Ich lese eben, dass Günter Maschke gestorben ist. Wie schrecklich. Die Reihen lichten sich. Man ist wieder ein Stück einsamer.
Er war ein wahrhaft freier, origineller und amüsanter Kopf. Wir trafen uns eher sporadisch bei Freunden oder auf der Buchmesse und korrespondierten in loser Folge. Als ich ihn zuletzt besuchte, im Sommer 2020 in seiner Frankfurter Wohnung, brachte ich diesen Wein mit.
Schön wär’s. Er laborierte bereits seit Jahren an einer Art Amok-Diabetis, was ihn aber nicht davon abhielt, sich von Zeit zu Zeit gut abendländisch den Freuden des Tranks zu ergeben.
Damals suchte ich ihn auf, um ihn für eigentümlich frei zu interviewen. Wahrscheinlich war es sein letztes Interview.
Dem Gespräch – Sie finden es auf der Webseite von ef – präludierte ein kurzes Porträt. Ich nehme den traurigen Anlass, um es noch einmal mit freundlicher Genehmigung von Lichtschlag zu veröffentlichen; insofern verliert der Einstiegssatz seine Gültigkeit.
Nein, es gibt keinen speziellen Anlass, über Günter Maschke zu schreiben: kein Jubiläum, keine neue Publikation, keinen Skandal. Gründe dagegen gibt es zuhauf. Der gebürtige Erfurter ist einer der brillantesten Köpfe, den diese Republik hervorgebracht hat, was auf den ersten Blick in einem gewissen Widerspruch zu seinem lediglich esoterischen Ruhm stehen mag; auf den zweiten Blick ist es schon recht. In einem Land, dessen Öffentlichkeit sich förmlich gegen jeden freien Geist, jeden originellen Gedanken, jede nichtstromlinienförmige Provokation – man verzeihe die contradictio in adiecto – verschworen hat, ist der „einzige echte Renegat der Achtundsechziger-Bewegung“ (so durchaus indigniert Jürgen Habermas) ein Wundertier, das man gar nicht oft genug bestaunen kann, voller Freude, dass es so etwas überhaupt noch gibt.
Maschkes Biographie ist geronnene deutsche Nachkriegsgeschichte. Da man sie nicht gerade als bekannt voraussetzen kann, sei ihr Verlauf hier grob skizziert. Maschke kam im Januar 1943 zur Welt, sein leiblicher Vater fiel ein Jahr später an der Front, der Sohn hat ihn nie kennengelernt. Als Adoptivkind eines Textilunternehmers siedelte Maschke nach dem Krieg von Mitteldeutschland nach Trier um. 1960 trat er, damals Lehrling bei einer Lebensversicherung, in die verbotene KPD ein. „Kommunist zu sein, war damals im katholischen Trier die beste Möglichkeit, die Wonnen des Provokateurs zu genießen“, erinnerte er sich später. Nach vergleichbaren Freuden auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu suchen, „war schon aufgrund meines geliebten Adoptivvaters, Jahrgang 1892, unmöglich“; er war aktiver Anti-Nazi gewesen. „Eine Identifikation mit der Bundesrepublik war auch nicht möglich, da mein Adoptivvater die Politik Adenauers, besonders in der nationalen Frage, scharf ablehnte.“
Der Jungkommunist zog nach Tübingen und heiratete dort 1965 Johanna Ensslin, die Schwester von Gudrun Ensslin (er war insgesamt dreimal verheiratet). In Tübingen studierte er kurzzeitig Philosophie bei Ernst Bloch und arbeitete als Redakteur der Studentenzeitung „Notizen“. 1964 schloss er sich der linksradikalen „Subversiven Aktion“ und danach dem SDS an. Er verweigerte den Wehrdienst und entzog sich der drohenden Verhaftung durch Ausreise, zuerst nach Paris, dann nach Wien. Dort trat er der „Kommune Wien“ bei, organisierte Vietnam-Demos und lud Theodor Adorno zu Vorträgen. Nach einer Demonstration wurde der „Dutschke von Wien“ am 9. Oktober 1967 verhaftet. Man drohte ihm die Auslieferung nach Deutschland an, worauf Maschke kurzentschlossen bei der kubanischen Botschaft um politisches Asyl bat.
In Kuba lernte er Fidel Castro kennen, gab Deutschunterricht – zu seinen Schülern gehört der Schwergewichtsboxer und dreifache Olympiasieger Teófilo Stevenson (der „kubanische Muhammad Ali“ schlief aber, erschöpft vom Training, meistens ein) – und zog in die Zuckerrohr-Ernteschlacht. Castro forderte den deutschen Genossen auf, ihm ein Dossier über die Studentenbewegung auf der anderen Seite des Atlantiks zu schreiben; nachdem er es gelesen hatte, habe der Maximo Lider gezürnt: „Das taugt alles nichts! Das ist Hedonismus! Eine Revolution ist keine Dinnerparty!“ (Der letzte Satz wird gemeinhin Mao zugeschrieben, doch Maschke versichert, ihn aus dem Munde Castros gehört zu haben.)
Sein bis heute exzellentes Spanisch brachten ihm zunächst die Frauen bei. Den kubanischen Lyriker Heberto Padilla, den Maschke erstmals ins Deutsche übersetzte, muss der Lebenswandel des deutschen Bonvivants nachhaltig beeindruckt haben; er dichtete: „Heute schläft er mit den Weibern von Havanna – jeden Tag / eine andere, wenn es geht. Einer ganzen Schiffsladung Negerinnen / sagt er, könne er´s besorgen / in einer Nacht …“
Doch der reale Sozialismus ernüchterte den schillernden Alemán schnell. Im Sommer 1968 besuchte eine Delegation des SDS Kuba. „Ich atmete auf, endlich würde ich über all das sprechen können, was mich verwirrte und bedrückte“, erinnert er sich später. „Doch diese Leute, die ‚Si‘ nicht von ‚No‘ unterscheiden konnten, wussten im Gegensatz zu mir alles über die Zuckerinsel.“ Sie hätten ihm erklärt, dass das, was er für ernsthafte Probleme hielt, „nur die unvermeidlichen Mängel einer Übergangsgesellschaft“ seien. Wie sein Freund Padilla geriet auch Maschke mit dem Regime in Konflikt. Wie immer hatte er den Mund nicht halten können und offen die herrschenden Zustände kritisiert. Eines Tages erschienen zwei Militärpolizisten bei ihm mit den Worten: „So, chico (Kleiner), jetzt geht’s zum Flughafen!“ Er durfte nichts mitnehmen, nicht einmal ein Foto oder ein Notizbuch. „Sie packten mich in einen alten VW-Käfer, steckten mir eine Zigarre zu – die übliche kubanische Mischung aus leicht brutaler Jovialität und vulgärem Charme –, und los ging’s. Sie sagten: ‚Chico, du hast viel von Cuba verstanden!‘ Es wurde eine ziemlich lustige Fahrt.“ Wie er später erfuhr, hatte eine Gruppe um einen früheren Guerilla-Chef und zeitweisen Minister einen Staatsstreich geplant; da Maschke Kontakt zu den Verschwörern unterhielt, verurteilte man ihn in absentia zu zehn Jahren Gefängnis.
