Es gibt Bücher, in denen man sich gern aufhält, wo man staunend herumgeht, alle Zimmer durchstöbert und keinen Winkel auslassen möchte (wobei der Begriff „man“ gerade bei dem Autor, um den es geht, nur mit Bedacht verwendet werden sollte). In einem solchen Buch nahm ich in den vergangenen Tagen Quartier, und es war eine erfreuliche Ablenkung vom stumpfen Einerlei des draußen herrschenden politischen Straßenlärms. Die Rede ist von Lorenz Jägers soeben bei Rowohlt erschienener Biographie „Heidegger. Ein deutsches Leben“.
Jäger, Jahrgang 1951, wurde in Frankfurt am Main als Germanist promoviert und hat in den USA und in Japan deutsche Literatur gelehrt. Er stieß 1997 zur FAZ, wo er zuletzt das Ressort „Geisteswissenschaften” leitete und „als Rechtsaußen der Feuilleton-Redaktion einschlägig bekannt“ war, wie Jürgen Habermas, die Rechtsaußen der Sport- und Automobilredaktion vornehm verschonend, vor nun auch schon fast 20 Jahren rühmte. Ich habe das Vergnügen, mit ihm, also mit Jäger, nicht mit Habermas, auf vertrautem Fuße zu stehen, und ich kenne keinen zweiten Menschen, der auf eine so bescheidene Weise so viel weiß. Mir war seit längerem bekannt, dass er an einem Buch über Heidegger arbeitet. Wer die Lebensgeschichte eines Denkers schreibt, muss ja automatisch auch die Geschichte eines Denkens nachzeichnen, was in diesem Falle auf eine Achttausender-Besteigung hinausläuft, allein „lektüretechnisch“, aber mit seinen Biographien von Theodor W. Adorno (2005 erschienen) und Walter Benjamin (2017) hatte Jäger ein alpines Trainings- und Aufwärmprogramm hinter sich gebracht, das ihn fit für die ganz eisigen Höhen machte.
„Von Heidegger”, statuiert sein Biograph, „geht eine Beunruhigung aus, die nicht nachlässt.” Hier ist weder der Raum, noch bin ich dazu berufen, auf dieses Denken einzugehen. „Es ist zu wenig Kopfzerbrechen in der Welt“, sagte der alte Heidegger in einem Radiointerview, und ich fühle mich angesprochen. Für sein Werk – von einer „Lehre” mag man bei einem Denker, der so viel und so bohrend fragt („Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“), kaum sprechen – hat er eine Sprache entwickelt, die, je nach Standpunkt, als tiefsinnig, eindrucksvoll und packend oder als esoterisch, abweisend und versponnen empfunden wird. Was mich betrifft, so oszilliere ich zwar zwischen beiden Positionen, je nach Tagesform, jedoch bei entschiedener Geringschätzung der zweiten. Wer zur Kategorie eins zählt, befindet sich dort jedenfalls in glanzvoller Gesellschaft. So wie kein Komponist von Rang nach Wagner nicht „Wagnerianer“ war, so hat sich kein Denker von Rang nicht intensiv mit Heidegger beschäftigt und von ihm gelernt.
Von einem Philosophen erwartet die Welt ein irgendwie beispielhaftes Leben. Es gilt als ausgemacht, dass sich der Denkstil auch im Lebensstil niederschlagen müsse. „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel, als er imstande ist, ein Beispiel zu geben“, schreibt Nietzsche in seiner dritten unzeitgemäßen Betrachtung. Jemand ist ein Philosoph nicht nur in seinen Texten – er ist es ganz oder gar nicht. Die Frage, wie ein Philosoph gelebt hat, führt mitten in sein Denken.
„Er wurde geboren, arbeitete und starb“, lautet Heideggers berühmte Blitzbiographie des Aristoteles. Ein Philosoph hat kein Leben, soll das kokett heißen. Aber sogar Kant hatte eines. Was Aristoteles betrifft, so stand der auf vertrautem Fuße mit Platon und trat in dessen Akademie ein, wo wahrscheinlich auch nicht immer nur gearbeitet wurde; später wurde er der Lehrer Alexanders des Großen, und am Ende seines Lebens musste er aus Athen ins Exil fliehen. In Heideggers Fall müsste man an die Stelle von Platon Husserl setzen und an die Stelle Alexanders … – na, lassen wir das, es hat ja eh nicht funktioniert. Jedenfalls war da etwas, und dieses Etwas ist seit Jahren das eigentliche (hihi) Thema, wenn es um den kleinwüchsigen Denkriesen aus dem Schwarzwald geht.
