Vortrag, gehalten am 6. November 2019 im Berliner Abgeordnetenhaus zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, auf Einladung der AfD-Fraktion, die mich bat, die Frage zu traktieren, warum das regelmäßige Scheitern linker Utopien nicht zu deren dauerhafter Delegitimierung führt
Meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,
das Thema meines Vortrags ist sehr ambitioniert, wahrscheinlich überambitioniert. Wüsste ich tatsächlich die definitive Antwort auf diese Frage, dann stünde ich ja nicht hier, sondern ich säße in einem goldenen Pavillon auf dem Petersplatz in Rom oder auf dem Roten Platz in Moskau, und die Menschen würden Geld bezahlen, um einen Blick auf mich werfen zu dürfen.
Andrerseits ließe sich die Frage mit einem einzigen Halbsatz beantworten: weil die Welt notwendig unvollkommen, ungerecht und oft auch grausam ist, weil die Reichtümer und Ressourcen der Erde höchst ungleich verteilt sind und sich das niemals ändern wird.
Aber für einen Halbsatz haben Sie mich nicht eingeladen. Ich muss die Dreiviertelstunde vollmachen. Erwarten Sie eher einen erschöpfenden Vortrag als eine erschöpfende Behandlung des Themas.
Das Problem beginnt damit, dass die Linke kein einheitlicher Block ist, weshalb jeder pfiffige Progressist die themensetzende Frage als viel zu pauschal ablehnen würde. Sie kennen das beispielsweise auch vom Islam, den Islam gibt es nicht, sondern nur verschiedene Richtungen, Schulen, Spielarten, Ausprägungen. Gleichwohl sind aus der Perspektive des Nichtmoslems die Gemeinsamkeiten zwischen den Islamen weitaus größer als die Unterschiede. Rotchina und die Sowjetunion waren sich so wenig grün wie Sunniten und Schiiten, doch aus der Perspektive des Westens gehörten sie zum selben Machtblock.
Allen linken Strömungen und Schulen ist immerhin gemeinsam, dass sie antikapitalistisch sind, dass sie staatsgläubig sind, dass sie die Menschen sozialisieren bzw. kollektivieren wollen, und dass sie die Gleichheit aller Menschen und Menschengruppen als Tatsache dekretieren, obwohl sie nur das utopische Ziel linker Politik ist.
Würde man es sich so einfach machen, wie es der Allerwelts-Linke gemeinhin zu tun pflegt, indem er alle Konservativen als Prä‑, Proto‑, Krypto‑, Neo- oder Quasi-Nazis denunziert, dann könnte man mit dem kanadischen Libertären Stefan Molyneux erklären: „Pro-kommunistisch zu sein, ist ganz einfach ein Test auf Soziopathie. Wenn jemand hört, dass über 100 Millionen abgeschlachtet wurden und erwidert: ‚Ja, aber…‘ – Bumm. Totaler Soziopath.“
Prokommunistisch zu sein, müsste zumindest die Konsequenz nach sich ziehen, dass der- oder diejenige nach Kuba übersiedelt, nach Venezuela oder Nordkorea. Passiert aber praktisch nie. Als der Ostblock noch existierte, ist ja auch kaum ein West-Linker in die DDR oder die UdSSR übergesiedelt. Einer, der es tat, war der Herr Kasner, der Vater einer nicht ungefährlichen Politikerin. Ein anderer war Peter Hacks, der begabteste stalinistische Dichter deutscher Zunge. Nach dem Zusammenbruch der DDR fasste Hacks das Schicksal der SED in die Verse:
„Von zwei Millionen blieben
Kaum eine Handvoll grad,
Es hat sie aufgerieben
Gorbatschows Verrat.“
Bei der Resignation ließ er es aber nicht bewenden. Hacks wollte nicht ohne Verheißung scheiden und notierte deshalb geradezu das Motto für meinen Vortrag:
„Gut, das Jahrtausend war nichts, sprechen wir
Von Nummer drei, Genossen, oder vier.”
Anno 1987, kurz bevor die DDR milde entschlief, erklärte der Ostberliner Dramatiker Heiner Müller in einem Interview:
„In den westlichen Industrienationen geht es jetzt nur noch darum, einen Zustand zu konservieren, der auf Dauer nicht haltbar ist. Was hier passiert, ist die Emanzipation des Kapitals von der Arbeiterklasse. Damit meine ich die Arbeiter aus den ärmeren Ländern. In der BRD sind es die Gastarbeiter, in den ehemaligen Kolonialmächten die Emigranten aus den früheren Kolonien. Europa kann nur noch auf die Folgen der eigenen Politik reagieren. Arbeitslosigkeit, ökonomische Schwierigkeiten, die Probleme mit der Computerisierung, das alles ist doch nicht lösbar ohne eine globale kommunistische Perspektive.“
Der Interviewer fragt: „Gut, aber was geschieht, wenn verwirklicht ist, wonach Sie streben?“
Müllers Antwort: „Das wird man sehen.“
Hier haben wir im Grunde alle Ingredienzien der linken Weltsicht beieinander. Zunächst die realistische Diagnose einer Misere, sofort verbunden mit der Schuldzuschreibung, sodann die daraus entstehende Freund-Feind-Konstellation, das Zukunftsversprechen, aber die Verweigerung einer konkreten Auskunft darüber, wie die verheißene neue Ordnung funktionieren soll. Wie Peter Hacks war auch Heiner Müller ein blitzgescheiter Mensch. Er hat mir einmal versichert, er sei kein Kommunist und sei auch nie einer gewesen. Und trotzdem lässt er das Fallbeil der kommunistischen Perspektive auf den Hals des Kapitalismus sausen.
