Ich habe am vergangenen Wochenende 32 Jahre in einem Moskauer Luxushotel verbracht, im „Metropol”, gegenüber dem Bolschoi-Theater, direkt zwischen Kreml und Lubjanka, in der Gesellschaft von Graf Alexander Iljitsch Rostov, und ich kann behaupten, dass mir die 32 Jahre wie im Fluge vergingen. Es waren jene Jahre, in denen in der Lubjanka die Verhöroffiziere und Folterknechte rund um die Uhr arbeiteten und im Kreml eines der größten Scheusale der Geschichte Gäste empfing oder mit seinen Kumpanen Partys feierte, wenn er mit dem Unterschreiben der Todeslisten fertig war. Naturgemäß blieb dieses Treiben im „Metropol” nicht unbemerkt, wo Graf Rostov das bittere Privileg genoss, auf Lebenszeit unter Hausarrest zu stehen, was immerhin besser war, als erschossen zu werden, wie es ihm eigentlich beschieden gewesen wäre, oder seine unverdiente Haft wie Edmond Dantès im Château d’If abzusitzen.
Dem Grafen rettete 1922 ein Gedicht den Hals, das – es wird jetzt ein bisschen verwirrend – ein anderer geschrieben und dessen Autorschaft Rostov viele Jahre zuvor fingiert hatte, um den eigentlichen Verfasser vor der zaristischen Geheimpolizei zu schützen, denn es war ein Gedicht, das führende Bolschewiken später mit mehr oder weniger Recht für ein prokommunistisches hielten, dessen Autorschaft allerdings im Zarenreich für einen Aristokraten kaum bedrohlich war, während die Zugehörigkeit zur Aristokratie später, im Reich der Sowjets, wiederum einen lebensgefährlichen Makel darstellte. Deswegen also war über Graf Rostov Hausarrest – „nur” Hausarrest – im „Metropol” verhängt worden. „Sollten Sie jemals das Hotel verlassen”, hatte der Genosse Ignatow vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) gesagt, „werden Sie auf der Stelle erschossen.”
Der Erfinder von Graf Rostov – jetzt wird es noch verwirrender – ist ein New Yorker Anlageberater namens Amor Towles. Bei diesem Anlageberater, der in Yale und Stanford einen M.A. in Englisch gemacht hat, handelt es sich um einen genauen Kenner der russischen Literatur, der russischen Geschichte und ich möchte sagen: der russischen Seele. Sein Roman „Ein Gentleman in Moskau” – sein zweiter Roman übrigens – erschien 2016, die deutsche Ausgabe ein Jahr darauf (das Buch wirkte auf mich wie eine Übersetzung aus dem Russischen), aber während Towles in den USA schon jetzt als großer Erzähler gilt und auch viele deutsche amazon-Rezensionen von einer nicht unerheblichen Resonanz künden (wer nicht beim Monopolisten bestellen will: eine Alternative wäre hier), ist der „Gentleman”, wenn ich’s recht übersehe, von keiner deutschen Publikumszeitung rezensiert worden. Ich mag nicht spekulieren, warum – vielleicht ist dieses Opus einfach zu sehr aus der Zeit gefallen?
Dabei behandelt es ein ewiggültiges Thema. Towles Roman, wenn man ihn in einem Satz zusammenfassen müsste, handelt vom Willen zum Stil auch unter misslichen Verhältnissen. Es ist eines der menschenfreundlichsten Bücher, das mir je in die Hände geriet. Stil hängt ja immer untrennbar mit Würde zusammen, und was besäße der Mensch Größeres als seine Würde? (Der Kurs der Würde an der Wertebörse sinkt bekanntlich wegen ihres inflationären Gebrauchs durch die Wohlwollenden, die sie jedem gratis zusichern wollen; vielleicht sollte man besser zwei verschiedenen Wertpapiere ausgeben: eines für die Würde des Grundgesetzes, die jeder a priori hat und die keine Abstufungen kennt, sowie eines für jene Würde, die der Mensch sich durch Anstrengung, Erdulden und Haltung erwirbt und die sehr wohl Rangunterschiede herstellt.)