Während das tonangebende publizistisch-akademische Milieu im Westen allen intellektuellen Stalin-Kollaborateuren so schnell verziehen hat wie diese sich selbst, bleibt der kurze Flirt von Carl Schmitt, Heidegger und Gottfried Benn mit den Nationalsozialisten ein ewiger Skandal, in den man sogar den charakterlich tadellosen Ernst Jünger hineinzuziehen versuchte. Alle drei haben sich vom NS-Regime abgewandt, bevor dessen Mordmaschine anlief, lange vor Reichskristallnacht und Kriegsausbruch, auch das unterscheidet sie von vielen europäischen Linken, die sogar in den Zeiten der чистка nicht am Sowjetkommunismus irre wurde. Die Atrozitäten der Nazis verstellen uns im Nachhinein leider den Blick auf die ungeheure Komik, die in Heideggers Engagement für das Regime liegt. Statt Anklageschriften gegen ihn zu verfassen, wäre es weit lohnender – und entlarvender –, eine Komödie zu schreiben. (Ich habe einmal damit begonnen, im ersten Akt sollten Bismarck und Nietzsche auftreten, im zweiten Heidegger und Hitler, im dritten Habermas und Gerhard Schröder oder Helmut Kohl.) Heideggers Idee, er sei berufen, den Führer zu führen, ist köstlich; man muss sich nur ausmalen, wie der genialisch-groteske Hinterwäldler in der Neuen Reichskanzlei auf Hitler einredet, um ihn auf „die Wahrheit des Volkes“ im Lichte der Wiedererweckung des Griechentums einzustimmen, während draußen vor der Tür der englische Botschafter wartet. Nach Heideggers berüchtigter Rektoratsrede sei das Auditorium unschlüssig gewesen, ob man jetzt in die SA eintreten oder doch besser die Vorsokratiker studieren solle, spottete Karl Löwith.
Von einer gewissen Komik ist auch, dass Heidegger in den ersten Wochen nach der „Machtergreifung“ zusammen mit seiner Geliebten Elisabeth Blochmann, Professorin für Pädagogik in Halle und halachische Jüdin wie Hannah Arendt, in seiner Freiburger Wohnung Platons „Phaidros“ las, in dem es um das Verhältnis von Rhetorik und Wahrheit und die Frage geht, ob die Rhetorik einen wahrheitsunabhängigen Eigenwert habe. Seiner Frau schreibt er in diesen Tagen, er habe vor, „die Metaphysik des deutschen Daseins in seiner Urverbundenheit mit den Griechen wirkendes Werk“ werden zu lassen. „Heidegger erhebt den Anspruch, als Einziger den Sinn der NS-Revolution zu kennen“, notiert sein Biograph. Tatsächlich besaß Heidegger nicht einen Schimmer davon, was sich damals in der wirklichen Welt zutrug, worauf es hinauslaufen würde und welche höchst unwichtige Nebenrolle ihm selber in diesem Spiel zugedacht war. Keiner der Parteivögte legte Wert darauf, sich von diesem Denkschrat in den tatsächlichen Sinn der nationalsozialistischen Bewegung einweihen zu lassen.
Immerhin dämmerte es dem in die Irre verschlagenen Seinsdeuter bereits Ende 1933, so Jäger, dass er auf ganzer Linie gescheitert war – auch wenn bis heute nicht ganz klar ist, worin eigentlich. Seine damalige geistige Umwelt beschreibt er mit Worten wie „Vulgärnationalsozialismus“, „trüber Biologismus“ und „billigste Plattheit als volksverbundenes Denken“. Volk ist für ihn kein biologischer Verband, sondern eine Gemeinschaft, die eine geschichtlichen Zukunft – ein „Geschick“ – teilt. Die nach seinen Vorstellungen erneuerte deutsche Universität soll der Ort sein, an dem die künftigen kulturellen Führer des Volkes ausgebildet werden, mit der Philosophie als Leitwissenschaft versteht sich. Heideggers metaphysische Trunkenheit angesichts der „Größe und Herrlichkeit dieses Aufbruchs“, den er als etwas wahrnimmt, das kein Mensch außer ihm begreift, hält ein Sündenjährchen an. Im April 1934 legt er das Rektorat nieder und begibt sich in den politischen Entzug.
In seiner Hölderlin-Vorlesung im Wintersemester 1934/35 erklärte Heidegger: „Liebe ist nach alter Weisheit ein Wollen, nämlich wollen, dass das Geliebte sei, in seinem Sosein, das es ist, seinem Wesen standhalte.“ Damit, erläutert Jäger, spielte er auf den Ausspruch des Augustinus an: „Volo ut sis“ – „Ich will, dass du seiest”. Mit diesem Augustinus-Zitat hatte er einst sowohl Hannah Arendt als auch Elisabeth Blochmann angeharft, seine beiden jüdischen Geliebten, die inzwischen im Exil leben. „Heidegger will den Nationalsozialismus metaphysisch überhöhen und denkt dabei an die Jüdinnen, die er einmal geliebt hat, sagt es aber niemandem, nicht einmal seinem Tagebuch. Ist er nicht der exemplarische Deutsche?“
Anfang der 1930er Jahre sah Heidegger seine Mission darin, „einem Volk die verlorene Metaphysik zurückzugeben“. Die Deutschen und die antiken Griechen hält er für die beiden maßgeblichen Völker, während „Römertum, Judentum und Christentum die anfängliche Philosophie – d.h. die griechische – völlig verändert und umgefälscht“ haben. „Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen“, glaubt er – ein zumindest sehr spezielles „Deutschland, Deutschland über alles”. Am Ende der 1930er fühlt er sich in Nazi-Deutschland geistig völlig isoliert. Die meisten Gespräche führt er mit Hölderlin. Von Politik ist er für immer kuriert. Das erfährt ein paar Jahre später unter anderem Jean-Paul Sartre, der über seine Begegnung mit Heidegger festhielt: „Er kotzt auf das Engagement. Ich hatte ihm davon gesprochen. Er betrachtete mich mit einem Blick unendlichen Mitleids.”