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist auch kein Dummkopf. Žižek gilt als eine Art Popstar linker Gesellschaftskritik. Auf die Frage, was nach dem Kapitalismus der Gegenwart kommen soll, erwiderte er: „Natürlich der Kommunismus, wenn auch ein anderer als der des ausgehenden 20. Jahrhunderts.“
So steht es in der „Zeit“ vom 1. Dezember 2011. Im dem Artikel – ein Reporter hatte Žižek auf einer Vortragsreise begleitet – heißt es weiter: „Žižek spricht zu seinem großen Thema: Ideologiekritik der Gegenwart aus marxistischer Perspektive. Die Frage lautet: Wie lässt sich das kommunistische Projekt nach den Katastrophen im 20. Jahrhundert weiterführen?“
Es geht also nur darum, wie. Am dass scheint kein Zweifel zu bestehen.
Nach der Diagnose von Stefan Molyneux hätten wir es hier mit drei Soziopathen zu tun. Es gibt allerdings noch weit Despektierlicheres für einen Intellektuellen, als Soziopath genannt zu werden, nämlich in einem Atemzug mit Kevin Kühnert genannt zu werden. „Ohne Kollektivierung werden wir den Kapitalismus nicht überwinden“, hat der sogenannte SPD-Hoffnungsträger vor Kurzem gesagt. Deswegen sei er hier als vierter kommunistischer Musketier zu Hacks, Müller und Žižek gestellt.
Aber auch Kevin Kühnert zieht es nicht dorthin, wo der Kommunismus schon durchgesetzt ist. Nicht mal für ein Studien-Sabbatical mag er nach Venezuela migrieren. Warum?
Meine These lautet: Die Linke hat aus dem Zusammenbruch der linken Staaten, der realsozialistischen Staaten, eine Lehre gezogen. Wenn jeder sozialistische Staat der Erde aus wirtschaftlichen Gründen kollabiert, dann gibt es offenbar keine funktionierende linke Wirtschaft. Es gibt ja auch keinen linken Wirtschaftsteil in irgendeiner Zeitung, nicht mal der Wirtschaftsteil des Süddeutschen Beobachters ist links. Links sind die Feuilletons. Links sind die Politikredaktionen. Die ins Staatspolitische übertragene Folgerung daraus lautet: Lassen wir den Kapitalismus weiterleben, aber sorgen wir dafür, dass wir die kulturelle Hegemonie haben, dass wir die Öffentlichkeit beherrschen, dass wir den Sozialstaat kontrollieren, dass die Steuern möglichst hoch sind, dass möglichst viel umverteilt wird, wobei natürlich wir diese Geldströme kontrollieren müssen, damit auch möglichst viel in unsere Taschen fließt.
Die Unternehmer müssen gar nicht enteignet werden – diese Leute verstehen sich ja aufs Geschäft viel besser als linke Parteifunktionäre und Feuilletonisten –, es genügt, am Ende der Wertschöpfungskette mit vorgehaltener Moralpistole zu stehen und jeden, der etwas erwirtschaftet und damit Geld verdient hat, im Namen der Gerechtigkeit abzumelken. Beim Melken dürfen die Linken natürlich ein Liedchen trällern, und zwar, nach dem Text von Jürgen Habermas, das Lied von der „radikalreformistischen Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft, die in den Formen einer rechts- und sozialstaatlichen Massendemokratie gleichzeitig mit ihren Schwächen auch ihre Stärken entfaltet hat“. Nicht mehr Enteignung, sondern radikalreformistische Kritik. Und dabei immer schön weitermelken. Das technokratische Rotwelsch von Habermas meint: Abschöpfung durch Diskurshegemonie und Mentalitätsherrschaft. Ein Institut am Starnberger See sollte mindestens dabei herausspringen.
Die Linke hat begriffen, dass sie den Kapitalismus nicht stürzen muss, um zu herrschen, was ja übrigens schon ein gewisser Herr Hitler begriffen hatte, in dessen Welt- und vor allem Staatsbild hinreichend viele sozialistische Elemente Eingang fanden. Die heutige Linke will nicht mehr der Widerpart oder Überwinder des Kapitalismus sein, sondern sein Parasit. Das ist das Ergebnis der realsozialistischen Lektion.
Hier ist ein Einschub fällig. Jeder Linke würde jetzt einwenden, dass ja die wenigen Superreichen immer reicher werden und sich immer mehr von den normalen Menschen abkoppeln, vor allem in den USA. Die Plutokratie dort zerstöre die Demokratie. Meine These könne also nicht stimmen.
