Der Abend des 30. September 1989 brach herein. Auf dem Gelände der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, einem Barockbau, dessen Hof ein hoher schmiedeeiserner Zaun von der Außenwelt trennte, harrten seit mehreren Tagen etwa hundert Ostdeutsche – oder, wie man sie offiziell nannte, DDR-Bürger – aus, fast ausschließlich junge Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, die sich hierher geflüchtet hatten, um ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. Im Gegensatz zum Botschaftspersonal, das gelegentlich durch die Fenster oder vom Balkon auf sie schaute, trugen die Ostdeutschen mit ein paar Ausnahmen keine medizinischen Gesichtsmasken. Die meiste Zeit blieben die Fenster trotz der spätsommerlichen Temperaturen geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Am Nachmittag hatte im Hof das Gerücht die Runde gemacht, der Bundesaußenminister sei eingetroffen.
„Er wird uns hier rausholen“, hatte einer der jungen Männer zu seiner Begleiterin gesagt, und die Umstehenden, die es hörten, hatten ihm halb skeptisch, halb hoffnungsvoll zugelächelt. Das war nun fünf oder sechs Stunden her, im Haus waren inzwischen die Lichter angegangen, man sah dort gelegentlich ein paar Herren in Anzügen umhergehen, aber es gab keinen Kontakt zwischen denen drinnen und denen draußen – abgesehen davon, dass stumme, Overalls tragende Angestellte auch an diesem Morgen Wasser, Milch, etwas Obst und belegte Brötchen auf einige nach draußen geschaffte Tische gestellt und die beiden mobilen Toilettenhäuschen gereinigt hatten, die seit der Ankunft der Flüchtlinge auf dem Hof standen. Hin und wieder rief jemand aus der Menge den Namen des Außenministers, aber die Rufe verhallten ohne jedes Echo. Das Westfernseh-Team, das hier anfangs noch gedreht hatte, war schon vor zwei Tagen verschwunden. Die ersten der Ausharrenden zeigten Anzeichen von Verzweiflung. Kaum jemand in der Menge sprach ein Wort.
Gegen 21 Uhr öffnete sich die Balkontür, und das Licht von drinnen flutete auf Hof. Auf dem Balkon erschienen drei Männer in dunklen Anzügen. Ihre Gesichter waren im Gegenlicht kaum zu erkennen, aber eines wurde denen unten im Hof schnell klar: Der Außenminister, den auch im Osten jedes Kind kannte, befand sich nicht unter ihnen. Alle, die nicht ohnehin standen, hatten sich erhoben und starrten hinauf ins Licht. Eine knisternde Stille lag über der Menge.
„Wir sind heute zu Ihnen gekommen“, sagte einer der Männer mit einem leisen Zittern in der Stimme durch ein Mikrophon, „um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise in die Bundesrepublik… –
Auf dem Hof wurde es so still, dass das leise Gicksen eines Babys wie ein Trompetensignal klang.
„…leider nicht…“
Ein archaischer Klagelaut entrang sich der Brust eines Mannes und stieg in den Abendhimmel.
„… erfolgen kann.“
Die Stille war betäubend. Fassungslosigkeit malte sich auf die Gesichter. Buhrufe ertönten, erst einer, dann zahlreiche, immer wütendere, ein Pfeifkonzert brach los, und einige Frauen brachen in Tränen aus.
„Bitte haben Sie dafür Verständnis“, sagte der Mann, der noch sehr jung war; sie hatten irgendeinen Nachwuchs-Attaché vorgeschickt, um die schlechte Nachricht zu verkünden. „Angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens“ – alle sahen, dass der Mann seine Worte von einem Blatt Papier ablas –, „hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland angeordnet, die Grenzen zu schließen und ungeimpften Personen die Einreise zu verweigern.“
„Verräter!“, schrie eine Männerstimme.
„Die DDR-Regierung war bislang nicht bereit, in dieser Frage mit uns zu kooperieren“, fuhr der Redner fort. „Wenn Ihre Führung diese Einstellung ändert, können wir auch neu über Ihre Ausreise in die Bundesrepublik verhandeln.“
Bitteres Gelächter ertönte. „Was für ein Hohn“, sagte eine Frau.
„Der DDR-Botschafter hat uns versprochen, dass Ihnen durch Ihren Aufenthalt in der Botschaft der Bundesrepublik keine Nachteile entstehen. Ich bitte Sie nun, das Gelände der Botschaft zu verlassen. Die Polizei der ČSSR wird Sie dabei nicht behelligen. Bitte kehren Sie heim – und bleiben Sie gesund!“
(Das ist der Anfang eines Kolportageromans, den zu schreiben ich vorhatte, den ich aber aufgrund eines sich partout nicht einstellenden Interesses am handelnden Personal zu meinen inzwischen zahlreichen literarischen Scheinschwangerschaften und Totgeburten lege.)