Den Zusammenbruch des Dritten Reichs übersteht die Familie Heidegger ohne Todesfall. Beide Söhne geraten in Kriegsgefangenschaft. „Mit dem Gefühl, den alliierten Siegern keine weiteren Rechtfertigungen zu schulden, geht Heidegger in die Besatzungszeit“, notiert sein Biograph. Wie andere auch, die erwähnten Herren Schmitt und Benn beispielsweise, ist der Philosoph pikiert darüber, dass man ihn, der doch schon seit Jahren in der inneren Emigration lebte, mit dem Regime und dessen Schandtaten in Verbindung bringt. Störrisch flüchtet er sich in Euphemismen und spricht von „Handgreiflichkeiten“ des NS-Regimes sowie vom „Lärm um das Umkommen der Vielen, die man nicht kennt und auch nicht kennen will“ (oh, das verräterische „Man“!). „Zweifellos“, seufzt Jäger, „hat Heidegger an dieser Stelle den Tiefpunkt seines Denkens erreicht.“
Bis an sein Lebensende weigerte sich der Philosoph, sich in irgendeiner Weise zu den NS-Verbrechen zu bekennen, was ihm die linke deutsche Öffentlichkeit, also inzwischen die gesamte, übel vermerkte und bis heute nachträgt. Aber was hätte er auch sagen sollen außer Selbstverständlichkeiten, die man ihm als Selbstbezichtigungen ausgelegt hätte? Hannah Arendt hat berichtet, dass er ihr beim ersten Wiedersehen nach dem Krieg zwar „wie ein begossener Pudel“ gegenübertrat, zugleich aber zu versichern wusste, wie unmöglich es ihm sei, irgendetwas öffentlich zu bereuen, weil „noch das unverfänglichste seiner Worte immer auch bedeuten würde, dass sein Einvernehmen mit Massenmördern prinzipiell denkbar sei“. Seine Feinde, sagte er, warteten doch nur darauf, ihm „die Schuldschelle“ umzuhängen. Die großen Lebensirrtümer müsse jeder mit sich selbst ausmachen, er denke nicht daran, sich vor dem Pöbel zu bekreuzigen.
Jäger schildert das Leben des oberschwäbischen Seinsbegrüblers in einer Kette von Miniaturen. Die Kapitel sind verhältnismäßig kurz, sie gliedern sich in wichtige Lebensstationen, prägende Personen (Vertraute, Geliebte, Schüler, Gegner), historische Einschnitte, Hauptwerke. Jäger ist ein diskreter Biograph, der ein blendendes Deutsch schreibt, ohne sich damit je in den Vordergund zu drängeln. Er wertet selten und wenn, dann ohne nachträgliche Besserwisserei. Wie in seinen Vorgängerwerken glänzt er durch detaillierte Kenntnis des historischen und kulturgeschichtlichen Kontextes, in dem sich das betrachtete Leben abspielt.
1935, im selben Jahr, als Heidegger seine Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerkes“ dem Publikum vortrug, veröffentlichte Walter Benjamin im französischen Exil den Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Jäger stellt beide Betrachtungen als exemplarische Antipoden gegenüber. Beide verwerfen die traditionelle Ästhetik, beide behandeln das Verschwinden dessen, was Benjamin „Aura“ nennt, aber: „Der eine begrüßt den Verfall der Aura als Morgenröte einer humaneren Gesellschaft, den anderen ergreift ein Schrecken.“
Mit der Reproduzierbarkeit verliert das Kunstwerk seine Einmaligkeit und seine feste Gebundenheit an einen Ort, notierte Benjamin, verband damit allerdings die Hoffnung auf eine Popularisierung der Künste und, man darf wohl sagen, Erziehung der Massen. Die Vervielfältigung der Werke durch die modernen Medien geht einher mit dem beginnenden Massentourismus. Beide Trends nehmen den Orten und Werken ihre Einzigartigkeit oder sogar Heiligkeit. Heidegger schreibt mit Blick die Tempel von Paestum, „die Welt der vorhandenen Werke“ sei „zerfallen“, die Werke seien „nicht mehr die, die sie waren“, etwas sei aus ihnen „geflohen“.
Jäger fasst zusammen: „Benjamin, dessen Vater Kunsthändler war, sympathisiert mit der Transportierbarkeit auch der Götterstatuen, mit der grundsätzlichen Verschiebbarkeit der Werke, dem Verlust der Aura, dem Abbau des Kultwerts. … In diesen Prozessen sieht Benjamin ein humanisierendes, zivilisierendes Moment der Kunstrezeption. Heidegger, der Enkel von Bauern, sympathisiert mit der jeweiligen konkreten Erde, auf der der Tempel steht, in dem ein Gott waltet. Beide sehen eine feine Substanz entfliehen. Benjamin nennt sie ‚Aura‘, Heidegger, einstiger Priesteranwärter, spricht von ‚Weihe‘“. Beide standen im damals anhebenden Weltbürgerkrieg auf verschiedenen Seiten, gleichwohl jeweils auf verlorenem Posten, denn keines der beiden totalitären Systeme konnte mit solchen Geistern etwas anfangen. Der eine hoffte auf die Entwicklung der Technik als Emanzipationsvehikel, den anderen ergriff ein Grausen beim Bedenken ihrer Möglichkeiten. Der eine dachte global und nivellierend, der andere fragte, was von Heimat, Umwelt und Differenz noch zu retten sei. In heutiger Terminologie wäre Heidegger ein „Somewhere“, Benjamin ein „Anywhere“. (Am Rande: Die Benin-Bronzen gehören nach Heideggers Kriterien in ihre Heimat.)
