Die historische Unbildung mancher Bundestagsabgeordneter ist staunenswert. Heute in der Debatte darüber, ob die Antifa verboten werden sollte (ich hätte einen Antrag besser gefunden, der sie zur kriminellen Vereinigung erklärt), lernten Millionen Zuschauer an ihren Volksempfängern nicht nur, dass eine feststellbare Struktur oder Organisation namens „Antifa” gar nicht existiere – ganz im Gegensatz zu einer Struktur namens „Flügel” in der Schwefelpartei –, sondern auch, dass die SPD „seit 157 Jahren antifaschistisch” sei, wie einer der Sozenredner, ein Oberpfälzer namens Uli Grötsch, versicherte.
Wer jetzt spontan an Frans Timmermans denkt, den ehemaligen EU-Vizepräsidenten und Spitzenkandidaten der niederländischen Sozialdemokraten, der vor einem Jahr lächelnd erklärt hatte, der Islam gehöre seit 2000 Jahren zu Europa, begibt sich vor die richtige Schmiede. Beziehungsweise Sonderschule. Immerhin rüffelte Gevatter Grötsch die Grantler und Greiner zur Rechten mit den Worten: „Sie hätten in der Schule besser aufpassen sollen, Antifaschismus hat nichts mit Linksextremismus zu tun.” Und in seiner Debütantenzeit hatte er noch nicht mal etwas mit Faschismus zu tun!
Mancher wird sich noch entsinnen, dass ein großer sozialdemokratischer Theoretiker angelegentlich der G20-Kirmes 2017 zu Hamburg Ähnliches zu Papier und Gehör brachte:
Gewalt ist nicht links, auch wenn sie von Linken ausgeübt wird: Das liegt argumentativ und in puncto Gedankenschärfe sehr nah bei Grötschens Diktum.
Da man sich nicht darauf verlassen kann, dass die Antifa ein paar Männecken in Amberg vorbeischickt, um die Sache auszudiskutieren, muss es stellvertretend hier erledigt werden. Letztlich versucht der SPD-Mann, der pikanterweise Polizeibeamter ist, dem Auditorium unterzujubeln, dass Antifaschismus und Linksextremismus zwei grundverschiedene Dinge seien, Antifaschismus sei gut, Linksextremismus nicht so sehr, aber:
„Alle Antifaschisten sind automatisch Demokraten, weil sie gegen den Faschismus kämpfen.”
Nicht dass Sie glauben, geneigte Leserin, ich will Ihnen etwas unterjubeln – dieser Satz wurde heute im Deutschen Bundestag tatsächlich gesagt, und zwar noch bevor die erste Propagandistin der Linkspartei am Rednerpult Hammer und Zirkel auspacken konnte. Die ins weniger Verfängliche variierte Phrase „Jeder Demokrat ist ein Antifaschist” sollte später noch mehrfach ertönen. Am Ende hatte sich jeder zweite Redner der in ihrer Eigenwahrnehmung einzigen demokratischen Parteien explizit dazu bekannt, Antifaschist zu sein.
Ein Da capo bitte!
„Alle Antifaschisten sind automatisch Demokraten, weil sie gegen den Faschismus kämpfen.“
Es war eine FDP-Maid, blond wie Krimhild und kryptofaschonamens Teuteberg, die sich eine Zwischenfrage erbat und die Erlaubnis dafür erhielt. Sie frug denn durchaus frivol: „Auch Stalin?”
Nein, Stalin sei kein Antifaschist gewesen, erteilte der Redner Bescheid. Der Begriff sei missbraucht worden, unter anderem vom Sowjetdikator, aber auch von den DDR-Genossen. Mit der Okkupation des Antifaschismus – der ja nach Ansicht des Redners anno 1933 bereits 70 Jahre lang Parteieigentum der SPD war – habe Stalin seinen „ganz persönlichen Faschismus” kaschieren wollen.
Stalin war Faschist. Sagte der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch heute im Bundestag. Falls die Tagesthemen und der Kleberclaus es am Abend zu erwähnen vergessen.
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Indem sie versuchen, den „Antifaschismus” als Grundkonsens eines Milieus zu etablieren, das sich als konkurrenzlos demokratisch empfindet, nehmen die Sozis einen Kampfbegriff in ihr rhetorisches Arsenal auf, der von den noch Roteren viele Jahre lang gegen sie selber verwendet wurde. Mitte der 1920 Jahre erfand Grigori Sinowjew den „Sozialfaschismus”. Ihr eigenes Land hatten die Bolschewisten damals bereits hinreichend gesäubert, um auf „Sozialfaschisten” fast nurmehr noch im Ausland zu stoßen. Mit dem Etikett wurde alles auf der Linken stigmatisiert, was nicht auf stalinistische Komintern-Linie einschwenkte. Ganz oben auf der Proskriptionsliste standen die deutschen Sozialdemokraten. Thälmanns KPD tat folgsam mit bei der Schmähung der hellroten Brüder. Aus Sicht der Kommunisten fungierte die Sozialdemokratie als linker Flügel der bürgerlichen oder, in Marx’scher Terminologie, der von der Bourgeoisie beherrschten kapitalistischen Gesellschaft, die als äußerste Reaktion auf den Siegeszug des Kommunismus den „Faschisten” die Macht übergab. Erst später in der DDR sollte die Zwangsvereinigung mit den Kommunisten die Sozis von ihrem sozialfaschistischem Kainsmal befreien.