Meine Damen und Herren, ein Vortrag sollte stringent sein, die Welt ist es nicht. Sie ist verwirrend komplex. Es gibt heute eine bizarre Allianz zwischen globalem Kapital und internationalistischer, multikulturalistischer Linker, weil sie einen gemeinsamen Feind haben, die Völker und Nationen, derzeit vertreten von den Populisten. Das wäre ein Thema für einen gesonderten Vortrag. Meine These bleibt davon unberührt. Sie lautet, dass die Linke sich als Parasit auf eine Gesellschaft setzt, deren Wirtschaft kapitalistisch organisiert ist. Ich behaupte nicht, dass sämtliche Reichen davon betroffen sind. Gerade die Superreichen haben Anwälte, Steueroasen, Finanzdealer und andere Möglichkeiten, ihr Vermögen der Umverteilung zu entziehen. Es sind im Gegenteil die kleinen, stationären Unternehmen, der Mittelstand, die sogenannten Besserverdiener, die zur Kasse gebeten werden.
Meine Damen und Herren, wenn ich hier von Parasiten rede, steht automatisch der Vorwurf im Raum, ich spräche die Sprache des Unmenschen. Deswegen ein kleiner Exkurs.
Der Begriff Parasit stammt vom altgriechischen Wort παράσιτος. Das Präfix παρά bedeutet „bei“, „neben“, auch „gegen“, σιτος wiederum stammt von σιτεῖσθαι, „essen“. Es ist also jemand oder etwas, der oder das bei jemanden gegen dessen Willen mitisst.
In der Biologie bezeichnet Parasitismus den Ressourcenerwerb eines Lebewesens auf Kosten eines anderen, meist größeren Organismus, der als Wirt dient. – Man könnte also sämtliche kapitalismuskritischen Schriften der postkommunistischen Linken als ausgefüllte Bewirtungsfomulare betrachten.
Der Parasitismus dient der Steigerung der Fitness des Parasiten, was bisweilen mit einer Verminderung der Fitness des Wirtes einhergeht, jedenfalls dem Wirt eine Forcierung seiner Lebensanstrengungen abverlangt. Das nennt sich in der Politik Umverteilung.
Wird dem Wirt kein nachhaltiger Schaden zugefügt, spricht man in der Biologie von Probiose, in der Politik von sozialer Gerechtigkeit.
Mitunter führt der Parasitenbefall auch zum Tod des Wirtes. In diesem Fall muss der Traum von einem menschlicheren, gerechteren Wirt erneuert werden. –
Parasitismus ist eine biologische Normalität. Aber auf den Menschen angewendet bekommt der Begriff einen üblen Beiklang, der mit dessen sozialdarwinistischer und eugenischer Verwendung zu tun hat – erinnert sei an die „unnützen Esser“ bei den Nazis. Ich werde deshalb später einen Ersatzbegriff dafür vorschlagen. Ich gestatte mir aber den Hinweis, dass der Begriff „parasitär“ zum Standard-Repertoire der klassischen Linken gehörte.
Lenin statuierte 1916: „Der Imperialismus ist: 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus.“ Im DDR-Staatsbürgerkundeunterricht bekam ich das eingebimst. Jenseits der Mauer faulte und starb also der parasitäre Kapitalismus, und unsereins schaute staunend im Fernsehen der Westwerbung beim Verfaulen zu. Es bereitet mir also ein gewisses Vergnügen, den Begriff „parasitär“ nunmehr gegen die Linke zu kehren, zumal der Kapitalismus der größte Wertschöpfer der gesamten Menschheitsgeschichte ist, während sich die Linke, sofern sie überhaupt etwas produziert, vorwiegend mit der Produktion von Theoriemüllhalden beschäftigt.
Sozialistische Politik ist der Weg, über die Bevormundung Anderer an das Geld der Anderen zu kommen und es mit einem gewissen Mehrwert für die eigene Tasche an seine Klientel zu verteilen. Diese Klientel ist wandelbar, konstant bleibt lediglich, dass die Linke in deren Namen Forderungen stellt, denn die Klientel ist unmündig. Das heißt, die Linke muss ständig neue Betreuungskollektive auftreiben. Es begann mit den Proletariern, als deren Anwalt sich die Linke aufspielte, die aber mit dem Kapitalismus besser fuhren, weshalb sich die Linke neue Mündel suchen musste: die Frauen, die Homosexuellen, die Migranten, die Afrikaner, die Flüchtlinge. Mit dem Weltklima hat die Linke inzwischen den ultimativen Mandanten gefunden, einen Mandanten, der sich weder äußern noch davonlaufen kann.
Schade eigentlich, dass man unseren linken Klimarettungs-Sanitätern die Atmosphäre nicht anvertrauen kann, auf dass sie zeigen dürfen, was sie draufhaben. Aber die realsozialistischen Staaten haben es ja schon demonstriert. Es gibt eine eindrucksvolle Karte des Ausstoßes von Schwefeldioxid – im Gegensatz zum Kohlendioxid ein definitiv giftiges Gas – in Deutschland 1989. Die DDR, speziell die Industriegebiete in Sachsen und Thüringen, liegt dort um ein Vielfaches vor der BRD. Ohne den Kapitalismus als Wirtstier bringt die Linke nur Unheil zustande. Johannes Gross hat das in die reizende Sentenz gefasst: Honecker musste 17 Millionen Menschen unterdrücken um den Lebensstandard eines westdeutschen Handwerksmeisters zu erreichen, der 17 Mitarbeiter beschäftigt.