In Deutschland wurde der unfreiwillige Heimkehrer aus dem Zug heraus verhaftet. Wegen Fahnenflucht saß er ein Jahr in Landsberg am Lech ein. Heute amüsiert er sich über die Trias der prominentesten Landsberg-Häftlinge: Hitler – Maschke – Hoeneß. Zur selben Zeit verbüßte dort ein Unternehmer seine Strafe, der einen beträchtlichen Geldbetrag für die Gefängnisbibliothek stiftete. Mit dessen Verwendung wurde der literaturkundige Linksradikale beauftragt. Wenn Uli Hoeneß im Knast zufällig Horkheimer gelesen haben sollte, ulkt Maschke, dann verdanke er das ihm. Ihn habe das Eingesperrtsein übrigens nicht im Geringsten gestört, denn in Landsberg habe er in Ruhe lesen können. Bis heute besitzt der Mann das Talent, sich tagelang in Lektüren zu versenken, ohne das Zimmer zu wechseln. Seine Wohnung und sein Keller versinken in Büchern. „Ich war schon früh ein manischer Leser, doch zuweilen“, räumt er ein, „weht mich der Verdacht an, dass ich mich dumm gelesen habe.“
Es gibt bekanntlich Menschen, die ihre Gesinnung wie ihr Hemd wechseln und sich jeder neuen Regierungslinie komplikationslos anpassen können. Ein authentischer Marxist indes vermag sich nur schwer von seiner Religion zu lösen. Seine Glaubensentzugserscheinungen trieben Maschke sogar für kurze Zeit in die SPD-Mitgliedschaft. „Man glaubt als Kommunist nicht an ein Leben ohne Unterstand“, beschreibt er sein sozialdemokratisches Methadonprogramm. Der Marxist leide oft jahrelang, wenn sich sein Glaube auflöse. „Der übliche Linke dagegen, dessen ‚Theorie‘ stets etwas Schwebstoffartiges hat, der den Hedonismus im Bestehenden sucht, dem es weniger um die Machtfrage als um einen anderen Lebensstil geht, der kommt mit der dekadenten Gesellschaft ganz gut zurecht.“
Die allmähliche Abkehr des Unterstandssuchers vom Marxismus „ging einher mit dem Studium des Werkes von Carl Schmitt“, belehrt uns die Wikipedia. Hier muss freilich eingefügt werden, dass der Mann offenbar sämtliche irgendwie relevanten Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts gelesen hat und gesprächshalber Namen zitiert, die allenfalls noch ein paar Spezialisten kennen.
Maschke übersetzte den spanischen Philosophen und Diplomaten Donoso Cortés und den kolumbianischen Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila, beides Erzkatholiken, ins Deutsche und publizierte vor allem zu staats- und völkerrechtlichen Themen – immer in einem blendenden, beißenden Stil. Sein Generationen-Essay „Die Verschwörung der Flakhelfer“ (1985), der mehr über den mentalen Zustand der alten BRD erklärt als ganze historische Regalmeter, hebt etwa an mit dem Satz: „Die Bundesrepublik, halb ordentlicher Industriehof, halb Naherholungszone mit regelmäßig entleertem Papierkorb, dieses handtuchbreite Restland, dessen Bewohner nach Harmlosigkeit gieren, ist zugleich das Land, in dem jeder zum Verfassungsfeind des anderen werden kann.“
Maschkes Sympathien für Lateinamerika als renitenter Hinterhof der USA blieben von seinen kubanischen Erfahrungen nicht nur unberührt – „Castro hin oder her, ich sehe in ihm einen Helden, ja, einen Katechon gegen die Einheit der Welt; dass den USA die Lust auf militärische Interventionen in Lateinamerika vergällt wurde, ist auch sein Verdienst“ –, das erweckte Interesse für Staatsrechtsfragen öffnete dem exilierten Exilanten vielmehr neue Türen dorthin. An der Marineschule von La Punta (Peru) suchte man einen Dozenten, und zwar „jemanden, der Spanisch konnte, etwas von Carl Schmitt verstand und rechts war. Da gab es nur einen.“ In den folgenden Jahren lehrte Maschke dort Theorie und Strategie der Partisanenbekämpfung und nahm selbst an Gefechten gegen den linksterroristischen Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) teil.
Einem Gefechtseinsatz des Dozenten auf Seiten der peruanischen Armee verdanken wir eine köstliche Anekdote. Sie spielt Anfang 1992 in Ayacucho, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, während der Hoch-Zeit des Bürgerkriegs. „Wir wurden mitten in der Stadt vom Sendero mit Granatwerfern beharkt, ein ziemlich überraschender Gebrauch. Ich stand vor einer verlassenen Buchhandlung mit zahlreichen Einschüssen im Mauerwerk, der Buchhändler hatte sich wohl verdünnisiert, das Fenster war halb verhängt mit einer Jalousie, die an einer Stelle kaputt war. Man konnte also in das Schaufenster linsen, und da lag, in zwei Bänden, die spanische Ausgabe der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, das Hauptwerk des Jürgen Habermas. Ich bekam einen Lachanfall, was meine Kameraden sehr verwirrte.“
Neckischerweise ergab sich einmal auf einem Empfang der Stadt Frankfurt („da wurde ich noch eingeladen“) ein kurzer Wortwechsel zwischen dem etatistischen Dissidenten und dem Staatsphilosophen. Maschke sprach Habermas auf dessen Behauptung an, Krieg sei „verzerrte Kommunikation“, und erklärte in der ihm eigenen lautstarken Heiterkeit: „Völlig falsch! Krieg ist die unverzerrteste Weise der Kommunikation!“ Über die Reaktion des Transzendentaldemokraten liegt nur das Zeugnis Maschkes vor, es lautet: „Schiefmäulig schimpfend entfernte sich unser Thersites.“ In seinem Essay „Sankt Jürgen und der triumphierende Drache“ stellt Maschke achselzuckend die Frage, warum man sich überhaupt mit einer Theorie befassen sollte, die jeden Tag durch die Nachrichten „auf so bequeme wie drastische Weise widerlegt“ werde.