Benjamin und Adorno, die Autoren, denen Jägers biographisches Interesse vor Heidegger galt, teilten eine skurrile Anmaßung. Benjamin eröffnete im April 1930 gegenüber Gershom Scholem seinen Plan, „in einer Lesegemeinschaft unter Führung von Brecht und mir im Sommer den Heidegger zu zertrümmern“; Adorno kehrte aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurück mit dem Vorsatz, Heidegger binnen kurzer Zeit zu erledigen und der Kritischen Theorie die geistige Herrschaft zu sichern (was ihm mit seinem Pamphlet „Jargon der Eigentlichkeit“ in linken Intellektuellenkreisen auch gelang). Es handelt sich um den typischen Vernichtungswunsch von links, der um 1789 in die europäische Geschichte eintrat, der teils buchstäblich gemeint ist, sich teils mit der sozialen Isolation und geistigen Minderwertigkeitserklärung des Feindes zufriedengibt. Er speist sich aus einem moralischen Überlegenheitsdünkel, welcher den von ihm Ergriffenen die Seligkeit des guten Gewissens schenkt. Heidegger, von dem die Maxime stammt „Wer polemisiert, denkt nicht“, konnte sich auf dieses intellektuelle Schlammcatchen nicht einlassen. Wie Jäger festhält, hat er nie eine Zeile von Adorno gelesen.
Obwohl Heidegger unbestritten einer der bedeutendsten Köpfe der Philosophiegeschichte ist, rennt man seinem Namen heute keine offenen Gesellschaftstüren ein, er ist negativ konnotiert, als Denker wie als Mensch, was im Wesentlichen mit seiner NS-Kungelei zusammenhängt, aber auch mit seinem ländlich-provinziellen Habitus, dem Nimbus schollenverbundener Gestrigkeit und Urbanitätsverweigerung. In Thomas Bernhards Suada „Alte Meister“ etwa firmiert er als „nationalsozialistischer Pumphosenspießer“. Auf den meisten Bildern wirkt er nicht nur wenig weltgewandt, sondern auch wenig sympathisch. „Unwirsch oder mürrisch“, bestätigt Jäger, erscheine Heideggers Miene oft, aber bei der Lektüre der postum veröffentlichten sogenannten „Schwarzen Hefte“, einer intimen selbstreflexiven Gedankensammlung, habe er festgestellt, „dass der Adressat solcher Stimmungen zunächst einmal er selbst ist“. Eine „stoßende und nie weichende Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten“ sei für Heidegger kennzeichnend, „die ‚Schwarzen Hefte‘ artikulieren fast ausschließlich das Ungenügen dessen, was schon vorliegt“. Der Schöpfer einer der elaboriertesten, kompliziertesten und hermetischsten Begrifflichkeiten der Geistesgeschichte empfand zeitlebens „Sprachnot“, ein Ungenügen an dem, was er in Worte fasste. Das ist philosophisch und gehört zu seinen einnehmenden Wesenszügen.
Es gibt derer noch andere. Aus einem katholischen Elternhaus – der Vater war Mesner – und einer katholischen Umgebung stammend, hat er, gegen erhebliche Widerstände, die Ehe mit einer Protestantin geschlossen. Mit Elfride, geborene Petri, war er 59 Jahre verheiratet. Sein zweiter Sohn, Hermann, stammte nicht von ihm, woraus er keinerlei Aufhebens machte. Heidegger war dickfellig und selbstbezogen, was bei einem Denker (oder Künstler) immer heißt: manisch auf sein Werk fixiert. Trotzdem – auch das ist philosophisch – nahm er Widerspruch und Kritik auf souveräne Weise hin. Sein Student Karl Löwith, sieben Jahre jünger als der Professor, entdeckte in Heideggers Denken etwas „von der Luft des Fichteschen Idealismus, auch etwas Atomistisches“, weil die Gesellschaft und das Mitmenschliche darin nicht vorkommen, nur das „Dasein“ (dieser Vorwurf gegen Heidegger zieht sich als Never Ending Story über Jaspers bis zu Habermas, und der marxistische Philosoph Georg Lukács versah das Heidegger-Kapitel seiner Schmähschrift „Die Zerstörung der Vernunft” mit der Überschrift „Der Aschermittwoch des parasitären Subjektivismus”). Löwiths Habilitationsschrift trug den Titel: „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“. Jäger notiert: „1927 erscheint ‚Sein und Zeit‘, im gleichen Jahr stellt Löwith eine Schrift fertig, die das Buch in einem entscheidenden Punkte korrigieren will – und habilitiert sich damit ausgerechnet bei Heidegger.“ Sogar die Habilitationsfeier fand im Hause des Professors statt. Dem Schüler bescheinigte er: „Die versteckten Angriffe und überlegenen Seitenhiebe gehören zur Stimmung, in der man seine ersten Sachen herausbringt.“ Und: „Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, dass hinter Ihrer Arbeit, welchen Weg sie nehmen mag, eine ernste Überzeugung steht, die Sie durchkämpfen und für die Sie einstehen. Alles andere ist unwichtig.“
Während Hölderlin der Dichter war, den Heidegger als Wahlverwandten erkannte und von dem er sich buchstäblich in das Denken seiner zweiten Lebenshälfte tragen ließ, war Ernst Jünger der zeitgenössische Autor, mit dem er sich am meisten beschäftigte – ein ganzer Band der Werkausgabe enthält ausschließlich Anmerkungen zu Jünger. Heideggers Gesamteinschätzung lautet: „Jünger ist ein Erkenner, aber nirgends ein Denker.“ Das klingt arrogant, aber im August 1942 schreibt Heidegger an Max Kommerell, der seinen Hölderlin-Aufsatz kritisiert hatte, die erstaunlichen Worte: „Sie haben recht, die Schrift ist ein ‚Unglück‘. Auch ‚Sein und Zeit‘ war eine Verunglückung. Und jede unmittelbare Darstellung meines Denkens wäre heute das größte Unglück. Vielleicht liegt darin ein erstes Zeugnis dafür, dass meine Versuche zuweilen in die Nähe eines echten Denkens kommen.“ Es gibt für das Denken nicht zweierlei Maß.
