Sehr geehrter Herr Klonovsky,
als alte Mann-zu-Frau-Transsexuelle (73 Jahre alt; ich kann also auf ein ganzes Menschenleben mit dieser schicksalhaften, individuell unveränderlichen Besonderheit zurückblicken) stimme ich Ihrem Vortrag über die Geschlechter weitgehend zu: Sie beschreiben die biologischen Grundlagen sehr gut und zutreffend.
Allerdings fehlt in Ihrer Beschreibung etwas sehr Wesentliches nahezu komplett: nämlich das soziale Geschlecht – Gender 🙂
Sie haben zwar leider recht damit, dass man heutzutage kaum noch Seriöses oder gar wissenschaftlich Ernstzunehmendes zum Thema „Gender“ hören oder lesen kann; stattdessen beherrscht sachlich beliebiges, ideologisches, pseudomoralisches Geschwätz dieses Feld. Das liegt aber nicht am Gegenstand an sich, sondern an denjenigen, die ihn als politisches Machtmittel gekapert haben: Schon seit Jahrzehnten wird jegliche seriöse, wissenschaftliche Untersuchung, die dieses Feld auch nur am Rande berührt, von linker Politik systematisch unterdrückt und torpediert – wohl aus der sehr berechtigten Angst heraus, dass seriöse Forschung in diese Richtung das links-grün-feministische Kartenhaus sehr schnell zum Einsturz bringen könnte: Es wäre das abrupte Ende der ideologisch herbeigewünschten und ‑fantasierten geschlechtlichen Beliebigkeit.
Die Evolution verfolgt nicht isoliert einzelne Ziele (genau genommen verfolgt die Evolution gar kein Ziel – das ist nur eine nachträgliche Interpretation unsererseits), sondern das, was sich summarisch in einer vorgegebenen, sich ständig ändernden Umwelt als Vorteil für das Überleben und die Fortpflanzung erweist. So auch beim Geschlecht. Neben dem grundlegenden, evolutiven Vorteil des Austausches überlebensgünstigen Erbguts (weshalb sich bei den Fortpflanzungsorganen genau zwei Geschlechter erfolgreich durchgesetzt haben) hat das Geschlecht auch Auswirkungen auf die gesamten Überlebenschancen eines Individuums. Nicht erst beim Menschen, sondern bei so gut wie allen höher entwickelten Tieren bildeten sich deshalb im Verlauf der Evolution Geschlechtsdifferenzen auch weitab der eigentlichen Fortpflanzungsfunktion heraus, sowohl bezüglich der äußerlich erkennbaren Morphologie (angepasst für geschlechtstypisch unterschiedliche Lebensweisen) als auch beim angeborenen Verhalten. Wir nennen das „sekundäre“ Geschlechtsmerkmale, und gerade beim Menschen sind sie besonders stark ausgeprägt: ein klares Zeichen dafür, dass die Differenzierung in zwei Geschlechter gerade beim Menschen zu sehr deutlichen Unterschieden zwischen den Auslesebedingungen für Männer und für Frauen geführt hat. Einfach gesagt: Männer und Frauen haben über weite Strecken der Evolution sehr unterschiedlich gelebt und sich dabei deutlich auseinander entwickelt – in vielerlei Hinsicht, nicht nur bezüglich der Fortpflanzungsfunktion.
Während aber das Fortpflanzungsgeschlecht seiner Natur nach tatsächlich eine strikt duale Sache ist, sind die sekundären Geschlechtsunterschiede nicht qualitativer, sondern quantitativer Art: Körpergröße, Behaarungstyp, Fettverteilung, Stimmlage usw. Niemand wird abstreiten können, dass Männer und Frauen sich darin tatsächlich unterscheiden, schließlich unterscheiden wir ja die Geschlechter im Alltag ständig an genau diesen Unterschieden; die primären Geschlechtsteile kriegen wir – von seltenen Ausnahmen abgesehen – gar nicht zu Gesicht.
Dass das keine qualitativen, sondern quantitative Geschlechtsunterschiede sind, mit weiten Überschneidungen zwischen den Geschlechtern (erst in der Summe ergeben sie das gewohnte, eindeutige Bild), bewirkt einen sehr entscheidenden Unterschied zwischen dem Fortpflanzungsgeschlecht und dem sozialen Geschlecht, vulgo „Gender“: Letzteres ist kein diskreter Dualismus, sondern ein Kontinuum zwischen zwei (nach wie vor ZWEI!) geschlechtlichen Polen. Insofern kann man auf dieser sozialen Ebene tatsächlich von beliebig vielen Geschlechtern reden, je nachdem, wo sich der einzelne Mensch mit seinen individuellen, sekundären Geschlechtsmerkmalen in diesem Kontinuum verortet. Ich rede hier erst mal gar nicht von Minderheiten, Transsexuellen und Dysfunktionen, sondern von den ganz normalen, angeborenen Körpermerkmalen beliebiger Männer und Frauen! Freilich findet man innerhalb dieses Kontinuums dann auch das gesamte Spektrum geschlechtlich-sexueller „Paraphilien“, von Schwulen über Lesben bis zu Transsexuellen, die sich von „normalen“ Männern und Frauen ja auch nicht grundsätzlich qualitativ, sondern nur quantitativ bezüglich gewisser Parameter unterscheiden.