Deswegen musste die DDR sterben. Aber sie starb nur, um im Westen wieder auferstehen zu können. Ich meine, die DDR hat überlebt, gerade weil sie als Staat verschwunden ist. Was aus Ländern wird, die sozialistische Staaten geblieben sind, können Sie wie gesagt in Kuba, Venezuela oder Nordkorea studieren: Kollaps der Wirtschaft, Massenarmut, Massenflucht. Gerade die marktwirtschaftliche Frischblutzufuhr hat den Zombie DDR wieder fit gemacht.
Und so konnte es geschehen, dass FDJ-Sekretärinnen in Führungspositionen, Politkommissare, protestantische Staatskirchenpfaffen, Stasi-Spitzel, Kader für die Antifa-Ausbildung, Fachkräfte für Zersetzung, Westlinkenfinanzierer, TV-Moderatorinnen und eine ganze Staatspartei mitsamt ihres verschobenen Vermögens im vereinigten Deutschland überlebten. Die sozialistische Mentalität, die antibürgerliche Mentalität, die Kollektiv- oder Herden-Mentalität, die Mucker- und Maulkorb-Mentalität, die Sozialneid-Mentalität, die Gleichheit über Freiheit stellende Mentalität, all das hat überlebt – und zwar, weil dieser Mentalität im Westen ein großes artverwandtes Soziotop entgegenseufzte. Dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Ostblock-Staaten fordern rote und grüne Politiker ganz ungerührt die Überwindung des Kapitalismus, Journalisten rufen nach Autofahr‑, Fleisch- und Flugverboten. Nochmals: Der entscheidende Wesenszug des Sozialismus besteht darin, dass er die Menschen in seinem Herrschaftsbereich sozialisieren, also ihrer Freiheit und Individualität berauben will, alles andere ist daneben sekundär.
Ich bin Ihnen aber die Antwort schuldig, warum die Sache so läuft, obwohl gerade das realsozialistische Desaster so offenkundig gewesen ist, dass auch nur die Andeutung eines Comebacks sämtliche Kapitolinischen Gänse in ein aufgeregtes Schnattern versetzen müsste.
Es gibt drei Impulse, von denen die Linke zehrt und wahrscheinlich bis ans Ende aller Tage zehren wird: Der egalitäre oder Gerechtigkeits-Impuls, der anti-chaotische oder Komplexitätsreduzierungs-Impuls, der religiös-utopische Impuls.
Beginnen wir mit dem egalitären Impuls. Er wuchs aus dem uralten Gerechtigkeits-Verlangen, das wohl jede Kultur kennt, wie jede Kultur auch den Rechtsprecher als Hersteller des Rechtsfriedens kennt. „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“, lautet ein berühmter Ausspruch des englischen Priesters John Ball aus dem 14. Jahrhundert, der eine Wendung ins Soziale ankündigt. Gerecht bedeutet aber nicht gleich, im Gegenteil, die Forderung nach Gleichheit ist eine Pervertierung der Gerechtigkeit.
Der heutige 08–15-Linke ist von einer tiefen Sucht nach Gleichheit erfüllt. Er möchte, dass die Gesellschaft ihm das zurückerstattet, was die Biologie ihm verweigert hat. Das Postulat der Gleichheit gehört zu den Ideen von 1789, die sich in der gesamten westlichen Welt bis in die letzte Pore der Gesellschaft durchgesetzt haben. Napoleon, der Erbe der Revolution, hat dazu die famose Bemerkung gemacht: „Die Idee der Gleichheit gefiel mir, weil ich mir davon Erhöhung versprach.“
Es handelt sich wohlgemerkt nicht um die Gleichheit vor Gott, die das Christentum in die Welt brachte, oder um die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, wie sie Friedrich der Große einführte – die amerikanischen Gründerväter hielten noch Sklaven, als Friedrich den Handel mit Negersklaven zu einer Schande des Menschengeschlechts erklärte –, sondern um soziale Gleichheit. Diese Gleichheit nennt sich aktuell Chancengleichheit oder positive Diskriminierung.
Die gesamte Geschichte vor 1789 ist vom exakt gegenteiligen Impuls geschrieben worden: dem Trieb, zu herrschen, sich auszuzeichnen, sich hervorzutun, der Reichere, Erfolgreichere, Stärkere, Klügere, Bessere, der Sieger zu sein. Die Idee der Gleichheit wäre in traditionellen Gesellschaften überhaupt nicht verstanden worden; man hätte ihre Verkünder für Verrückte gehalten. Weder Homer noch Goethe hätten damit etwas anfangen können. Dieser Paradigmenwechsel ist eines der verblüffendsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte.
Die Idee der Gleichheit kam er in dreierlei Gestalt über die Welt: als Verheißung, als Vorwand, als Lüge.
Heute hält die Lüge – milder formuliert: die erwünschte Illusion – des Egalitarismus die westlichen Gesellschaften so fest im Griff, dass sich sogar Milliardäre, Nobelpreisträger und Olympiasieger zu ihr bekennen, also praktisch ihre wandelnden Dementis. Ich nenne Ihnen dazu vier Beispiele von Tatsachen, die so evident sind, dass man sich jede Erklärung sparen kann.