Heidegger hat hundert Bände gegen die Technikvergötzung und die Seinsvergessenheit des modernen Menschen geschrieben. Sein Werk ist ein „Aufstand des Landes gegen die Stadt“ (Jäger) und ein Einspruch gegen alle bisherige Philosophie, denn die, heißt es in „Die Grundbegriffe der Metaphysik“, sei „nur zur Dar-stellung des Menschen, nicht zu seinem Da-sein“ gelangt. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass Mystik den eigentlichen Horizont von Heideggers Denken bildet“, stellt Jäger fest. „Was ihm wirklich vorschwebte, muss eine Art von Hinaufsteigerung der Philosophie in die Mystik gewesen sein – alle lehrhaften Erstarrungen und Verdinglichungen sollten abgebaut werden, um in die Nähe der Wahrheit zu kommen. Das ist die innere Logik von Heideggers Denkweg.“
Seit dem Erscheinen von „Sein und Zeit” war Heidegger, wie man heute sagt, ein Star (das Wort darf hier stehen, weil seinen Grabstein ein Stern statt eines Kreuzes ziert). Die Schulphilosophie befand sich damals in einem recht verknöcherten Zustand, die Begriffsmühlen von Neukantianismus und Phänomenologie mahlten ein abstraktes Mehl. Heideggers Daseinsanalyse mit ihrer Konzentration auf Existenz, Stimmung, Angst und Tod schlug wie ein Blitz ein. Wenn es auch kein Strom von Besuchern war, den es auf seine Hütte in Todtnauberg zog, so versammelte sich dort im Laufe der Jahre eine illustre Gästeschar: Hans-Georg Gadamer, Werner Heisenberg, Karl Löwith, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Victor und Carl Friedrich von Weizsäcker, Herbert Marcuse, Paul Celan, Jean-Francois Lyotard und andere mehr. Der Besuch, den Celan dem „Denk-Herrn“ im Sommer 1967 abstattete, ist ikonisch geworden – der Dichter der „Todesfuge”, dessen Eltern von den Nazis ermordet wurden und der selber im Arbeitslager überlebte, zu Gast bei einem angeblichen „Vordenker” des Nationalsozialismus und einstigen NSDAP-Mitglied! Mit dem konnte sich der Lyriker immerhin weit tiefgründiger über Dichtung unterhalten als mit den Banausen der Gruppe 47. Vom Besuch auf der „Hütte” handelt Celans Gedicht „Todtnauberg”, und wie Jäger es Zeile für Zeile durchgeht, um zu dem Schluss zu gelangen, es sei rein deskriptiv, nichts Hermetisches, Symbolisches und Heidegger Anklagendes befinde sich darin, ist grandios.
Ich sollte zum Schluss kommen, der Bissen ist viel zu groß. Dem Biographen sei das letzte Wort überlassen: „Man kann am Ende seine Lebensleistung in der Bearbeitung dieser einzigen Frage sehen: Worin unterscheidet sich Denken von einem Operieren mit Algorithmen? Heidegger ist unser Zeitgenosse.“
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Zum Vorigen.
Bekanntlich wurde Hannah Arendt als achtzehnjährige Studentin die heimliche Geliebte des Philosophen, ihres Lehrers, und die Verbindung der beiden währte, durch NS-Zeit und Exil unterbrochen, bis zu Arendts Tod. Nach dem Krieg erfuhr auch Elfride von dem Verhältnis. Im November 1952, nach einem längeren Besuch beim Ehepaar Heidegger, der für beide Frauen nur deprimierend verlaufen konnte, notiert Hannah Arendt den folgenden göttlichen Passus in ihr „Denktagebuch”:
„Wie immer man es ansieht, fraglos ist, dass ich in Freiburg in eine Falle gegangen (und nicht geraten) bin. Fraglos ist aber auch, dass Martin, ob er es weiß oder nicht, in dieser Falle sitzt, in ihr zu Hause ist, sein Haus um die Falle herum gebaut hat; sodass man ihn nur besuchen kann, wenn man ihn in der Falle besucht, in die Falle geht. Also ging ich ihn in der Falle besuchen. Das Resultat ist, dass er nun wieder allein in seiner Falle sitzt.“
In Arendts erster und nicht besonders glücklicher Ehe mit dem Philosophen Günther Anders muss Heidegger als stummer Gast allpräsent gewesen sein. Aus Anders‘ Erinnerungen an diese Zeit zitiert Jäger eine Szene, wo beide über die „Leiblichkeit” sprechen, also etwas, das von der Ontologie geringgeschätzt werde. Auch bei Heidegger finde das Leibliche nicht statt, meint Anders. Hannah Arendt pflichtet ihrem Gatten bei, allerdings mit dem Zusatz: „Übrigens hat er das ja auch nur in der Theorie unterschlagen.“
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Noch zum Vorigen.