Sowohl bei der kubanischen Miliz als auch bei der Marineinfanterie in Peru sei es freier und weniger ängstlich zugegangen als in Deutschland, resümierte der Wahl-Lateinamerikaner später, denn: „Aus einem verzagten Hintern kommt kein fröhlicher Furz – und der Hintern war im demokratischen Deutschland verzagter als im totalitären Kuba und im autoritären Peru.“
Anfang der 1980er frönte der politische Seitenwechsler als Mitarbeiter der „FAZ“, wo die verklemmten Popos schon damals auf einigen wichtigen Sesseln saßen. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit endete sein Aufenthalt dort aufgrund unerwünschter Ansichten. „Nach einer publizistischen Kontroverse mit Jürgen Habermas schied Maschke 1985 aus der ‚FAZ‘-Mitarbeit aus“, liest man auf der Wikipedia. Tatsächlich steckte diesmal nicht der herrschaftsfreie Karrierenschnitter dahinter, sondern Dolf Sternberger. Der Anlass war Maschkes Nekrolog zum Tode von Carl Schmitt („Positionen inmitten des Hasses“, erschienen in der „FAZ“ vom 11. April 1985). Diesen Artikel habe er zwei oder drei Jahre zuvor beim damaligen Chef des Feuilletons, Günther Rühle, eingereicht – „er akzeptierte ihn vollständig. Als er dann erschien, war der Teufel los, und in einer Zusammenrottung der Redakteure – bis hin zum Fußball-Fritzen – empörte sich der ehemalige Herausgeber und immer noch sehr einflussreiche Sternberger und schrieb dann einen doppelt so langen Gegennachruf. Ich hatte daraufhin die Faxen dicke und kündigte meine Mitarbeit als ‚fester freier Mitarbeiter‘ – so hieß das tatsächlich damals –, ich hätte nie wieder die alte Position erreicht. Zwar bemühten sich Joachim Fest, Günther Rühle und andere, mich bei der Stange zu halten, aber ich hatte nach diesem Tamtam genug.“
Carl Schmitt – um nun endlich den Teufel auftreten zu lassen, mit dessen Werk Maschkes Leben so symbiotisch verbunden ist – hatte der linke Renegat 1979 kennengelernt. Heute gilt er als bester und belesenster Kenner des schwefelumdünsteten Staatsrechtlers und „Kronjuristen des Dritten Reichs“. Der Plettenberger hatte einen Aufsatz Maschkes, in dem es natürlich um Schmitt ging, gelesen und den Verfasser zu sich ins Sauerland eingeladen. In der Tür stehend empfing er Maschke mit den Worten, er habe noch 1932 ein Verbot der NSDAP gefordert, und 1936 sei er im SS-Blatt „Das Schwarze Korps“ für vogelfrei erklärt worden. Maschkes replizierte: „Aber Herr Schmitt, da lagen ja noch ein paar Jahre dazwischen!“ Später versicherte er dem Alten: „Mich interessieren Ihre Jahre 1933 bis 1936 wenig. Man kann nicht sein ganzes Leben lang ununterbrochen anständig sein.“
Was folgte, war eine sechsjährige Freundschaft mit vielen Besuchen in Plettenberg, endlosen Gesprächen, gelegentlichen Besäufnissen und einigen Publikationen, unter anderem des „Leviathan“ (siehe das anschließende Interview). Die Frechheit und relative Respektlosigkeit des Jüngeren habe Schmitt bisweilen irritiert, berichtet Maschke, doch zugleich habe der große Verfemte begriffen, dass diese schrille Type sich für ihn in Stücke reißen lassen würde. „Die Hetze gegen Schmitt und der Hass auf ihn sind auch dann ohne Belang, wenn alle Vorwürfe triftig wären – für den Rang eines großen Autoren sind das allenfalls faux frais.“
Für Maschke-Leser ist es durchaus betrüblich, dass sich dieser geniale Schreiber im Dienste anderer verzehrte. Er selbst sieht es gelassen. In einem Interview erklärte er, er sei „der hoffentlich seine Pflicht erfüllende Diener großer Autoren“ gewesen. „Vielleicht ist das Wort ‚Tout est dit‘ (‚Alles ist schon gesagt worden‘) falsch, aber es ist schon viel mehr und besser gesagt worden, als wir es vermögen. Die Arbeit der Erschließung scheint mir oft wichtiger und fruchtbarer als ein Selber-Schreiben, wenn es nur auf Paraphrasierung hinausläuft.“
So habe Schmitt gezeigt, dass man nur mit einem Feind Frieden schließen könne und dass dabei der Krieg nicht diskriminiert werden dürfe. Dagegen verkünde der pazifistische Humanitarismus den gerechten Krieg, sogar den „Krieg, der alle Kriege beendet“, wobei nach Lage der Dinge auf der anderen Seite nicht mehr der Feind steht, sondern der Verbrecher, mit dem man keinen Frieden schließt, sondern den man vernichtet oder vor irgendein Gericht stellt. Maschke: „Eine christliche Idee ist in die Hände von Freimaurern und Menschenrechtsimperialisten gefallen; die angeblich aufgeklärte, gott- und autoritätslose Welt beansprucht für sich die Insignien der Heiligkeit. ‚Gerechter Krieg‘ bedeutet heute ein Techno-Massaker fast ohne eigene Verluste“ – wie beispielsweise der Irakkrieg mit geschätzten 200.000 Toten und 500.000 verhungerten Kindern wegen des nachfolgenden Embargos. Und Deutschland habe mit vielen Milliarden dabei geholfen, obwohl der Irak uns nie bedrohte. Der Begriff der Menschenrechte werde als ein Mittel zu schrankenloser Einmischung missbraucht – wobei sich dieser Mechanismus inzwischen durch die Massenmigration mit derselben Begründung umkehre.
Das führt zum zweiten großen Thema Maschkes: den Schwächen des Grundgesetzes (er würde es deutlich härter formulieren). Im erwähnten Essay „Die Verschwörung der Flakhelfer“ hat er dargelegt, woher der kollektive deutsche Verfassungsschützerreflex rührt und worauf es damit hinausläuft: „Da niemandem eine auch nur notdürftig verbindliche Definition der Verfassung möglich ist, wird sie, anstatt der Boden zu sein, auf dem die (Rest-) Nation ihre Kräfte zusammenfasst, der Boden, auf dem sie ihre Bürgerkriege austrägt.“
Von nun an, fährt der unbeirrbare Etatist fort, „konnte jeder Ruf nach der ordnenden Hand des Staates, nach einer das Gemeinwohl notfalls autoritär durchsetzenden Verwaltung, als gefährlich, totalitär, faschistisch und so fort denunziert werden. Die Gesellschaft aber, die Freiheit des Einzelnen, um die es angeblich dauernd ging, viel stärker bedrohend als der Staat beziehungsweise dessen Reste, wurde für sakrosankt erklärt. Und so erfuhr der Staat nach seiner nationalsozialistischen auch noch seine spätliberale Demontage.“
Man kann das heute sowohl am Beispiel der illegalen Masseneinwanderung seit 2015 als auch bei der Traktierung der AfD durch den Verfassungsschutz studieren. Das Wohl des Einzelnen schließt längst nicht mehr nur deutsche Staatsbürger ein, sondern wird unter Indienstnahme des Menschenwürdediktums aus Artikel 1 beliebig überdehnt, beispielsweise durch Frau Merkel, die in einem Interview mit der „Zeit“ anno 2016 statuierte: „Wenn wir unser Menschenbild ernst nehmen, kann der Anspruch, dass die Würde des Menschen unantastbar sein soll, nicht an den deutschen Staatsgrenzen enden – und auch nicht an den europäischen Außengrenzen.“ Gegen wen der Verfassungsschutz vorgeht, ist längst eine reine Machtfrage im Kampf der Globalisten gegen die Partikularisten geworden; es wäre schließlich auch umgekehrt denkbar, dass keineswegs die Gegner der Masseneinwanderung, sondern deren Befürworter unter Berufung auf die Artikel 20 und 56 als Verfassungsfeinde beobachtet werden. Wie im Koran existieren im Grundgesetz „satanische Verse“: Stellen, wo der Teufel versucht, in den als heilig geltenden Text einzugreifen und ihn umzuschreiben. Artikel 1 gehört gewiss dazu, nämlich wenn Politiker und dienstbare Juristen anfangen, ihn von seinem Geltungsbereich zu lösen, der eigentlich klar definiert ist: Er gilt auf deutschem Staatsgebiet – wo auch sonst? –, für deutsche Staatsbürger und politisch Verfolgte.