Erstens: Jeder Mensch besitzt seinen individuellen Rang. Der Rang bezeichnet die Persönlichkeit eines Menschen, die Summe seiner Eigenschaften, seinen Charakter, seine Fähigkeiten, seinen Geist, seinen Stolz, seine Standhaftigkeit. Dieser Rang unterscheidet Menschen stärker voneinander, als es ein Dienstrang je könnte.
Zweitens: Auch ethnische Kollektive unterscheiden sich in ihren Eigenschaften, Talenten und Mentalitäten signifikant voneinander.
Drittens: Zwischen den beiden Geschlechtern existieren fundamentale Unterschiede.
Viertens: Es gibt eine Rangordnung der Kulturen.
Jede dieser Feststellungen ist eigentlich eine Binse. Mit jeder bekommen Sie in der Öffentlichkeit Ärger. An einer westlichen Universität dürfen Sie das nicht einmal denken. Und obwohl unter Hypnose sich wohl kaum ein Mensch zur Gleichheit bekennen würde, ist offiziell alle Welt von ihr überzeugt.
Der historische Sieg egalitärer Wahrheiten in der Moderne bedeutet die massenhafte Verbreitung einer Mentalität, die mit der Massendemokratie ihren adäquaten Staat gefunden hat, in dem sie unangefochten herrscht. Jeder im Westen Lebende – mit Ausnahme der gerade neu Hereingeschneiten – ist in der emanzipatorischen Brühe gegart worden, deshalb ist heute jeder in seinem Menschenbild „links“. Öffentlich dem egalitären Menschenbild zu widersprechen, führt zum sozialen Tod.
Chancengleichheit ist im Wesentlichen die Chance auf einen unendlichen Eroberungsfeldzug mit integriertem Rachefaktor. Es stehen immer neue Rekruten dafür zur Verfügung, allein die Bevölkerung Afrikas wird bis zum Jahrtausendende auf etwa vier Milliarden anwachsen. Wer in wessen Namen Chancengleichheit fordern wird, dürfte klar sein. Wer die Chancen bereitzustellen hat, ebenfalls. Wer sich weigert, ist ein Unmensch. Mit seinem aktuellen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht ein Grundrecht aufs Versorgtwerden postuliert, ein Grundeinkommen ist in Deutschland künftig garantiert, und zwar tendenziell für die gesamte zu Tisch geladene Welt. Die Enteignung ist auf Permanenz gestellt.
Zweitens: Der anti-chaotische oder Komplexitätsreduzierungs-Impuls. Menschen sind staatenbildende Wesen. Sie brauchen sozusagen Exoskelette in Gestalt von Strukturen, Organisationen, Institutionen, aber auch von Werten und Moralvorstellungen, um existieren zu können. Der einzelne Mensch ist kaum weniger hilflos und desorientiert wie die einzelne Ameise. Ein Mindestmaß an Ordnung und Sicherheit sowie ein gewisser Zentralismus erscheinen den meisten Menschen natürlich. Dagegen fürchten sie das Chaos und die Anarchie. Genau diesen Eindruck – Unordnung, Unsicherheit, Chaos, Anarchie – erweckt aber die freie Marktwirtschaft. Es bedarf geistiger Anstrengung, um ihre Funktionsweise überhaupt zu verstehen.
Was verspricht der Sozialismus? Frieden, Güte, Harmonie, Teilen, Abgeben, Selbstlosigkeit, Gemeinschaft, das sogenannte Soziale eben, das große Miteinander. Die Gesellschaft als vegetarischer Öko-Bauernhof.
Der Kapitalismus dagegen appelliert an den Egoismus, die Gier, die Profitmaximierung, den Konkurrenzkampf, das große Gegeneinander. Die Gesellschaft als Wildnis. Deshalb sind viele Menschen rein gefühlsmäßig der Ansicht, Sozialismus sei besser als Kapitalismus.
Das Leben in der DDR, aus der ich stamme, war unfrei, ärmlich und piefig, aber geordnet, berechenbar und überschaubar. Der Hofhund muss zwar zeitlebens an der Kette liegen, aber er bemitleidet den Fuchs, weil der sich sein Futter selber suchen und eventuell hungern muss. Es gehört zu den traurigen empirischen Gewissheiten unserer Gattung, dass die Hofhunde in der Mehrzahl sind.
Drittens: Der religiös-utopische Impuls. Er äußert sich im Traum von einer sogenannten menschlichen und gerechten Gesellschaft. Sein Wunschziel besteht darin, mit der berühmten suggestiven Formulierung von Marx, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Wer würde da nicht unterschreiben! Bezeichnenderweise lässt Marx mit diesen Worten, die praktisch auf eine Säkularisierung der Bergpredigt hinauslaufen, die Kritik der Religion enden. Die Religion war für Marx bekanntlich „das Opium des Volkes“, dafür geschaffen, den Menschen durch Jenseitshoffnungen mit dem miserablen Diesseits zu versöhnen. Das von Marx stattdessen angebotene Heroin sollte dagegen rein innerweltlich wirken. Der Gott des Menschen ist seither der Mensch, zumindest in linken Traktaten und Obama-Reden. Tatsächlich ist der Mensch des Menschen Wolf geblieben. Kein Grund, mit dem Träumen aufzuhören.