Heideggers Lehrer Edmund Husserl hatte zwei Söhne, beide kämpften im Ersten Weltkrieg, einer fiel. Gerhard Husserl, der zweimal schwer verwundet wurde, lehrte als Professor für Zivilrecht in Kiel. Am 25. April 1933 wurde er als Jude beurlaubt. Ende Oktober versetzte man ihn nach Göttingen, „wo er indes am Widerstand der Fakultät scheiterte, woraufhin er nach Frankfurt versetzt wurde, wo sich der ganze Vorgang wiederholte. 1936 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus.“
Dreckspack, schändliches.
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Immer noch zum Vorigen.
Ein gewisser postumer Glanz fiel wegen seiner Technikkritik von links-grün auf Heidegger. Er gilt seither und sogar gemäß der allsehenden Wikipedia als „Vorläufer der Öko-Bewegung“. Für Rudolf Bahro zum Beispiel, den originellsten Kopf der Grünen, gehörten Heidegger und der Buddha als geistige Schildwachen der von ihm so genannten „Großen Natur“ zusammen. Fernab von der Welt, als ein Eremit auf Zeit in seiner Berghütte mit der Natur lebend, hatte der Philosoph ja etwas von einem buddhistischen Mönch (und der späte Heidegger bewegt sich auch gedanklich durchaus in der Nähe des Buddha).
„Als Heidegger die Figur der Kehre dachte, war dies ein singulärer intellektueller Akt. Kontrapunktisch zum Technikpositivismus und Fortschrittsoptimismus der Nachkriegszeit kündigte Heidegger ein Denken an, das durch den ersten Bericht des Club of Rome und wenig später auch mit der entstehenden Grünenbewegung erste weltliche Entsprechungen abseits des Elfenbeinturms im Schwarzwald fand“, schrieb Ulf Poschardt vor ein paar Jahren in der Welt.
Dazu muss ich einen kleinen Widerspruch anmelden (neben dem großen, dass mir die Technophobiker und Naturromantiker lächerlich sind*, denn die Natur ist der Feind des Menschen, und nur dank der Technik kann er sich in ihr behaupten, aber darum geht es hier nicht). In seiner Kritik der Technik war Heidegger nämlich weder besonders originell, noch ein wirklicher Pionier. Das Gründungsdokument dieser Bewegung, wofern sie gut deutsch aufs Ganze zu zielen beginnt, war der Vortrag „Mensch und Erde“, den Ludwig Klages beim Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner im Norden Hessens hielt. Darin fallen die berühmten Worte: „Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen. Die ‚Zivilisation‘ trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch.“
Klages hielt also noch vor dem Ersten Weltkrieg eine Rede gegen die Zerstörung der Natur durch die Industrie und die fortschreitende Technisierung sämtlicher Lebensbereiche. Der Philosoph und Psychologe beklagte die schwindende Naturverbundenheit des modernen Menschen. Das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zur Natur sei auf Ausgleich und Gleichgewicht gegründet gewesen, dagegen ziele die Moderne nurmehr noch auf Beherrschung und Ausbeutung. Der Kapitalismus und die Technik bewerteten alles Lebendige einzig nach quantitativen Kriterien, so dass sämtliche nicht quantifizierbaren Aspekte des Lebens unter die Räder der wissenschaftlichen und ökonomischen Logik gerieten. Klages verwarf deshalb den Fortschritt überhaupt. Sein dreibändiges Hauptwerk, erschienen zwischen 1929 und 1932, trägt den sprechenden Titel „Der Geist als Widersacher der Seele“. Geist und Seele – Intellekt und Leben – stehen laut Klages in einem unvereinbaren Widerspruch. Durch seine Erhöhung über die Natur vermittels des „Geistes“ habe der Mensch den Zusammenhang zur „Seele“ der Erde und damit auch zu seiner eigenen zerstört. Eine aus dem naturhaften Gleichgewicht gerissene Menschheit sei dazu verurteilt, ihre Lebensgrundlagen zu vernichten.
Klages verkündete seine apokalyptischen Botschaften in einer Sprache von düsterer, atemverschlagender Großartigkeit. „Die Technik, die man heute im Sinn hat, wenn man von den Wundern der Technik redet, ist nicht wesentlich älter als vier Generationen und hat dessenungeachtet hingereicht, um Dutzende von Stämmen der Primitiven, Hunderte von Pflanzengeschlechtern, doppelt und dreimal so viele Tierarten auf dem Lande, in der Luft, im Wasser vom Antlitz des Planeten zu tilgen. Der Tag ist nicht fern, wo sie alle vertilgt sein werden, soweit man sie nicht zu züchten beliebte zu Schlachtzwecken oder zu Modezwecken, ausgenommen nur die Infusorien und Bakterien. (…) Die Stunde der Gegenwirkung wurde versäumt, und wir alle, die wir aus leidenschaftlicher Liebe des Lebens so Grauenvolles beweinen müssen, sind ‚letzte Mohikaner’. Wer aber von solchen noch Wünsche zu hegen wagt, müßte nur eines wünschen: daß eine derart Verruchtes vollbringende Menschheit so schnell wie möglich absinke, veraffe, verende, damit um ihre verwitternden und verfallenden Arsenale des Mordes noch ein Mal begrabend, entmischend und sich selber erneuernd der Rausch der Wälder brande.” („Der Geist als Widersacher der Seele“, 4. Auflage, München 1960, S. 768)
Man kann Klages als skurrilen Sonderling abtun – Ernst Bloch nannte ihn einen „Tarzan-Philosophen“ –, doch wenig später schrieb Friedrich Georg Jünger, der Bruder Ernst Jüngers, das seriöse Grundlagenwerk der deutschen Öko-Bewegung. Sein Buch „Die Perfektion der Technik“ erschien zwar erst 1946, das Manuskript hatte er aber bereits 1939 abgeschlossen. Die technophilen Nazis waren freilich an technikskeptischen Publikationen, zudem mitten im Krieg, herzlich wenig interessiert; überdies zerstörte ein britischer Luftangriff Ende 1944 die in kleiner Menge gedruckte Erstauflage und sekundierte so eindrucksvoll dem Titel der Schrift.