Eventuell könnte man dem Roman vorwerfen, dass er zu menschenfreundlich ist. Immerhin spielt er in einer der blutigsten, grausamsten, am meisten von Niedertracht erfüllten Epochen der Weltgeschichte. Aber nicht nur in der Hauptfigur, auch im Autor lebt der Wille zum Stil. Weder der Gentleman im Hotel noch sein Erfinder haben eine Schwäche fürs Veristische. Gleichwohl dringen die Schrecken von draußen auch in die noblen Suiten und feinen Restaurants des „Metropol”. Nicht nur Menschen verschwinden, auch die internationalen Zeitungen; statt ihrer liegen nur noch die erlaubten russischen bzw. sowjetrussischen Gazetten aus. Der Blumenladen in der Hotellobby, dessen Betreiberin auf den Namen Fatima Fedorowa hört, wird geschlossen. „In seiner Glanzzeit waren in dem Laden große Mengen Blumen verkauft worden. Er hatte den üppigen Blumenschmuck für die Lobby und die Lilien für die Zimmer geliefert, hier wurden die Rosenbouquets, die im Bolschoi den Ballerinen vor die Füße geworfen wurden, und die Knopflochblumen für die Männer, die selbige Rosenbouquets warfen, verkauft. Natürlich hatte Fatima sich fließend auf den Blumencode verstanden, der seit dem Zeitalter der Ritterlichkeit in der feinen Gesellschaft herrschte. Nicht nur konnte sie einem sagen, welche Blumen man schicken musste, wenn man um Verzeihung bitten wollte, sie wusste auch, mit welcher Blume man sich für eine Verspätung entschuldigte, mit welcher für ein unachtsames Wort, mit welcher für die Kränkung der eigenen Begleiterin, weil man der jungen Dame am Eingang Beachtung geschenkt hatte. Kurzum: Fatima kannte den Duft, die Farben und den Zweck von Blumen besser als eine Biene.
Gut, Fatimas Laden hatte zugemacht, sinnierte der Graf, aber waren die Blumenläden in Paris unter der ‚Herrschaft’ von Robespierre nicht auch geschlossen worden, und gab es jetzt nicht einen Überfluss von Blumen in ebendieser Stadt? Und genauso würde auch im Metropol die Zeit für Blumen wiederkommen.”
Doch während der Kopf des Pariser „Unbestechlichen” erfreulich schnell in demselben Korb landete, in den es zuvor auf sein Geheiß monatelang Aristokraten- und Konkurrentenköpfe geregnet hatte, sollten schier endlos viele Jahre vergehen, bis das Monster im Kreml nicht friedlich, aber unbehelligt seinen Millionen Opfern nachfolgte. Eines Tages bemerkt der Graf bei der Betrachtung des Moskauer Stadtplans am Tresen des Hotelportiers, dass ihm jeder zweite Straßenname dort draußen inzwischen unbekannt ist. Und eines anderen Datums, in einem der täglich besuchten Restaurants (in doppelten Böden seines verbliebenden Privatmobiliars haben Reste des gräflichen Vermögens überlebt), muss Rostov erschüttert feststellen, dass von sämtlichen Bouteillen des bestsortierten hoteleigenen Weinkellers die Etiketten abgeweicht worden sind, weil beim Kommissar für Nahrungsmittel eine Beschwerde eingegangen war, die Weinliste liefe den Idealen der Revolution zuwider und sei ein aristokratisches Relikt. Fürderhin sollte es nach dem Willen der Gesellschaftsnivellierer nur noch Rot- und Weißwein geben. „Als der Graf jetzt die Flasche in seiner Hand betrachtete, wurde ihm mit aller Macht bewusst, dass tatsächlich alles hinter ihm lag. Denn die Bolschewiken hatten sich vorgenommen, die Zukunft nach ihrer eigenen Vorstellung zu gestalten, und sie würden nicht ruhen, bis der letzte Rest seines Russland ausgerissen, zerschlagen oder ausgelöscht war.”
Eigentlich ist das Schicksal des Grafen entsetzlich. Zumal er die Suite, die er zuvor bewohnte, selbstverständlich räumen und gegen ein Kabuff unterm Dach eintauschen musste. Für, wie gesagt, 32 Jahre. Zwischenzeitlich bessern sich die Zeiten etwas, das internationale Publikum kehrt zurück (und die Weinetiketten mit ihm), wenngleich es kaum normale Reisende, sondern vor allem Journalisten und Diplomaten sind, die nunmehr Bar und Lobby bevölkern.