Eric Voegelin hat für die Bewegungen des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus den Begriff der „politische Religionen“ geprägt. Es gibt gute Gründe dafür, den Kommunismus als christliche Häresie und den Nationalsozialismus als kommunistische Häresie zu betrachten, aber das führt hier zu weit. Die realsozialistischen Staaten waren jedenfalls die Gottesstaaten der Atheisten. Wenn religiöse Bewegungen ihr Ziel verfehlen, ist das kein Grund, das Ziel aufzugeben; der Heiland hat ja vorgeführt, dass Scheitern Siegen heißt, wenn man als Erlöser unterwegs ist. Der zahlenmäßig stärkste Verbündete der Linken ist heute keineswegs zufällig ein Protestantismus, der nicht mehr an Gott glaubt und seinen Zerknirschungsfuror innerweltlich ausleben muss.
„Die Revolution wird sich schon morgen ‚rasselnd wieder in die Höh’ richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“, lauteten die letzten Worte, die Rosa Luxemburg niederschrieb, bevor sie ihren eigenen Golgatha-Weg beschritt. Während für die kommunistische Predigerin noch das Prinzip des skin in the game galt, riskieren heutige westliche Intellektuelle nichts, wenn sie sozialistische Ideale verkünden. Sie müssen nicht in den desolaten Systemen leben, die sie selbst propagieren und aus denen viele Menschen flüchten. Sie haben es sich in der freien kapitalistischen Welt bequem eingerichtet. Aber da ist diese verfluchte Lücke, die Gott lässt, die Leerstelle des Sinns, die gefüllt werden muss.
Wie das Paradies wurde inzwischen auch die Hölle säkularisiert, sie heißt jetzt Klimakatastrophe. Die „Fridays for Future“-Demos sind keine politischen Proteste, sondern religiöse Massenhysterien. Es sind Erweckungsveranstaltungen einer neuen chiliastischen Weltreligion. Der Begriff „Klimaleugner“ verrät im Grunde alles. Nur die Öko-Diktatur führt ins Neue Jerusalem. Und der Linksspießer kauft sich den Ablasszettel für seine Flüge und SUV-Fahrten, indem er sein Kreuz bei den Grünen setzt.
Meine Damen und Herren, man findet in revolutionären Bewegungen immer wieder eine Verbindung von religiösen und sozialen Motiven. Ich erinnere an die Wiedertäufer in Münster oder die Hussiten in Böhmen. Der deutsche Bauernkrieg war für die marxistische Geschichtsschreibung ein Meilenstein auf dem Wege zur Emanzipation der Menschheit. Eine geheimnisvolle unterirdische Wasserader führt von Thomas Münzer zur südamerikanischen Befreiungstheologie.
Das führt uns wiederum zu der Frage, wo eigentlich einer der wichtigsten Player der Zukunft, der Islam, politisch steht.
Daniel CohnBendit hat die Attentäter, die 2015 in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo ein Blutbad anrichteten, aus einem offenbar tiefverwurzelten Reflex heraus als „Faschisten“ bezeichnet. Auch der deutschägypische Islamkritiker Hamed AbdelSamad spricht vom „islamischen Faschismus“. George W. Bush brachte nach dem 11. September 2001 einen „IslamoFaschismus“ ins rhetorische Spiel.
Ich halte diese Wortwahl für verfehlt. Der radikale Islam ist eine Kriegserklärung nicht nur an die westliche Welt, ihre Lebensart und ihre Wertvorstellungen im Allgemeinen, sondern auch an die Reste jener bürgerlichen Gesellschaft, die der historische Faschismus gegen den Sturmlauf der radikalen Linken zu retten versuchte. Vor allem stimmt beim radikalen Islam die Richtung der Aggression nicht mit der faschistischen überein. Zwar ist der Islamismus ebenso reaktiv, wie der Faschismus es war (der Begriff des „Antifaschismus“ hat das erfolgreich verschleiert), aber der Islamismus kämpft gewissermaßen „von unten“, der Faschismus dagegen „von oben“. Die Islamisten sind eigentlich die Avantgarde eines potentiellen Emanzipationskollektivs, die sich zum Amoklauf entschlossen haben, weil ihnen die Herrenwelt mit allen ihren Regeln und Wertvorstellungen nicht passt oder nicht zugänglich ist. Die Faschisten gehörten dagegen jener Herrenwelt an, und sei es nur als Dienstboten, und wollten sie um jeden Preis verteidigen.
Der radikale Islam ließe sich wahrscheinlich besser als Islamobolschewismus charakterisieren, denn er ist ein Aufstand der historisch Abgehängten, Zukurzgekommenen und dabei zugleich von einer Heilsidee Durchglühten, eine von Kadern geführte Bewegung, die die Massen erfassen und in eine phantastische, vormoderne Märchenwelt hinein emanzipieren oder sogar erlösen will. Sie verheißt die Befreiung des revolutionären, durch die Idee rein gewordenen Kollektivs aus den Banden von Fremdbestimmung und Dekadenz, und sie nimmt tendenziell jeden auf, der bereit ist, ihr beizutreten und das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Ihre Vertreter träumen von der Weltrevolution, von der Errichtung einer paradiesischen Globalkommune der Gleichen unterm grünen statt roten Banner. Sie sind die auserwählten Reinen, die mit der bisherigen, abgelebten, durch und durch verdorbenen Welt Schluss machen wollen. Ist der radikale Islam also links?