Nachdem Sinowjew ihn auf die Idee gebracht hatte, nannte Stalin Sozialdemokratie und Faschismus „Zwillingsbrüder”. (Später ließ er Sinowjew hinrichten, um nicht in einen langwierigen Copyright-Prozess hineingezogen zu werden.)
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Wir kommen jetzt zu der im Kontext des bisher Ausgeführten nicht mehr leicht zu beantwortenden Frage, ob Honecker Antifaschist war. Er saß unter Hitler im Zuchthaus, als Kommunist, also als Mitglied einer Truppe, die vorher gegen die Sozialfaschisten und die Nationalsozialisten gleichermaßen Rot Front gemacht hatte. Die Armee des Faschisten Stalin hat ihn schließlich befreit. Warum sollte der Faschist Stalin einen Antifaschisten befreien?
Fragen über Fragen…
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Ernst beiseite: Der sogenannte Antifaschismus war die Staatsdoktrin und der Staatsmythos der DDR. Auf nichts beriefen sich die Genossen öfter und inniger. Die DDR war der deutsches Staatsgebiet gewordenen Sieg Stalins über Hitler, aber nur die Amalgamisierung mit dem Antifaschismus hat den Kommunisten in Mitteldeutschland eine Legitimation verschaffen können. (Dass sie immer vom „Faschismus” redeten, wenn sie eigentlich den Nationalsozialismus meinten, hatte mit einer Art sozialistischem Inzesttabu zu tun.) Ohne die Nazis hätten die Genossen völlig nackt dagestanden, denn sie hatten ja, außer ein paar rasch platzenden Illusionen, den Menschen weder politisch noch wirtschaftlich noch kulturell etwas anzubieten. Zeit ihrer Existenz stand die DDR unter diesen ambivalenten Sternen. Derzeit erleben wir, wie die BRD sich anschickt, diese Konstellation wiederzuentdecken. Dass Staaten, die den Antifaschismus zu ihrer Doktrin erheben, irgendwann auf die permanente Ausfindigmachung und Bekämpfung sogenannter Faschisten angewiesen sind und immer autoritärer werden, darf als ein Weltgesetz gelten.
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Alle Fraktionen haben den AfD-Antrag zum Verbot der Antifa abgelehnt, ein CDU-Redner mit dem Argument, man könne nicht auf der extremen Linken etwas verbieten, ohne parallel dazu auf der extremen Rechten ein Gleiches zu tun. Welche regelmäßig durch Gewalttaten und Gesetzesbrüche auffallende Organisation mit festen Adressen in besetzten Häusern auf der Rechten in Frage käme, führte er nicht im Detail aus.
Stattdessen war im Plenum wieder viel von Hintermännern – pardon: Hinterfrauen und ‑männern bzw. Hintermenschen –, von geistigen Wegbereitern (-bereiterinnen) und vom „parlamentarischen Arm des Rechtsextremismus” die Rede. Beim Linksextremismus scheinen die oberen Extremitäten verkrüppelt zu sein, jedenfalls hat er keine Arme im Parlament.
Stellen wir einfache Fragen: Können Linke, Grüne und Sozis unbehelligt Parteitage und Kongresse abhalten, sich auf öffentlichen Plätzen versammeln, Hotels und Gaststätten mieten, oder werden sie von rechten Krawalltrupps daran gehindert? Wie verhält es sich im Gegenzug bei der parlamentarischen Rechten? Und gefällt die Antwort darauf SPD, Linken, Grünen und der Kanzlerin eventuell nur zu gut?
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Übrigens: Der primäre Bezugsrahmen des Rechtsextremismus ist nicht der Linksextremismus, sondern die Migrantenkriminalität. Aber wie wir in den Vereinigten Staaten sehen, sind an dieser einstweilen noch molekularen Bürgerkriegsfont bizarre Allianzen zu erwarten.
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Leser *** bringt begriffliche Butter bei die Fische:
„Die DDR war nicht antifaschistisch, sie war nationalsozialistisch, der eigentliche Nachfolgestaat des 3. Reichs auf deutschem Boden. Schon die alberne Kostümierung, farblich leicht nuanciert. Dazu eine Grenze, die nach innen wie außen ausgrenzend national war. Was gibt es Nationaleres als ‚Keiner rein, keiner raus?’ Sozialistisch ist ja wohl keine Frage.”