Neben den Restaurantbesuchen gehört die Beobachtung der Gäste dortselbst zu Rostovs Hafterleichterungen. „Für einen hoffnungsvollen jungen Mann, der eine ernsthafte junge Dame zu beeindrucken versuchte, war die Speisekarte des Piazza, ähnlich der Straße von Messina, voller Gefahren. Links die billigeren Gerichte, eine Art Scylla, mit deren Wahl man sich womöglich als knauserig und von ödem Geschmack darstellte, und rechts die Charybdis mit Köstlichkeiten, die einen arm machten und zudem angeberisch wirkten.” Dann, „mit einem Geniestreich”, bestellt der junge Galan den lettischen Eintopf. „Dieses traditionelle Gericht, bestehend aus Schweinefleisch, Zwiebeln und Aprikosen, war einerseits nicht sehr teuer, galt aber andererseits als einigermaßen exotisch und beschwor gleichzeitig eine Welt von Großmüttern und Feiertagen und sentimentalen Melodien herauf, über die sie gerade sprechen wollten, als sie so abrupt unterbrochen worden waren” – vom Kellner nämlich, der, wie schändlich, dem Zögernden zur gewählten Speise nun einen Rioja andient. Der Graf schreitet ein und empfiehlt einen – sowohl passenden als obendrein billigeren – Mukuzani, einen georgischen Rotwein aus der Saperavi-Traube, ordert für sich das Gleiche und konstatiert zufrieden, dass sowohl das junge Pärchen als auch die Zutaten zueinander gefunden haben: „Die Zwiebeln waren karamellisiert, das Schweinefleisch langsam gegart, die Aprikosen kurz mitgekocht”, und alles verband sich „zu einem süßen, rauchigen Gemisch, das an die Behaglichkeit eines verschneiten Wirtshauses und das Gerassel eines Zigeunertamburins denken ließ”. (Schließlich wird der Graf selber kellnern, um sich die Jahre zu vertreiben…)
Sie merken schon, dieser Amor Towles kann schreiben, und darin besteht der Hauptgenuss des Buches (jedes Buches):
„Somit war es den beiden jungen Männern vom Schicksal nicht unbedingt vorbestimmt, sich anzufreunden. Aber das Schicksal hätte nicht den Ruf, den es hat, wenn es nur das täte, was naheliegend scheint.”
„Wenn die Geduld nicht so oft auf die Probe gestellt würde, wäre sie wohl kaum eine Tugend.”
„Die Zeit zwischen dem Aufgeben der Bestellung und dem Eintreffen der Vorspeise ist eine der schwierigsten in zwischenmenschlichen Beziehungen.”
„Im März 1939 saß er in einem Zug nach Sibirien in das Reich reiflichen Reflektierens.”
„Eine unbedachte Sitzordnung (hat) schon die besten Ehen zerrissen und zum Zusammenbruch manch langlebiger Détente geführt. Hätte Paris bei dem Essen am Hof von Menelaos nicht neben Helena gesessen, wäre der Trojanische Krieg nichts ausgebrochen.”
„Wenn die Geister des Nachts unterwegs sind, dann nicht aus Groll oder Neid, den sie gegen die Lebenden hegen. Vielmehr ist es so, dass sie keinen Wunsch haben, den Lebenden zu begegnen.”
Und auf einem Bilett, welches dem Grafen überreicht wird, steht in Damenhandschrift geschrieben: „Geben Sie mir bitte eine zweite Gelegenheit für den ersten Eindruck, in Suite 208.”
Dieser Roman ist eine Lektion (ich sagte schon, worin) und ein ästhetischer Genuss, er ist bitter und komisch und mitunter so anrührend, dass es einem die Kehle zuschnürt. Etwa wenn die Bienen, die ein alter Hotelmitarbeiter auf dem Dachgarten züchtet, plötzlich verschwunden sind, aber dann, als der Graf nachts dort oben mit einem Sprung seinem Leben ein Ende setzen will, der Alte aufgeregt gelaufen kommt und sagt, die Bienen seien wieder da, der Graf möge unbedingt den Honig probieren, denn dieser Honig schmeckt anders als sonst, „nicht nach den blühenden Bäumen in Moskaus Innenstadt, er hatte vielmehr einen Hauch von Flussufern … von Sommerwind … die Ahnung einer Pergola … aber vor allem war da die unverkennbare Essenz von Tausenden von Apfelbäumen.” Die Bienen waren in Rostovs Heimat geflogen, zu den Apfelbäumen um Nishni Nowgorod. „ ‚All die Jahre haben sie uns belauscht’, flüsterte der Alte.”
In 32 Jahren widerfährt auch einem Arrestanten viel, gerade in einem Hotel. Eine Freundin, die er als junges Mädchen im Restaurant kennengelernt hat, verschwindet als junge Frau im GULag und lässt ihre Tochter zurück. Eine schöne Filmschauspielerin taucht auf, und die Sommersprossen auf ihrem Rücken formen sich zu Sternbildern. Ein hoher Parteibonze hält seine schützende Hand über Rostov und schaut mit ihm den Film „Casablanca”. Ein niederträchtiger politisch linientreuer Oberkellner steigt zum Hoteldirektor auf. Mit dem Küchenchef und dem Empfangschef entsteht eine enge Freundschaft, die sich bewähren muss. Zum Schluss gibt es sogar einen Showdown, aber der Erzähler, der die unverzeihliche Sünde der nachträglichen historischen Rechthaberei in keinem Halbsatz unterkriechen lässt, wählt geschmackvollerweise kein amerikanisches, sondern ein russisches Ende.