Wir sind am Ende mit unserem kleinen Exkurs über den Dissidenten und lassen selbstverständlich ihm das letzte Wort. „Man muss seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt. Die Weltstunde ist an unserem Volk vorbeigegangen, und wir sind – einstweilen noch – Fellachen de luxe“, schreibt Maschke. „Sorge dich nicht um Proselyten, kümmere dich nicht um die Wirksamkeit deiner Worte, denke nicht an Nutzen, äußere dich – und Schluss“, fasst er sein existentialistisches Credo zusammen. „Nicht die Hoffnung bemühen. Nur die Selbstachtung ist wichtig.“
Das Interview verlief ungefähr so (das ist die offizielle Version; wir mussten aus Gründen von Toleranz, Meinungspluralismus und Friede-Freude-Eierkuchen ein bisschen streichen).
ef: Herr Maschke, was würde Carl Schmitt zu „Black Lives Matter“ sagen?
Maschke: Ich glaube, er würde ein paar mehr oder weniger gute Witze darüber machen.
ef: Er würde diese Bewegung nicht für bedrohlich halten?
Maschke: Allenfalls im Sinne der Feststellung von Gehlen: Allem, was noch steht, wird das Mark aus den Knochen geblasen. Und dazu dient noch „Black Lives Matter“.
ef: Und was halten Sie von der Sache?
Maschke: Ich finde es lächerlich, wegen Vorfällen auf amerikanischen Straßen hier in Deutschland zu demonstrieren. Ich bin ja ein Extremist der Nichteinmischung; wenn in Frankreich der Kannibalismus tobt, aber es werden keine Deutschen aufgefressen, dann geht es uns einen Dreck an.
ef: Auf der Gegenseite agieren aber Kannibalen der Einmischung, die sich nicht zu Unrecht als global handelndes Kollektiv empfinden.
Maschke: Der Mondialismus oder die Globalisierung sind Tatsachen, gewiss, aber mich interessieren diese Vorfälle nur in Bezug auf unser Verhältnis zu den USA. Sie werden ja ständig dazu animiert, sich eine Meinung über Dinge anzuquälen, von denen Sie im Grunde nichts oder sehr wenig wissen. Die Informationsgrundlage soll dann allen Ernstes das sein, was in der Zeitung steht. Ich habe dazu keine Meinung.
ef: Das ist eine Privatgelehrtenposition.
Maschke: Ja, sicher. Ich verstehe entweder nichts oder ich verstehe nur zu gut. Ich habe kein Interesse, jahrzehntelang dieselben Debatten zu führen, mit denselben Leuten obendrein. Was soll das?
ef: Ist es Ihnen auch egal, ob Trump wiedergewählt wird? Oder ob die Demokraten vielleicht schnell noch Michelle Obama nominieren?
Maschke: Die USA bleiben uns immer feind, das wird hier nur nicht erkannt. Ich bin der Ansicht, wir müssen mit Russland ein Arrangement finden. Die Angelsachen haben immer eine deutsch-russische Allianz gefürchtet. Also sollte man das tun.
ef: Russland schafft es nicht, eine solide Volkswirtschaft auf die Beine zu stellen. Wenn die Bodenschätze einmal aufgebraucht sind, wird es ein unbedeutendes Schwellenland mit einer bedeutenden Armee sein.
Maschke: Wir steigen mit noch größerer Sicherheit ab. Europa können Sie vergessen. Die EU wird zwar weiter bestehen in irgendeiner Form als administrativer ökonomischer Körper, aber sie wird als Weltmachtfaktor nicht existieren können. Man erlebt es immer wieder auf Diskussionen, dass einer ausruft: „Das ist doch nicht der Untergang des Abendlandes!“ Ich möchte dann immer antworten: „Mein Herr, das Abendland ist am 4. August 1914 untergegangen, ist das noch nicht zu Ihnen durchgedrungen?“ Europa wird zu einer Versammlung dritt- oder viertklassiger Mächte herabsinken. Das ist unabwendbar, weil es kein europäisches „Wir“ gibt, das hat die sogenannte Flüchtlingskrise gezeigt. Außerdem verlässt eine Atommacht den Bund. Und dann sagt Frau von der Leyen, die EU müsse die Sprache der Macht lernen. Und niemand im Plenum lacht! Ich meine, auch die Dummheit sollte ihre Grenzen haben. Wir haben keine gemeinsame Armee, sie ist ja auch nicht möglich, wir haben kein „Wir“, wir sind uns nicht einmal darüber einig, wer unser Feind ist, wir nehmen alle Fußkranken auf, mal ganz davon abgesehen, was demographisch los ist. Die Homogenität des Bundes, wo ist die? Es gibt keine Europa-Idee. Was vereint einen Finnen mit einem Sizilianer?
ef: Ein Progressist würde sagen: die Idee der Menschrechte.
Maschke: Das ist der größte Unsinn. Der Mensch hat so viele Rechte wie ein Gürteltier, sagte Vacher de Lapouge. Als Mensch habe ich überhaupt keine Rechte. Ich habe Rechte als Deutscher oder als Franzose oder als Engländer und so weiter. Die Menschenrechte sind etwas Fatales. Man wird wegen ihnen handlungsunfähig. Diese Forderungen kennen ja keine Grenzen. Es ist wie bei der Frauenemanzipazi: Die hat auch keine Grenzen. Wenn Sie eine Forderung erfüllen, folgt die nächste und so immer weiter.
ef: Mit Russland zusammen wären wir im System Putin. Was wäre daran besser? Was würde uns das bringen?
Maschke: Die haben die Rohstoffe, wir die Wirtschaft. Die haben außerdem eine wunderbare Waffentechnik, die sie trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten erhalten. Wir hätten einen blockadefesten Raum. Wir müssen ja mit Krieg rechnen irgendwann.
ef: Gegen wen?
Maschke: Schauen Sie ins Südchinesische Meer. Mir hat ein Bekannter erzählt, dass in der chinesischen Armeezeitung geschrieben wird: „Wir sind dazu da, um Krieg zu führen, nicht, um den Frieden zu sichern oder nur zur Verteidigung.“ Der Krieg wird ganz klar bejaht. Das findet man in westlichen Ländern nicht. Das Problem der Chinesen ist, dass sie keine verkaufbare Kultur haben, dass sie in ihrer ganzen Umgebung unbeliebt sind, dass sie Indien als Feind haben. Aber die Welt wird immer wieder neu verteilt. Man glaubt nur, es wäre heute anders.
ef: Sie reden von Krieg. Ist nicht die Bürgerkriegswahrscheinlichkeit höher? Allein wenn man sieht, was sich in den USA zusammenbraut.
Maschke: Ich kann nur mit den Achseln zucken. Bürgerkrieg ist etwas anderes als ein paar gewaltsame Demos. Bürgerkrieg impliziert die Aufspaltung der Armee und der Polizei.
ef: Sie sagen, die Europäer sind sich nicht einig, wer der Feind ist. Wer ist es denn? Hat Deutschland Feinde?
Maschke: Ja, selbst in der EU. Zu einem wahren Ausbruch der Feindschaft kommt es, wenn Deutschland nicht mehr zahlen kann. Dann werden wir wieder die Nazis sein.
ef: Und warum sind die Vereinigten Staaten unser Feind?