Man kann durchaus zugleich national-sozialistisch („Sozialismus in einem Lande”, Stalin) und antifaschistisch sein. Witzigerweise hatten ja bereits die braunen nationalen Sozialisten Vorbehalte gegenüber den originären Faschisten, obwohl sie gegen denselben Gegner standen. (Wer weiß heute noch, dass Angehörige der von Horia Sima geführten „Eisernen Garde”, radikale rumänische Klerikalfaschisten, in Buchenwald und Sachsenhausen eingesperrt waren – sie hatten gegen Antonescu geputscht und mussten emigrieren.) Das hing im Wesentlichen damit zusammen, dass der Faschismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus klerikal, international, elitär, ästhetizistisch und tatsächlich rechts war. Die Faschisten wollten die bürgerliche Gesellschaft und deren Traditionen gegen den Angriff von links verteidigen, den der Marxismus und speziell die russische Revolution losgetreten hatte, aber sie hatten nicht vor, eine sozialistisch nivellierte Volksgemeinschaft zu schaffen, andere Länder zu erobern und ihre Völker durch Umvolkung sukzessive auszurotten. Welcher Faschistenführer wäre auf die Idee gekommen, seine Landsleute irgendwo im Osten ansiedeln zu wollen?
Betrachtet man das öffentliche Erscheinungsbild des Dritten Reichs, dann findet sich kaum ein Unterschied zu den kommunistischen Diktaturen des Ostblocks: Es gibt nur eine Partei; deren Herrschaft ist absolut, wenngleich die wirkliche Macht (bis über Leben und Tod) von einem kleinen Klüngel innerhalb der Parteiführung ausgeübt wird; das gesamte gesellschaftliche Leben ist nach militärischem Muster durchorganisiert, das Leben des Einzelnen desgleichen; bereits die Kinder stecken in Einheitskleidung; das Kollektiv ist absolut, der Einzelne demgegenüber nichts; eine Fülle von zentralistischen Organisationen saugt die Menschen auf und bestimmt über ihren Tagesablauf, die öffentliche Meinung ist gleichgeschaltet, rund um die Uhr läuft Propaganda, regelmäßig gibt es Massenkundgebungen und Aufmärsche, überall sieht man Fahnen, Parolen und Uniformen etc. pp.
Worin besteht der Kern des Sozialismus? In der Nivellierung der gesellschaftlichen Unterschiede durch Kollektivierung. „Wir sozialisieren die Menschen”, soll Hitler gegenüber Hermann Rauschning gesagt haben (der als Quelle wenig glaubwürdig ist, aber der Ausspruch ist es doch); die Sozialisierung der Banken und Unternehmen sei daneben sekundär. Am 8. September 1937 notierte Goebbels in sein Tagebuch, der Führer habe auf dem Parteikongress „gegen wirtschaftliche Eigenmächtigkeiten” gewettert: „Wehe der Privatindustrie, wenn sie nicht pariert. 4Jahresplan wird durchgeführt.” Im Mai desselben Jahres hatte Hitler im Duktus einer großen Amtsnachfolgerin erklärt: „Ich sage der deutschen Industrie zum Beispiel: ‚Ihr müßt das jetzt schaffen’. … Wenn mir die deutsche Wirtschaft antworten würde: ‚Das können wir nicht’, dann würde ich ihr sagen: ‚Gut, dann übernehme ich das selber, aber das muß geschafft werden.’ ” (Mehr zur Frage, ob der NS eher links oder rechts war, hier, ein bisschen nach unten scrollen.)
Armin Mohler, der das Dritte Reich als Zeitzeuge erlebt hat, berichtet in seinem Essay „Der faschistische Stil”, wie er 1942 während seines Studiums in Berlin „gegenüber einem höheren Hochschulbeamten” den Namen Ernst Jünger erwähnt habe, woraufhin der Mann, „ein linientreuer Nationalsozialist”, ihn misstrauisch angeblickt und „mit tadelndem Unterton” gesagt habe: „Jünger ist ein Faschist!” Und sogleich als Erklärung nachschob: „Jünger kämpft nicht für sein Volk – im Kriege kämpfte er um des Kämpfens willen.” Hellhörig geworden, so Mohler, habe er in der Folgezeit festgestellt, dass die Vokabel „faschistisch” im internen Gebrauch der Nationalsozialisten der „geistige(n) Diskriminierung” diente. Faschistisch zu sein, war „undeutsch”.
Den Faschisten mangelte es an völkischem Dünkel und der Verachtung des Gegners. Nach ihrem Sieg im spanischen Bürgerkrieg wünschte die Falange, dass im Valle de los Caidos (Tal der Gefallenen) auch Gebeine von gefallenen Rotspaniern beigesetzt werden – ein für Nationalsozialisten unvorstellbarer Gedanke (die katholische Kirche weigerte sich aber, Kommunisten zu segnen). Faschismus sei „aktiver Pessimismus”, schrieb André Malraux. Und Wolfgang Venohr statuierte: „Faschismus, das ist die bürgerliche Gesellschaft im Belagerungszustand.”
„Mit solchen Begriffen darf man nicht zu schablonenhaft umgehen – ihre Benutzung erfordert historischen Takt.” (Mohler). In einer Gesellschaft, deren Wortführer inzwischen die gesamte Geschichte der weißen Völker und Staaten verurteilen, kann man dergleichen nicht erwarten. Weswegen ich auch nicht bereit war, über die tiefenbescheuerte Bundestagsdebatte in einem ernsthaften Ton zu schreiben.