Genau hier scheiden sich die Geister zwischen Wissenschaft und linker Ideologie: Während seriöse Wissenschaft – von Biologie und evidenzbasierter Psychologie ausgehend – sich dafür interessiert, was denn nun genau am Menschen von der Natur her individuell schicksalhaft vorgegeben ist und was dem freien Willen unterliegt und verändert werden kann, leugnet die linksfeministische Ideologie ersteres komplett (torpediert genau deshalb auch jegliche Forschung dazu) und propagiert letzteres als angeblich auf der Gender-Ebene beliebig form- und veränderbare, menschliche Geschlechtlichkeit – der Mensch als „tabula rasa“, als Rohmaterial für einen durch Erziehung und Indoktrination zu erschaffenden „neuen Menschen“.
Es ist im Höchstmaß paradox, dass der heutige Mainstream zwar „Gender“ aus allen verfügbaren Kanälen in tausend Varianten programmatisch in die Welt schreit, dabei aber den eigentlichen, biologisch begründeten Kern dieses Begriffs, ohne den diese ganze Diskussion gar keinen Sinn ergibt, einfach in Bausch und Bogen ableugnet.
Wie unrealistisch das ist, mußte gerade ich als transsexueller Mensch am eigenen Leib erleben: Es gibt zwar beim Gender – im Gegensatz zum Fortpflanzungsgeschlecht – tatsächlich jede nur denkbare Zwischenform in dem Kontinuum zwischen den beiden Polen. Aber die individuelle Position innerhalb dieses Kontinuums ist schicksalhaft von der Natur vorgegeben; man kann sie nicht einfach beliebig wählen und von heute auf morgen ändern!
Ich hatte (obwohl chromosomal und morphologisch eindeutig männlich) nie die Wahl, sozial – also im „Gender“ – ein normaler Mann zu sein. Schon meine Eltern und mein gesamtes erzieherisches Umfeld haben buchstäblich alles versucht, um aus mir auch sozial einen Mann zu machen, und ich selber habe anschließend mein halbes Leben mit diesem Versuch vergeudet: alles vergebens, es war einfach nicht möglich. Ich bin kein Mann, und wenn ich dreimal so aussehe! Ich kriegte mein Leben – und darin vor allem meine sozialen Beziehungen, inklusive einer funktionierenden Partnerschaft – erst ab dem Zeitpunkt auf die Reihe, als ich meine Unfähigkeit, ein Mann zu sein (und vice versa meine Fähigkeit, wenigstens teilweise als Frau zu leben), einsah und akzeptierte.
Bin ich „divers“? Nein. Ich bin – auf der psychisch-sozialen Gender-Ebene, vermutlich aber auch biologisch in den meinem Gender zugrunde liegenden Hirnstrukturen – Mann und Frau in einer Person: beides zu stark, um eines davon ignorieren zu können, aber auch beides zu unvollständig, um mich damit sozial so eindeutig in eine der beiden Seiten einreihen zu können, wie es die allermeisten Menschen tun.
Man kann das Phänomen „Transsexualität“ nicht erklären, ja nicht einmal halbwegs realistisch beschreiben, ohne von einer schicksalhaft vorgegebenen, biologisch begründeten, unveränderbaren Prädisposition auszugehen. Transsexuell zu sein ist das exakte Gegenteil geschlechtlicher Beliebigkeit: Man ist nicht transsexuell, weil man es kann, sondern weil und wenn man nicht anders kann. Und darin unterscheiden wir Transsexuelle uns wiederum überhaupt nicht von normal heterosexuellen Menschen: Auch die sind individuell genauso schicksalhaft und unveränderlich auf ihre jeweilige Gender-Identität festgelegt wie wir. Sie machen sich bloß üblicherweise keine Gedanken darum, weil sie nicht wie wir mit den – für die große Mehrheit gemachten – gesellschaftlichen Normen kollidieren.
Soweit vorerst mein Kommentar zu der Sache; ich könnte noch viel dazu schreiben…
Mit herzlichem Gruß
Ihre
***
PS: „Ein interessanter Beitrag. Nur eine (vielleicht etwas spitzfindige Anmerkung dazu): Es wurde öfters von qualitativen und quantitativen Unterschieden gesprochen. Richtig wäre meines Erachtens eher, wenn man von prinzipiellen und graduellen Unterschieden sprechen würde. Mit qualitativen Unterschieden werden wohl prinzipielle gemeint, und mit quantitativen die graduellen.”
(Leser ***)