Hören Sie das folgende Zitat: Erst „die von der kapitalistischen Sklaverei, von den ungezählten Greueln, Brutalitäten, Widersinnigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung befreiten Menschen (werden) sich nach und nach gewöhnen, die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten.“
Hat das Chomeini gesagt oder Bin Laden? Oder doch Lenin?
Der Passus steht in „Staat und Revolution“.
Aber der Islam ist doch nicht links! Mit viel besseren Gründen ließe sich argumentieren, dass der Islam eine konservative Revolution will.
Wenn wir auf die Geschichte des Realsozialismus im 20. Jahrhundert zurückblicken, dann fällt auf, dass die kommunistische Ideologie zwar in den entwickelten Ländern formuliert worden ist, aber wirklich an die Herrschaft gelangte sie nur in eher rückständigen Weltgegenden. Die Kommunisten nahmen lediglich für sich in Anspruch, die Avantgarde des Planeten zu sein, tatsächlich wohnten dieser Lehre sehr viele rückschlägige, konservative Elemente inne. Ähnliches gilt übrigens auch für die Revolution der Nationalsozialisten: modernste Mittel, antimoderne Ziele. Walter Benjamin hat den Gedanken in den Raum gestellt, dass Revolutionen nicht zwingend die Lokomotiven der Geschichte sind, wie Karl Marx formulierte, sondern womöglich nur Notbremsungen.
Der politische Islam jedenfalls ist ein Bremsversuch. Der Faschismus war ein Bremsversuch. Wenn man die Rhetorik wegnimmt, stand im Realsozialismus die Zeit so still wie jahrhundertlang im Orient. Aber auch die Grünen sind Bremser, die „Fridays for Future“-Demonstration sind Feten des ersehnten Stillstands.
Die Lokomotiven der Menschheit, das sind Techniker, Erfinder, Unternehmer. Die Linke will entweder den Zug stoppen oder sich chauffieren lassen. Sie teilt sich heute in zwei Fraktionen: Bremser und Schwarzfahrer.
Das war der freundliche Ersatzbegriff für „Parasit“, den ich vorschlagen wollte: Schwarzfahrer. Politisch korrekt muss es wohl Bunter Passagier heißen.
1990 hatte es den Anschein, als habe der Kollaps des Realsozialismus das endgültige Scheitern der Bremser markiert. Aber möglicherweise beschert uns die Wirklichkeit eines Tages jenen homöostatischen „Kommunismus ohne Wachstum“, wie ihn der, sagen wir mal: Ökostalinist Wolfgang Harich schon 1975 in Reaktion auf den ersten Bericht des Club of Rome vorschlug – ich verstand mich mit Harich übrigens gut, er war amüsant, und mir ist ein amüsanter Kommunist lieber als ein langweiliger Grüner.
Der radikale Islam ist also ein nächster großer Versuch, unerwünschte Entwicklungen aufzuhalten. Längst haben seine Aktivisten das ökologische Mäntelchen angelegt, das sie mit den westlichen Linken bündnisfähig macht. Es ist ja egal, ob man die Klimarettung oder die Bewahrung der Schöpfung im Munde führt. Ebenfalls anschlussfähig ist der Universalismus des Islam. Diese Lehre ist ja definitiv nicht rassistisch. Jeder Mensch wird als Moslem geboren, so hat es Allah in seiner Güte und Allbarmherzigkeit beschieden. Mit dem antirassistischen, antinationalen Furor der Linken und der Globalisten wäre der Islam also kompatibel. Wir werden da noch abenteuerliche Allianzen erleben. Deren Vorboten sind auf vereinzelten Demos bereits gesichtet worden.
Die meisten Ingredienzien des Islam sind natürlich nicht mit der Linken vereinbar. Der Islam ist nicht emanzipatorisch, sondern eine Befehlsausgabe. Über die entscheidenden Dinge duldet er keinen Diskurs. Der Islam will keine Weiberherrschaft. Der Islam will keine sexuelle Befreiung und keine 77 Geschlechter. Er will die traditionelle Familie. Gender ist gegen Allah, und deshalb ist Allah gegen Gender. Allah ist Biologist. Linke und Islamisten werden wahrscheinlich eine Weile zusammen gegen den Staat und gegen „rechts“ agieren, der radikale Islam wird ein paar Facetten der linken antiwestlichen und antikapitalistischen Kritik integrieren, danach wird er die Linke in seinem Herrschaftsbereich bekämpfen. Aber viele Linke werden sich dermaleinst die Gelegenheit geregelter Polygamie im Kreise von nunmehr Glaubensbrüdern statt Genossen nicht entgehen lassen.
