Gastbeitrag: Leser ***, ein in der Schweiz lebender Politikwissenschaftler mit großer chinesischer Verwandtschaft, reagiert auf Gunnar Heinsohn (Acta diurna vom 28. Dezember 2020)
Und: Was können die jungen Leute nach Schule und Studium? Sehr wenig. Als mein Sohn im Alter von 15 aus China nach Deutschland kam, dachte er, dass ihm die Schule hier leicht fallen würde, denn als er auf den Lehrplan Mathe und ähnliches schaute, fand er, dass er das alles in China schon weitaus früher gemacht hatte. Nur: Er war nicht darauf vorbereitet, mit den schönen mathematischen Formeln auch reale Probleme anhand von Beispielen lösen zu müssen. Das war völlig neu für ihn, und er versagte zunächst auf ganzer Linie.
Wenn Sie als Tourist in China Einheimische in Englisch ansprechen, werden sie auf sehr viele Chinesen treffen, die kein Wort Englisch mit Ihnen sprechen können. Der Gedanke, dass die alle kein Englisch an der Schule gemacht haben, wäre allerdings weit verfehlt. Die haben Englisch bis zum Abwinken gepaukt – allerdings fast nur Grammatikregeln. Sprechen ist für die Lehrer überflüssiges Beiwerk und sie können es meist selbst nicht. Mein kleiner Neffe hatte drei Jahre Englisch, als ich ihm Nachhilfe gab. Der Junge ist hochintelligent und hat Bestnoten. Aber er bekam keinen einzigen englischen Satz heraus. Ähnliches gilt für andere Fächer. Chinesisches Lernen ist Theorie-Lernen. Das Ziel ist, wie gesagt, durch die Prüfung zu kommen. Der praktische Nährwert des Gepaukten interessiert nicht.
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Wenn nach der „Schulkarriere” des männlichen Sprösslings noch Geld übrig ist, dann kann er irgendwann heiraten. Beziehungen ohne Trauschein werden von der Verwandtschaft extrem ungern gesehen – und der Druck kommt dann schon, wie das Amen in der Kirche. Und Geld braucht der junge Mann zum Heiraten. Denn es ist nicht wie bei uns, zwei gehen einfach vors Amt und verbandeln sich. Nicht in China. Dort ist die Ehe erstens eine Angelegenheit der ganzen Familie – die muss helfen, und die muss zur opulenten Hochzeitsfeier natürlich auch eingeladen werden. Sie können das am ehesten mit türkischen oder arabischen Hochzeiten vergleichen, chinesische sind ähnlich, nur womöglich noch aufwändiger.
Bis vor wenigen Jahren waren chinesische Richter teilweise noch Leute, die nie ein juristisches Seminar an einer Uni. von innen gesehen hatten. Vielfach stellte man einfach alte Soldaten als Richter ein. Das hat sich verbessert. Aber es bleiben gravierendste Probleme (wen das interessiert, der googele bitte unter dem Namen Prof. Knut Pißler, das ist unsere beste Koryphäe für das chinesische Rechtssystem). In China ist es unfassbar schwer, vor Gericht sein Recht zu bekommen.
Ich fasse kurz zusammen:
„Culture matters”, wie Huntington zu recht feststellte. Kultur bestimmt das Wirtschaften. Und China hat, neben seinen banalen Problemen wie Geburtenrückgang und Überalterung (die chinesische Lebenserwartung steigt schnell) drei tiefgreifende Probleme: das völlig unzureichende Rechtssystem, das z.T. daran krankt, dass Chinesen Gerichtsverfahren als unfein ansehen, und vor allem das Aufkommen einer Generation, die metalitätsmässig mit den Gründervätern (die auch heute noch weitgehend den Betrieb am Laufen halten) nichts mehr gemeinsam hat.
Als Drittes kommt die ausufernde private Verschuldung hinzu, die auf der relativ neuen Unsitte der „conspicuous Consumption”, vor allem beim Heiraten, beruht.
Diese Gemengelage wird Peking noch extremste Kopfschmerzen bereiten
Nachschrift:
China läuft in eine Scylla-und-Charybdis-Problematik hinein. Entweder man entschliesst sich, die Digitalisierung der Wirtschaft zu einer Ausweitung der Regierungskontrolle zu nutzen – dies würde meiner Ansicht nach in eine innere „over-extension” des Staates münden. Oder man lässt konkurrierende innere Machtzentren zu. Beides wäre für die Pekinger Herrschaft dysfunktional. Wir sehen hier, dass totalitäre Regimes, wenn ihre Wirtschaften wachsen, in eine quasi „kybernetische” Falle laufen: Die Komplexität des Systems wird irgendwann so gross, dass eine zentrale Steuerung entweder aufgegeben oder zu einer Art „Organversagen” führen muss.