Nahezu das gesamte Spektrum der mit den Grünen einsetzenden Ökologiedebatte ist in Jüngers Buch vorweggenommen. Die britische Historikerin Anna Bramwell schreibt, dass die Ideen der Öko-Bewegung in der westlichen Welt zum Großteil aus der deutschen Tradition ganzheitlichen Naturdenkens stammen, aus welcher Jüngers „Perfektion der Technik“ herausrage.
Im Gegensatz zu Klages schildert Jünger seinen Gegenstand sachlich-nüchtern, ohne Verwünschungen und ohne raunendes Beschwören der Naturgeister. „Wo immer der Mensch das Feld des technischen Fortschritts betritt, dort erfolgt ein organisatorischer Zugriff gegen ihn“, stellt er fest. „Die Technik deckt nicht nur den Bedarf, sie organisiert ihn zugleich. Und indem sie das tut, stellt sie den Menschen in ihren Dienst.“ Die Technik entwickelt sich vom Diener in eine eigenständige Macht, die immer mehr Herrschaft über den Menschen erlangt. „Jeder Zuwachs der Technik bedeutet eine Vermehrung der mechanischen Determinationen, die das Wesen des Staates von Grund auf verändern.“ Das habe zur Folge, dass der Mensch nur noch „nach seiner Brauchbarkeit und Verbrauchbarkeit“ klassifiziert werde und „ganze Disziplinen des Wissens wie Statistik, Soziologie, Psychologie, Medizin“ zu „Handlangern des technischen Kollektivs“ werden.
Als Exempel für den tödlichen technischen Zugriff des Menschen auf die Natur wählt Jünger den Walfang und ist auch damit den Greenpeace-Schlauchbooten zeitlich um einiges voraus (wobei man fairerweise sagen muss, dass 1935 das erste Völkerbundabkommen zur Begrenzung des Walfangs in Kraft trat). Die Jagd auf die Wale verkörpere „einen besonders widrigen Fall“, schreibt er, „denn es hat etwas Widriges, daß der Mensch die ungeheuren Meeressäugetiere, welche die Macht, den Überfluß und die Heiterkeit des Elements verkörpern, nur mit dem Gedanken verfolgt, sie zu Seife und Tran zu verkochen“.
Indem die Technik alles verfügbar macht, alles Lebendige unterwirft, zerstöre sie am Ende auch das Fundament, auf dem sie selber steht. Der Mensch, rekapituliert Jünger, mag „produzieren, was er will und eine solche Fülle von Waren erzeugen, dass der Anschein des Überflusses entsteht, in Wahrheit braucht er die Substanz auf“. Noch mag ein Teil der Menschheit den Komfort einer Hochzivilisation genießen, aber wie lange? „Nicht der Anfang, das Ende trägt die Last.“
Martin Heidegger prägte für den technischen Zugriff auf die Natur den Begriff „Gestell”. Die Natur werde von uns so behandelt, dass sie sich „in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt“. Was „bestellbar“ ist, wird „Bestand“. So stellt der Mensch die Natur als bloße Ressource vor sich, als eine Art Großdepot – der Wald ein Holzdepot, der Berg ein Steindepot, das Meer ein Fischdepot und so weiter. Dieses „Gestell“ verstellt dem Menschen den Blick auf das Sein. „Es könnte sein, daß die Natur in der Seite, die sie der technischen Bemächtigung durch den Menschen zukehrt, ihr Wesen gerade verbirgt“, heißt es im Humanismus-Brief.
Wenngleich bei ihm in einem tieferen seinsvergessenheitsgeschichtlichen Kontext eingebettet, stand Heidegger mit diesem Denken in der Nachkriegszeit also keineswegs allein da. Es hatte seine Wurzeln in der ersten deutschen Umweltbewegung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die sich noch nicht mit dem Präfix „Öko“ labelte, und die Spitzen dieser Wurzeln reichten bis in die deutsche Romantik. Auch wenn Deutschland am Ende nicht danach aussah, war das Dritte Reich sehr umweltbewusst, allerdings hat die Verbindung des Bodens mit dem „Blut“ den Boden ideologisch stark kontaminiert. Nach 1945 galt die deutschen Umweltbewegung als NS-belastet. Und Heidegger war es ja tatsächlich. Ludwig Klages wiederum war Neuheide, ein Gegner des Monotheismus und damit auch der jüdischen Religion. Intellektuelle Nationalsozialisten hatten den Titel seines Hauptwerkes als „Der (jüdische) Geist als Widersacher der (deutschen) Seele“ interpretiert. Georg Lukács sortierte Klages in die Schublade der „geistigen Wegbereiter“ des Nationalsozialismus und monierte vor allem dessen „frontalen Angriff auf den Geist der Wissenschaftlichkeit“.