Maschke: Weil sie den Krieg diskriminieren, indem sie unfähig zum Friedensschluss sind. Die Amerikaner könnten nur gerechte Kriege verantworten, in denen ihnen alles erlaubt ist, weil sie ja gegen Verbrecher Krieg führen. Mit Verbrechern aber schließt man keinen Frieden, sondern man vernichtet sie, gestaltet ihre Länder nach amerikanischen Vorstellungen um und hinterlässt dort Militärbasen. Diese Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff zerstörte das alte Völkerrecht.
ef: Gilt das auch unter Trump?
Maschke: Auch. Immerhin hat er keine Lust auf militärische Interventionen. Ich weiß nicht, wie der Apparat um ihn besetzt ist, ob er ständig Leute rausschmeißen muss, weil sie ihm an den Lebensnerv gehen. Aber ich finde ihn manchmal schon sehr clownesk und bizarr.
ef: Die meisten Rechten sagen, der Islam ist der Feind.
Maschke: Wenn es nicht gelingt, die Religion, welche es auch sei, zu disziplinieren, ist sie immer gefährlich. Die Frage ist, ob der Islam, der ja keine Einheitlichkeit besitzt, an der modernen Welt zerbricht oder diese an ihm. An und für sich sehe ich das gelassener als viele Freunde. Hier vor meiner Tür wimmelt es von Muslimen. Die sind praktisch Atheisten, sie haben null Interesse an der Religion, außer bei Schweinewurst, da hört der Spaß auf. Bei einem beträchtlichen Teil reduziert sich die Religion auf Speisevorschriften.
ef: Und die Frauen, die als Besitz verteidigt werden.
Maschke: Das kenne ich auch schon anders. Ich sehe, wie die Frauen auf der Straße ihre Männer förmlich niederkartätschen.
ef: Das sind dann die, die schon länger hier leben.
Maschke: Wahrscheinlich.
ef: Ist Deutschland eine Demokratie?
Maschke: Man verwechselt das immer, man sagt: Demokratie, das seien Menschenrechte, die Rechte der Opposition, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Pipapo, doch das sind liberale Ideen, keine demokratischen. Frankreich war 1793 auch eine Demokratie. Wenn gesagt wird, die Rothaarigen müssen alle aufgehängt werden, und die Mehrheit das will, ist das ein demokratischer Akt. Die Demokratie ist nur eine Methode – sie hat gar keinen Inhalt.
ef: Doch, den Demos.
Maschke: Dann ist es immerhin der Demos eines Volkes. Selbst das Grundgesetz ist das Grundgesetz eines Volkes, es gilt für das deutsche Volk, für niemand anderes, so steht es dort geschrieben.
ef: Wenn jetzt die seit 2015 hier illegal Hereingeschneiten einfach eingebürgert werden, dann gehören sie zum deutschen Volk.
Maschke: Eben. Dann haben wir den Salat.
ef: Damit wird der Begriff „deutsches Volk“ ziemlich schwammig.
Maschke: Das ist er schon. Das ist eine „Bevölkerung“.
ef: Die früher oder später so partikularisiert wird, dass sie keinen gemeinsamen Willen mehr bilden kann.
Maschke: Das ist das Ziel. Damit kommen wir zu diesen berühmten Verschwörungstheorien, die angeblich samt und sonders Lügen sind. Ich würde eher von Aufklärung sprechen. Verschwörungen müssen ja nicht mitternachts auf Prager Friedhöfen stattfinden, die gibt’s in jedem Turnverein, egal, wie man das nennt, zum Beispiel „Intrige“. Herr Kohl sprach vom „Ostküstennetzwerk“. Ich kann das Politische ohne Verschwörungen gar nicht denken. Man muss den Begriff nur entpathetisieren. Als Politiker schnapse ich dies und das mit meinen Leuten aus, und dann überlege ich, wie ich es der dummen Bevölkerung verkaufe. Da muss ich zuerst viel versprechen – wenn ich der Bevölkerung sage, sie soll die Schnauze halten, arbeiten und sich mit weniger zufriedengeben, möchte ich mal die Wählerzahlen sehen – und dann nach den Wahlen die meisten Versprechen brechen. Weil es nach Kassenlage gar nicht anders geht! Ich muss mich zuerst vor dem „obersten Souverän“, wie der Sprachkünstler Kohl das Volk nannte, wälzen, und dann muss ich ihm das Fell über die Ohren ziehen. Das ist der Mechanismus des Systems. Schumpeter sagt: Demokratie ist Herrschaft durch Lüge. Das ist wahrscheinlich auch eine Verschwörungstheorie? In der deutschen Demokratie hat ein Politiker nur Macht, wenn er an der deutschen Ohnmacht arbeitet.
ef: Wenn Sie sich entscheiden müssten zwischen den Optionen China, also vollüberwachter Staatskapitalismus mit Technologie- und Sicherheitsversprechen, Kalifat und liberaler Westen, was würden Sie wählen?
Maschke: Wer regiert? Verstehen Sie, ich bin in dieser Frage ganz nihilistisch. Ich werde oft konsultiert, auch von Jüngeren, die wissen wollen, wie es wird, und mein Glamour hat stark nachgelassen, weil ich denen nichts eröffne. Die sind ja meistens bemüht und protestieren gegen dies und das, und dann sind sie ganz erbost, dass sie nicht Beamte werden können, weil der Verfassungsschutz sie doch mal notiert hat. Dafür, dass die Beamte werden dürfen, kämpfe ich jedenfalls nicht. Und dann gibt es Leute, die wollen irgendwann von Anne Will eingeladen werden. Wenn die das machte, wäre bei denen die Luft schon raus. Ich würde das an Anne Wills Stelle sofort tun.
ef: Das geht ja nicht. Man braucht einen Teufel. Einer muss diese Rolle spielen, damit die Guten jemanden haben, gegen den sie sich zusammenrotten können.
Maschke: Ja, klar. Es gibt einen interessanten Menschen, Klaus Kunze, ein junger Rechtsanwalt, dessen Mantra lautete: Wir sind die verfassungstreue Rechte. Irgendwie ist das nicht angekommen. Die Satanisierung dieser überwiegend harmlosen Gestalten geht inzwischen sehr weit. Der normale Bürger lässt sich schnell aufhetzen und wiederholt, was ihm journalistisch serviert wird. Das ist zum Teil reine Hetze, und dann klagen die immer über Hetze. Letztlich ist es eine riesige Projektionsmaschine: Man wirft dem kleinen schwachen Feind das vor, was man selber mit großen Machtmitteln tut. Sie müssen nur diese Flüchtlingspolitik fatal finden, dann sind Sie schon der „Hetzer“ oder der „Fremdenfeind“. Aber der Fremde ist – oft – der Feind. Das sagt schon die Philologie, wenn man in alle möglichen Sprachen steigt.
ef: Zumindest ist er fremd.
Maschke: Gegen diese Tatsache gibt es die Floskel: „Wir sind alle Menschen.“ Eigentlich gibt es gar keine Menschen. Der Mensch ist Zoologie. De Maistre hat gesagt: „Ich habe noch nie Menschen gesehen, immer nur Deutsche, Italiener, Franzosen, Russen.“ Montesquieu hat zwar behauptet, dass es in Persien Menschen gebe – vergleiche die „Lettres persanes“ –, ich weiß es nicht, ich war nicht dort, ich kann nichts dazu sagen. Das meine ich. „Mensch“ ist kein politischer Begriff. „Menschheit“ ist kein politischer Begriff.
ef: Die große Hoffnung der Linken lautet, dass sich die Völker dereinst zur Menschheit vereinheitlichen.
