­an, dass dicke Men­schen immer in der Gefahr ste­hen, als ‚Mons­ter’ ani­ma­li­siert zu wer­den, wäh­rend Haus­tie­re, die sowie­so schon star­ken Anthro­po­morphi­sie­run­gen unter­lie­gen, durch ihr Dick­lei­big­keit ein­mal mehr prak­tisch zu ‚Men­schen’ wer­den: Es erei­len sie die glei­chen Pro­blem­dia­gno­sen und Stig­ma­ti­sie­run­gen, wie sie auch mit ihren Halter*innen an ihrem Gewicht arbei­ten müssen.”
(aus: Lot­te Rose, „Haus­tie­re”)

„Die­ser Bei­trag könn­te auch ‚Wut’ hei­ßen, denn nichts erzürnt die All­ge­meinheit so sehr wie ver­meint­lich unzu­rei­chend beklei­de­tes Fett. Wäh­rend schlanke Bei­ne, die aus knap­pen Hot­pants her­aus­ra­gen, als Geschenk des Him­melsbetrach­tet wer­den (Sexis­mus!); gel­ten fet­te Bei­ne in knap­pen Hot­pants als per­sön­li­che Belei­di­gung, ein schwe­rer Affront gegen unge­frag­te Passant*innen. Frem­de sprin­gen auf, tun spon­tan ihren Ekel, ihr Ent­set­zen, ihre Betrof­fen­heit kund ob die­ser nack­ten fet­ten Bei­ne, die hier der Öffent­lich­keit zuge­mu­tet wer­den. Das glei­che gilt für nack­te Bäu­che, eigent­lich für jedes nack­te fet­te Kör­per­teil, das in Sicht­wei­te ande­rer gerät. Da ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass Nackt­heit fet­ter Men­schen immer als ein ‚Obwohl’ und in den sel­tens­ten Fäl­len als ein ‚Auf­grund’ ver­stan­den wird.”
(aus:
Debo­ra Ant­mann, „Nackt­heit”)

Alle Men­schen sind gleich, also auch gleich attrak­tiv (und intel­lek­tu­ell gleich limi­tiert), nie­mand ist für irgend­et­was ver­ant­wort­lich (nicht ein­mal für den eige­nen Kör­per), aus­ge­nom­men die bür­ger­li­che, wei­ße, patri­ar­cha­li­sche Gesell­schaft mit ihren gleich­heits­zer­set­zen­den Nor­men und ihrem dis­kri­mi­nie­ren­den Leis­tungs­den­ken. Es gibt sogar ein Kapi­tel „Covid-19”, in dem die Autorin ver­sucht, die Dis­kri­mi­nie­rung durch das Virus irgend­wie zum Kon­strukt der Gesell­schaft umzu­eti­ket­tie­ren, so wie ande­re Autor*innen die The­se ver­tre­ten, dass auch die sta­tis­tisch aller­wahr­schein­lichs­ten Anläs­se für soli­de Erek­tio­nen gesell­schaft­lich kon­stru­iert sei­en, was uns von der fet­ten Venus von Wil­len­dorf in die Sack­gas­se zu Hun­ger­ha­ken wie Can­di­ce Swane­p­oel und Ales­san­dra Ambro­sio geführt hat.

PS: Wann wird end­lich die­ses eins­tens popu­lä­re, stig­ma­ti­sie­ren­de, men­schen­feind­li­che, in schlim­men Zei­ten noch mit einem Augen­zwin­kern abge­ta­ne und ver­harm­los­te Hetz­lied gelöscht?

PPS und Ergän­zung für Esel: Ich habe nichts gegen dicke Men­schen und behand­le sie mit der­sel­ben Höf­lich­keit wie alle ande­ren auch. Ich kann mich aber nicht dazu durch­rin­gen, sie attrak­tiv zu finden.

PPPS: So, jetzt steig’ ich für die nächs­ten vier, fünf Stünd­chen aufs Rennrad.

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An die­ser Stel­le (war­um sagt man das eigent­lich? es ist ja klar) bedan­ke ich mich sehr herz­lich für die vie­len Glück‑, Heils- und Segens­wün­sche zu mei­nem 60. Wiegenfeste!

 

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