Eins.
Das alles überspannende Leitmotiv der letzten Tage scheint mir klar hervorzutreten: Endlich, nach Jahrzehnten sogenannter Vergangenheitsbewältigung, in denen Generationen ihren eilfertigen Widerstand gegen Hitler nur gleichsam rückwirkend ausüben konnten, kann dies nun in der unmittelbaren Gegenwart und mit Wirkung für die Zukunft getan, ja zelebriert werden. Zum allergrößten Teil bleibt es aber bei den Methoden lachhafter Symbolpolitik, bei einem ängstlich-gehetzten: ‚Ich bin auch dabei!’ Wieder einmal gilt als mutig, wer das tut, was alle tun und wofür keine Konsequenzen zu befürchten sind; wer nicht umgehend apportiert, wird für ehrlos erklärt (J. v. Altenbockum über G. Schröder). Jeder Hotelportier, der einmal einem russischen Touristen die Tür aufgehalten hat, wird bald, um der fristlosen Kündigung zu entgehen, unter Tränen beteuern müssen, er habe ihn für einen Ukrainer gehalten, die Sprachen klängen so ähnlich. (…)
Der dritte von Ihnen veröffentlichte Leserbrief (‚Verurteilen oder Klappe halten’) ließ mich erschaudern. Was zum Teufel ist hier eigentlich los, wie nennt man eine politische Ordnung, in der in Angelegenheiten des öffentlichen Lebens allein immergleiche vorgestanzte Bekenntnisformeln zulässig sein sollen?”