Maschke: Die glauben, es gebe nur eine Auslegung davon, wohin die Reise geht. Zum Beispiel Herr Westerwelle, der hat eine schwachsinnige Dissertation geschrieben über die Jugendorganisationen der Parteien, erschienen bei Nomos, der predigte: „Bildung, Bildung über alles.“ Er meinte, dass Bildung überall zu den gleichen Ergebnissen führen muss, dass Bildung aus jedem einen liberalen Westler macht. Dabei wissen wir doch, dass das nicht stimmt. In meinen Aufsatz „Das bewaffnete Wort“ habe ich gezeigt, wie der Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) in Peru von der Bildungsexplosion profitierte. Diese Guerilla und Terrororganisation war viel gebildeter als der Durchschnitt.
ef: Bildung kann in jede politische Anschauung münden.
Maschke: Ja, natürlich. Wobei wir noch von der Qualität der Bildung reden müssen. Von arbeitslosen Bachelors wird es hier bald nur so wimmeln. Das hat mit vollkommen betrügerisch nach oben korrigierten Abiturnoten zu tun. Diese Bevölkerung wird angeblich immer klüger! Ich habe 1960 noch ein Begabtenabitur gemacht nach meiner Lehre, vorher war ich an einer Mittelschule bei Trier, diese Schule wurde 1940 gegründet, und in 20 Jahren hat es eine Eins in Deutsch gegeben – für mich. Heute bekommt jeder Depp eine Eins. Wenn ich die Klassenarbeiten von jungen Schülern sehe, da wird mit Eins Minus benotet, wofür wir eine Drei bekommen hätten. Eine ganze Generation wächst in diesem Betrug auf. Mit zwölf sind die schon Betrüger. Sie werden moralisch korrumpiert, und die Damen und Herren Pädagogen machen mit.
ef: Das Ziel ist die Einebnung aller Differenzen.
Maschke: Ja. Weil „wir alle Menschen sind“, wie die erwähnte Floskel heißt. Eines der sinnlosesten Worte in diesem Zusammenhang ist: „unterprivilegiert“. Wieso „unter“? Sollen alle Privilegien haben? Was heißt denn Privileg?
ef: Wenn man privilegiert ist, tut man gut daran, die Unterprivilegierung zu beklagen. Das hätten die französischen Aristokraten rechtzeitig tun sollen. Reiche, die heute linke Forderungen unterstützen, wollen vielleicht nur ihren Hals retten?
Maschke: Meistens sind die Leute ja in sich selbst nicht logisch. Sie merken auch nicht, wenn sie gegen ihre Maximen verstoßen. Ich weiß nicht, wer das erstmals formuliert hat, aber ich finde die Formulierung beneidenswert: Die Leute lügen nicht, die sind verlogen. Wenn man heute behauptet, „die Politiker lügen alle“: Das könnten die gar nicht, Menschen können nicht ununterbrochen lügen, sondern sie müssen verlogen sein. Das ist etwas anderes.
ef: Zur Verlogenheit gehört wohl die kognitive Dissonanz, also die Fähigkeit, ungerührt einander ausschließende Dinge zu behaupten. Etwa dass es keine Rasse gebe, aber Rassenunruhen und Rassismus gibt es doch. Eine schwarze kanadische BLM-Anführerin hat gerade erklärt, die Weißen seien Untermenschen, Weißsein beruhe auf Gendefekten.
Maschke: Natürlich gibt es so etwas. Neulich schrieb auch irgendein schwarzer Intellektueller in der „FAZ“, die Schwarzen müssten jetzt kämpfen, es gebe gar keine Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Weißen. Dabei funktioniert das ja zum Teil sehr gut, wie ich unter anderem in Kuba erlebt habe. Zwar gab es dort in manchen Provinzen deutlichen Rassismus, in Havanna und in Ostkuba allerdings nicht. Und man darf nicht vergessen, dass auch Rassenkämpfe innerhalb der Schwarzen stattfinden. Die Völker sind auch verschieden begabt. Aber es darf keine Begabungsunterschiede geben. Davon abgesehen, dass eine gerechte Gesellschaft langweilig wäre, furchtbar langweilig, ist die Einebnung sämtlicher Differenzen unmöglich. Sie kommen mit ihren Gleichheits-Zollstöcken und messen und siehe, da ist immer noch etwas ungleich. Wie bei diesen Frauenquoten: Die Frauen stellen in den Parteien 25, 26 Prozent der Mitglieder, doch jetzt sollen sie die gleichen Chancen haben wie die Männer.
ef: Die Frauenquote ist eine Art Strafzoll auf Männer, sagt der Blogger Hadmut Danisch.
Maschke: Der Reiz dieser Forderungen besteht natürlich darin, dass sie unerfüllbar sind. Wir wissen ja: Der Neid wird nicht geringer, wenn die Gleichheit wächst. Den Multimultimillionär beneide ich ja nicht, ich beneide den Nachbarn, der ist eigentlich nicht klüger ist als ich, aber er fährt das bessere Auto und hat eine drei Quadratmeter größere Wohnung. Je mehr Differenzen abgeschafft werden, desto mehr wächst der Neid – wie Differenzen immer bleiben.
ef: Was uns wieder zum Rassismus führt.
Maschke: Ja, aber das ist die toteste aller Hosen, finde ich. Der Fremde ist eine Tatsache. Man weiß, die Kulturen sind verschieden – aber das allein genügt ja. Das Zusammenleben ist schwieriger, als man meint. Es gibt Leute, die führen jahrelang einen Prozess, weil ein Zweig meines Birnbaumes über die Grenzmauer auf ihren Garten wächst, und dieselben Leute sagen: Diese Zuwanderer, das sind doch alles Menschen, mit denen gibt es doch kein Problem. Aber gegen den urdeutschen Nachbarn führen sie einen endlosen Guerillakrieg.
ef: Die Toleranz wächst mit dem Abstand zum Problem.
Maschke: Das ist ganz wichtig. Sehen Sie sich mal die Häuser von Propagandisten der Welcome-Politik an, die könnten doch Migranten aufnehmen! Davon ist nichts bekannt. Aber sie empfehlen ihren Landsleuten die Ausreise, wenn ihnen die Einwanderung missfällt. Die Aggressivität nährt sich durch die angebliche Menschenfreundlichkeit. Hinzu kommt – da sage ich auch nichts Neues, aber es gibt banale Wahrheiten, die man immer wiederholen muss –, dass die meisten Leute ja gar nicht denken wollen, das übliche Pareto-Phänomen, der Mensch schützt rationale Gründe vor für jeden Unsinn. Das funktioniert wie von selbst, wir brauchen heute nicht mal einen Goebbels dafür. Der musste morgens noch per Fernschreiben festlegen: Dieses Wort darf nicht verwendet werden, jenes Wort bedeutet das und das. Heute passiert das ganz von selbst. Goebbels wäre heute arbeitslos. (lacht)
ef: Sind Sie Rassist?