Meine Damen und Herren, in seiner Weltgeschichte „Historische Existenz“ versah Ernst Nolte die Linke mit dem Attribut „ewig“. Wenn sie ewig ist, muss sich ihr Ursprung der in der Tiefe der Zeiten verlieren. Aber irgendwo muss der Anfang sein. Irgendeine Frühform der Unterdrückung muss existieren, gegen die die Linke aufbegehren kann. Es mag bei den Neandertalern Konservative gegeben haben, Linke gab es damals wahrscheinlich noch nicht. Lassen wir die Linke ihren Anfang in den antiken Sklavenaufständen nehmen.
Für diese These gibt es prominente Kronzeugen. 1861 schrieb Karl Marx an Friedrich Engels: „Spartacus erscheint als der famoseste Kerl, den die ganze antike Geschichte aufzuweisen hat. Großer General, nobler Charakter, real re-presentative des antiken Proletariats.“
Ein halbes Jahrhundert nach diesen Worten sammelten sich die radikalen Linken innerhalb der SPD um Liebknecht und Luxemburg unter dem Namen „Spartakusgruppe“, aus dieser Gruppe wurde 1918 der „Spartakusbund“, daraus wiederum die Kommunistischen Partei Deutschlands. Man wählte den antiken Rebellen als Symbolfigur für den Kampf der sogenannten Arbeiterklasse gegen Imperialismus und Unterdrückung. Sie nahmen ihn als einen der Ihren.
Im historischen Prozess hat die Linke als Katalysator des sozialen Fortschritts eine bedeutende Rolle gespielt. In den Worten Noltes: „Ohne die ständigen Stöße der Linken würden wir heute noch in Kastengesellschaften leben.“ Die Linke ist nichts Schlechtes. Die Linke hat die herrschenden Schichten oder Stände oder Klassen gezwungen, gerechter, humaner, sozialer zu werden.
Natürlich kann eine Linke nur Forderungen erheben, die sich von der Gegenseite zumindest theoretisch erfüllen lassen. Spartakus und seine Mitaufständischen wollten von Rom nichts als die Freiheit, die freie Heimkehr in ihre Länder. Sie wollten nicht Teilhabe, Hartz IV., Ehe für alle und freie Geschlechtswahl.
Der Linke in der Revolte gegen die Tyrannei gehört zu den edelsten Erscheinungen der Geschichte. Die Linke hat einen hohen Blutzoll gezahlt. Genau dieser Vergleich freilich macht die gegenwärtige Linke so lächerlich.
Die heutige Linke, „die UNESCO-Linke mit ihrem rührend kindlichen Menschenbild“, wie Günter Maschke sie nannte, die Buntheits- und No-Border-Linke, die Gender-Diversity-Linke, die Frauenquoten-Linke, die Klimakatastrophenverhinderungs-Linke, die Afrikarettungs-Linke, die Kein-Bier-für-Nazis-Linke, diese Linke ist ständig auf der Suche nach neuen Missständen, die sie bewirtschaften kann. Inzwischen muss sie die Missstände importieren. Diese Linke ist unersättlich, ihr Appetit erwacht nach jeder Stillung neu. Wie immer ruft sie nach Lenkung der Gesellschaft in ihrem Sinne, aber die Machtfrage stellt sie nicht mehr. Den Grund habe ich genannt. Stattdessen befriedigt sie ihr anti-elitäres Ressentiment mit permanenter Nivellierung, von den Schulen und Universitäten bis zu den Redaktionen, Theatern und Museen. Den Respekt vor der bürgerlichen Hochkultur, der einst zu den vornehmsten Pflichten des Marxisten gehörte, kennt sie nicht mehr. Ihr kulturelles Zerstörungswerk verbindet sie mit gesinnungspolizeilicher Bespitzelung. Der Verfall der restbürgerlichen Gesellschaft kann ihr gar nicht schnell genug gehen.
Wahrscheinlich ist Parasit doch die bessere Beschreibung als Schwarzfahrer.
Am aktuellen Beispiel der Identity Politics lässt sich die unstillbare Forderungsdynamik dieser aggressiven Wohlmeinenden gut studieren. Obwohl in den vergangenen 50 Jahren die Frauen, die Schwarzen und anderen nichtweißen Ethnien, die Homosexuellen und auch die sexuell nicht ganz eindeutig Festgelegten in der westlichen Welt rechtlich in jeder Hinsicht gleichgestellt und gesellschaftlich akzeptiert, ja hofiert wurden, belehrt uns ein Blick eine beliebige amerikanische Universität, dass Rassismus, Sexismus und Diskriminierungen aller Art offenbar noch nie so extrem waren wie heute. Es ist wie mit dem Feinstaub: Je niedrigere Grenzwerte man festlegt und je genauer man misst, desto schlimmer wird es, auch wenn die gemessenen Werte ständig sinken.
Ich muss hier abbrechen. Es gibt zuletzt eine frohe Botschaft. War die Existenz linker Bewegungen jahrhundertelang ein Zeichen dafür, dass es vielen Menschen zu schlecht ging, ist die Linke heute das Indiz dafür, dass es vielen Menschen zu gut geht. Und da der vorhin von mir herbeimetapherte, von den drei Lokomotiven Kapitalismus, Schöpfergeist und Technik gezogene Menschheitszug trotz aller Bremsversuche und mit allen Schwarzfahrern und Blinden Passagieren an Bord weiter rollen wird, wird wohl auch die Linke bei uns sein bis an das Ende der Welt.