Die traditionelle Linke verstand sich schließlich als die Erbin der Aufklärung, als Vollstreckerin der Vernunft, sie wähnte die Wissenschaft auf ihrer Seite und gab sich überaus technikfreundlich. Industrielle und technische Großprojekte sollten von der Leistungsfähigkeit der sozialistischen Wirtschaft und des befreiten sozialistischen Menschen künden. Dass die Sowjetunion den ersten Satelliten und den ersten Menschen ins Weltall sandte, galt als Beweis der Überlegenheit des sozialistischen Systems. Die Freude am technisch Machbaren vereinte National- mit Realsozialisten und beide wiederum mit den liberalen Gesellschaften des Westens, wobei die Linke einen Differenzgewinn einzustreichen suchte, indem sie argumentierte, dass ein- und dieselbe Technik unter verschiedenen Macht- und Besitzverhältnissen eben nicht dieselbe sei. Dem hätten Klages, Friedrich Georg Jünger und Heidegger vehement widersprochen, gerade bei Jünger und Heidegger ist der Gedanke fundamental, dass zwischen Sowjetunion, Drittem Reich, der USA und der Bundesrepublik, bei allen Verschiedenheiten, eine Gemeinsamkeit existiert: die Glorifizierung der Technik, die Ökonomisierung des Lebens, die Unterwerfung der Natur.
Darin liegt auch die Erklärung, warum die genannten Autoren in der Nachkriegszeit keine Resonanz fanden. Man hat die Adenauer-Zeit oft als restaurativ geschmäht. Das Gegenteil ist wahr. Damals lief das gesamte Westdeutschland, die alten Nazis inklusive, ins Lager der früheren Kriegsgegner über. Auf den Trümmern des Dritten Reiches vermählten sich Kapitalismus und Demokratie und brachten das „Wirtschaftswunder“ zur Welt. Niemals war eine Zeit für Wachstums- und Technikkritik ungünstiger. Der rheinische Kapitalismus Erhardtscher Prägung wischte solchen Skeptizismus mit harter Mark und stetig wachsendem Wohlstand weg.
Erst in den späten 1970er/ frühen 1980er Jahren kehrte die verdrängten Theorien der konservativen Technikkritiker und Ganzheitsdenker wieder, pikanterweise auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums. Erst mit den Grünen wurde die Umweltbewegung links. Heute haben wir den Salat. Wenn Annalena wüsste, wer das ist (und sich nicht nur aufs Völkerrecht konzentriert hätte), sie könnte sich sogar ein bisschen auf Heidegger berufen.
* „Sehr geehrter Herr Klonovsky, mit Ihrer Aussage, ‚dass mir die Technophobiker und Naturromantiker lächerlich sind’, befinden Sie sich leider in schlechter Gesellschaft mit Olaf Lies, niedersächsischer Umweltminister, der ähnliches von sich gibt:
‚Uns muss klar sein: Windenergie wird Teil unserer Kulturlandschaft sein. Hier ist uns nicht geholfen, wenn wir mit Blick auf die extremen und sichtbaren Folgen des Klimawandels einem romantisierten Bild von Landschaft hinterher trauern. Das ist unehrlich.’
Der hat offenbar auch keinen Sinn für die Schönheit der Natur (und auch in ‚Kulturlandschaft’ steckt noch reichlich ‚Natur’).
Die Natur hält doch beides bereit: unglaubliche Schönheit und unglaublichen Schrecken. Sie nur auf das Feindliche zu reduzieren, greift doch viel zu kurz! Die Natur kann gar nicht (nur) der Feind des Menschen sein, denn auch der Planet auf dem wir uns befinden, die Sonne, die Photosynthese, sexuelle Freuden, die Naturgesetze ‚die elektrischen Strom und damit Wohlstand und Gesundheit (abgesehen vom elektrischen Stuhl…) ermöglichen – auch das ist Natur!
Daß Sie gar so undifferenziert argumentieren mögen! Empfinden Sie denn tatsächlich nur Bauchgrimmen angesichts der Weite eines Meeres oder angesichts von der tiefstehenden Sonne beleuchteten abendlichen Wolkenbänken?
Mit freundlichen Grüßen,
*** (‚Naturromantiker’)”
Dank der Technik nicht, geehrter Herr ***. Sonst wäre es äußerst unangenehm, auch nur ein paar Kilometer von der Küste entfernt schwimmend die Weite des Meeres zu genießen. Desgleichen erführe der Blick auf Wolkenbänke durch die Nähe von Fressfeinden vielerorts Einschränkungen. Sollte ich vielleicht besser von Naturverkitschern sprechen? Selbstverständlich mag ich Kulturlandschaften, also die gehegte, domestizierte, durch Pflege, Anbau und sich in die Landschaft fügende Architektur veredelte Natur. Die Windräder schänden die Kulturlandschaften, und das ohne wirklichen Nutzen; deswegen lehne ich sie ab. Die „unglaublichen Schönheiten der Natur” lassen sich ausschließlich dank des technischen Komforts genießen. Und im Gegensatz zu jedem Menschenwerk sind sie ohne jeden Sinn. Die Sonne, deren Strahlen wir unser Leben verdanken, wird die Erde eines Tages auslöschen. Die Natur bringt uns verlässlich um, einzeln und als Gattung. Sie ist so vollendet ohne Sinn, dass sie nicht einmal ein Organ dafür besitzt, sich über diejenigen unter den Menschen zu amüsieren, die sie zu lieben glauben.
PS und doch:
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!