Maschke: Das entscheide ich ja nicht (lacht). Ich glaube nicht. Unter den Castro-Leuten auf Kuba galt ich als „Petrolero“. So nennt man dort einen Weißen, der gerne mit schwarzen Frauen schläft.
ef: Das ist vielleicht eine besonders subtile Form des Rassismus.
Maschke: Es ist immerhin so, dass jeder zeugungsfähige Mann der Welt mit jeder gebärfähigen Frau der Welt ein Kind zeugen kann. Das ist nicht uninteressant.
ef: Sie gelten oder galten zumindest als Nationalrevolutionär. Korrekt?
Maschke: Ich galt eher als Französling.
ef: Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?
Maschke: Das hat Hans-Dietrich Sander mir vorgeworfen; dem war man schon verdächtig, wenn man Französisch sprach. Ich habe einen gewissen antigermanischen Affekt. Das hängt mit den geringen Spontanitätsfähigkeiten der Deutschen zusammen. Wie Bismarck bemerkte: „Den Deutschen fehlt ein Schuss Sekt im Blut.“ Sie sitzen zu lange auf dem Klo, diese Deutschen. Oder wie Heine sagte: „Sie haben den Stock verschluckt, mit dem man sie einst geprügelt.“ Die Franzosen sind die Weltmeister der Schikane, wir sind die Weltmeister der Denunziation. Aber ich habe beschlossen, mich gegen kein Volk mehr aufhetzen zu lassen – was etwas anderes ist als die „Welcome-Kultur“.
ef: Ein Volk, das Merkel und mehrheitlich Schwarz-Grün wählt – muss man sich dafür noch in die Bresche schlagen?
Maschke: Es weiß natürlich nicht, was es will. Es kann sagen: Uns geht’s ja noch gut. Sehen Sie, Max Weber wird oft dargestellt als der Ahnherr der parlamentarischen Demokratie, aber wir wissen, dass das ein knallharter Machtbejaher war. Seine Kritik am Wilhelminismus galt eben nicht dem angeblichen Autoritarismus, sondern der Unfähigkeit zu einem wirklichen Imperialismus. Er kritisierte den Wilhelminismus, weil der keine Machtpolitik trieb. Weber wollte eine Demokratisierung, um den Imperialismus zu stärken und damit die besten Leute ins Parlament kommen. Harry Graf Kessler schildert, wie Bismarck, nachdem er gefeuert war, in seinen Vorträgen immer wieder mantraartig vortrug: Wir sind jetzt saturiert. Und Kessler beschreibt die Enttäuschung der jungen Leute im Publikum, meistens Studenten. Ach so, das war‘s jetzt? Weber wollte mehr Demokratie, aber um die Macht der Nation zu steigern, eine Führerdemokratie. Wahrscheinlich waren die 36 süßen Kleinstaaten das uns Gemäße. Wir konnten ja 1871 vor Kraft kaum laufen, und dann konnten wir nichts damit anfangen. 1939 waren wir schon schwächer als 1914, auch wenn das Niveau der Generäle im Dritten Reich höher war als 1914 bis 18, wenn man absieht von einem Genie wie von der Goltz. In den 50er Jahren hatten wir noch ein „take off“, wirtschaftlich sowieso, auch in den Geisteswissenschaften gab es viele interessante Sachen. Aber heute ist dieses Land auch intellektuell erledigt.
ef: Gibt es Zeitgenossen, die Sie für lesenswert halten?
Maschke: Ich halte sehr viel von Enzensberger, trotz einiger Dummheiten, die er geschrieben hat, etwa über den armen Saddam Hussein als Wiedergänger Hitlers. Der Mann ist ein großer Lyriker, behaupte ich, und wenn er weiter nichts getan hätte, als César Vallejo und William Carlos Williams zu übersetzen, wäre er bedeutender als die meisten anderen. An seinen Geburtstag erschien in der „FAZ“ eine ganze Seite über ihn, aber es kamen weder der Lyriker noch der Übersetzer in diesem Artikel vor. Er kann sehr viel. Ich habe ihn kennengelernt, der besaß oder besitzt bei aller Arbeit eine für mich geradezu unheimliche Schweißlosigkeit. Er kann sogar mit Geld umgehen. Enzensberger könnte einen Kurs machen: „Wie fahre ich mit einer Plastiktüte drei Jahre um die Welt, mache dabei auch noch Geld und organisiere eine zehnbändige Lyrik-Anthologie auf Tungusisch.“ Er ist von äußerster Eloquenz, er kommt ja aus Kaufbeuren, das ist eigentlich eine sehr mundfaule Gegend, das scheint mir fast eine Art Überkompensation. Aber sonst? Es sind ja alle tot.
ef: Fühlen Sie sich geistig vereinsamt?
Maschke: Ich habe ein Problem damit, dass sie alle tot sind. Ich hatte immer ein großes Talent für ältere, mir gegenüber durchaus väterliche Freunde. Das begann mit meinem Adoptivvater, den ich extrem verehre, Walter Maschke, Jahrgang 1892, Unternehmer, Strickwarenproduzent. Meinen leiblichen Vater kenne ich nicht, der ist 1944 gefallen. Als Jugendlicher war ich Kommunist. Mit 16, ich war noch Lehrling bei der Nürnberger Lebensversicherung in Trier, habe ich den Ostermarsch aufgezogen, wir wurden auf der Straße bespuckt, das gab mir natürlich enormen Auftrieb. Die katholische „Trierische Landeszeitung“ schrieb damals: „Der stadtbekannte Günter Maschke wollte die Anwesenden vor den Ostkarren spannen.“ Meinem Vater aber war das völlig wurscht.
ef: Sie haben in einer schönen Wendung über ihn gesagt, er sei den Meinungen anderer Leute mit monströsem Desinteresse begegnet.
Maschke: Und das als Unternehmer! Überlegen Sie mal, wie sich die meisten Unternehmer heute aufführen. Er sagte nur: „Du wirst schon sehen.“ Und als ich aus Kuba zurückkam, sagte er: „Hast du gesehen? Es ist eben scheiße mit dem Kommunismus.“ Er hat mich nicht erzogen, sondern er war für mich der Held, das Beispiel. Ich hatte immer ältere Freunde, Schmitt, Julien Freund, Günter Anders, mit dem war ich sehr eng – Anders konnte einem übrigens auf die Nerven gehen, weil er diesen unbezwingbaren Trieb zum Bonmot hatte, das wurde irgendwann fade, fünf Stunden Bonmots am Stück, das hält niemand aus. Und heute sind sie alle tot. Es sind alle tot, der Julian Freund, Roman Schnur, der Gehlen, den ich vom intellektuellen Zuschnitt und von der Bedeutung vielleicht für wichtiger als Schmitt halte. Den finde ich schon enorm, auch an Desinvolture. Auch mein Freund Mohler ist schon lange dahingegangen. Mohler hatte übrigens drei große Bibliotheken zusammengestellt, eine zur Konservativen Revolution, die hat er an die Japaner verkauft, eine zur französischen Rechten, die hat die Universität Potsdam gekauft, und dann hatte er noch Tausende von Bänden über Kunst, davon hat er nichts verkauft. Mohler sagte: „Ich habe einen Teil meines Lebens an die Politik vergeudet, ich hätte mich viel mehr um die Kunst kümmern müssen.“
ef: Sind Sie eigentlich katholisch?
Maschke: Nein. In meiner Jugend war ich Protestant. Wir wurden nach dem Krieg nach Saarburg bei Trier umgesiedelt, und dann gab es in dieser katholischen Gegend auf einmal ein paar Hundert Protestanten. Die Katholiken mit ihren tollen Prozessionen – dort war auch ein Wallfahrtsort – haben mich beeindruckt. Ich ging auch in den katholischen Religionsunterricht und wollte Katholik werden. Mein Vater sagte nur: „Na warte mal ab.“ Als junger Kommunist empfand ich es natürlich als meine Pflicht, aus der Kirche auszutreten. Als ich zum zweiten Mal in gefährliche Nähe zum Katholizismus geriet – ich habe fünf Jahre an der Übersetzung und Kommentierung von Donoso Cortés gearbeitet –, kam das Zweite Vatikanum, und damals dachte ich mir: „Das ist der Selbstmord.“ Inzwischen neige ich zum Atheismus. Ich habe einen Freund, Philosoph, der ist noch so ein Atheist wie 1888 im Freidenkerverein und scheut auch vor den plumpsten Argumenten nicht zurück. Wir können natürlich nicht klären, ob es Gott gibt oder nicht, das ist eine Kinderfrage, aber von wirklichem Interesse ist das religiöse Bedürfnis. Ich bin ganz nihilistisch inzwischen. Da ist eben die kosmologische Nullität des Menschen, wie Blumenberg es nannte, und irgendwann wird eintreten, was Arno Schmidt in die Worte gefasst hat: „Das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört.“ Dann wird es auch keine gesammelten Werke geben und keine Historiker, sondern nichts. Wir werden irgendwie verglühen. Das steht womöglich auch bevor, wenn es zehn Milliarden Menschen gibt. Der Mensch wird einmal aufhören zu existieren.
ef: Sie sind der älteste oder der am längsten gediente deutsche Paria – kann man das so sagen?
Maschke: Paria?
ef: Sie sind isoliert, verfemt, werden nicht eingeladen …
Maschke: Gott, ja, ich bin schon ausgegliedert. Ich habe mich ja selbst ins Knie geschossen, in der „FAZ“ und im Verlag, ich habe zweimal meine komplette ökonomische Existenz verloren wegen Carl Schmitt. Das Geld für meine Edition Maschke kam vom Deutschen Ärzteverlag, der in Geld schwamm. Denen habe ich den „Leviathan“ von Schmitt untergejubelt. Ich wollte dieses Buch unbedingt herausbringen, wozu Schmitt nie den Mut hatte. Er wollte selber den Vertrag zurücknehmen, doch ich habe abgelehnt. Das Buch wurde veröffentlicht, und es gab gleich eine spanische und französische Ausgabe. Im Jahr darauf hat mir der Ärzteverlag den Geldhahn zugedreht. Und dann kam mein Bruch mit der „FAZ“ wegen meines Nachrufs auf Schmitt. Danach hat Dolf Sternberger mobilisiert gegen mich – nicht der Habermas, wie immer behauptet wird –, und schließlich habe ich gesagt: Schluss. Joachim Fest versuchte noch, mich umzustimmen, doch ich wollte nicht mehr. Ich hätte ja auch meine frühere Position nicht mehr halten können. Jedenfalls bin ich zweimal total auf die Schnauze gefallen. Finanziell gerettet hat mich meine Frau. Danach war ich in Italien sehr aktiv, in Lateinamerika habe ich missioniert, das kann man wohl so sagen, in Peru vor allem. Ich wollte gern als Professor an der Hochschule der Armee in Peru bleiben, aber meine Frau war nicht zur Übersiedlung zu bewegen. Der Tod meiner Frau hat mich schwerstens harpuniert, ich war 33 Jahre mit ihr zusammen und habe mich keine 33 Stunden mit ihr gezankt. Die letzten sieben Jahre habe ich sie gepflegt, das war die Hölle, in dieser Zeit habe ich nichts geschrieben – ich hielt es nur aus, weil ich bis zuletzt in sie verliebt war.
ef: Hatten Sie jemals eine Option auf eine Karriere, ich meine: innerlich?
Maschke: Ich wusste schon, wie ich mich hätte verhalten sollen, aber das ging einfach nicht. Das kann ich nicht.
ef: Sie hätten mitmachen können, mit Ihren Talenten wären Sie doch allen anderen überlegen gewesen, und am Ende hätten Sie ihnen verraten, was Sie von ihnen halten.
Maschke: Ja, aber das macht der Mensch dann nicht. Der Mensch ist ja dankbar. Mein Freund Helmut Quaritsch hat einmal über seine Schüler gesagt: Wenn die Kerle Referendare sind und jeden Tag rausgeschmissen werden können, sagen sie die unglaublichsten Sachen und sind zum geistigen Amok bereit. Wenn sie Professor sind und ihnen nichts mehr passieren kann, werden sie auf einmal lammfromm. Ich erwiderte: Herr Quaritsch, daran sehen sie, dass die These von der menschlichen Undankbarkeit Blödsinn ist. Quaritsch gehörte zur Generation der, wie ich sie nannte, „Forsthoff-Schüler“, die haben geglaubt, sie könnten, nachdem der NS endlich vorbei war, auf diesem Flugsand einen Staat bauen. Denkste!
ef: Wenn man Ihnen abschließend die alberne Frage stellte: Was wollen Sie eigentlich?
Maschke: Ich würde es begrüßen, wenn die Vorstellung, die man einmal von der Universität hatte, wiedergefunden würde. Dass die Universität wieder als ein Ort begriffen wird, wo ich hingehe, um zu denken, in Einsamkeit und Freiheit, ja, um frei zu sprechen. Wo man sagt: Wir sitzen zusammen, wir versuchen, etwas zu verstehen, deswegen mögen wir uns auch, wir haben keine Angst, das oder das zu sagen – so ungefähr wie sich das Herr Humboldt vielleicht vorstellte. Davon habe ich noch einen Hauch gespürt im Abendsonnenschein der Geisteswissenschaften an der Uni Tübingen, wo ich zwar nicht studiert habe, aber immerhin Redakteur der Studentenzeitung war, ich hielt sogar Referate, bei Dahrendorf zum Beispiel. Ich wünsche mir, dass es das noch einmal gibt. Man trifft sich, weil man den gemeinsamen Wunsch zum Denken hat, es geht um hochinteressante Sachen, und man schätzt jeden, der mitdenken will, auch wenn der auf einmal etwas sagt, was man selber ganz falsch findet. Wir wissen, wie es früher tatsächlich war an der wilhelminischen Universität – aber es war besser als heute! In Italien habe ich das noch ansatzweise in den 1970er Jahren erlebt – doch auch Italien ist heute von der politischen Korrektheit aufgefressen –, da war ich auf Kongressen, wo Linke und Rechte debattierten, das war sehr angenehm: „Ach so, Sie versuchen auch zu denken, dann kommen Sie rein, nehmen Sie Platz, wollen Sie ein Glas Wein?“ Damals gab es hier und da noch so etwas wie eine Bruderschaft der geistigen Menschen. Heute dagegen besteht eine Feindseligkeit gegenüber dem geistigen Menschen, die bis zum Todhass reicht – und zugleich von „Bildung“ faselt.
Fahr hin, Kamerad, und sei frei!