10. Dezember 2018

Ich habe am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de 32 Jah­re in einem Mos­kau­er Luxus­ho­tel ver­bracht, im „Metro­pol”, gegen­über dem Bol­schoi-Thea­ter, direkt zwi­schen Kreml und Lub­jan­ka, in der Gesell­schaft von Graf Alex­an­der Iljitsch Ros­tov, und ich kann behaup­ten, dass mir die 32 Jah­re wie im Flu­ge ver­gin­gen. Es waren jene Jah­re, in denen in der Lub­jan­ka die Ver­hör­of­fi­zie­re und Fol­ter­knech­te rund um die Uhr arbei­te­ten und im Kreml eines der größ­ten Scheu­sa­le der Geschich­te Gäs­te emp­fing oder mit sei­nen Kum­pa­nen Par­tys fei­er­te, wenn er mit dem Unter­schrei­ben der Todes­lis­ten fer­tig war. Natur­ge­mäß blieb die­ses Trei­ben im „Metro­pol” nicht unbe­merkt, wo Graf Ros­tov das bit­te­re Pri­vi­leg genoss, auf Lebens­zeit unter Haus­ar­rest zu ste­hen, was immer­hin bes­ser war, als erschos­sen zu wer­den, wie es ihm eigent­lich beschie­den gewe­sen wäre, oder sei­ne unver­dien­te Haft wie Edmond Dan­tès im Châ­teau d’If abzusitzen.

Dem Gra­fen ret­te­te 1922 ein Gedicht den Hals, das – es wird jetzt ein biss­chen ver­wir­rend – ein ande­rer geschrie­ben und des­sen Autor­schaft Ros­tov vie­le Jah­re zuvor fin­giert hat­te, um den eigent­li­chen Ver­fas­ser vor der zaris­ti­schen Geheim­po­li­zei zu schüt­zen, denn es war ein Gedicht, das füh­ren­de Bol­sche­wi­ken spä­ter mit mehr oder weni­ger Recht für ein pro­kom­mu­nis­ti­sches hiel­ten, des­sen Autor­schaft aller­dings im Zaren­reich für einen Aris­to­kra­ten kaum bedroh­lich war, wäh­rend die Zuge­hö­rig­keit zur Aris­to­kra­tie spä­ter, im Reich der Sowjets, wie­der­um einen lebens­ge­fähr­li­chen Makel dar­stell­te. Des­we­gen also war über Graf Ros­tov Haus­ar­rest – „nur” Haus­ar­rest – im „Metro­pol” ver­hängt wor­den. „Soll­ten Sie jemals das Hotel ver­las­sen”, hat­te der Genos­se Igna­tow vom Volks­kom­mis­sa­ri­at für Inne­re Ange­le­gen­hei­ten (NKWD) gesagt, „wer­den Sie auf der Stel­le erschossen.”

Der Erfin­der von Graf Ros­tov – jetzt wird es noch ver­wir­ren­der – ist ein New Yor­ker Anla­ge­be­ra­ter namens Amor Tow­les. Bei die­sem Anla­ge­be­ra­ter, der in Yale und Stan­ford einen M.A. in Eng­lisch gemacht hat, han­delt es sich um einen genau­en Ken­ner der rus­si­schen Lite­ra­tur, der rus­si­schen Geschich­te und ich möch­te sagen: der rus­si­schen See­le. Sein Roman „Ein Gen­tle­man in Mos­kau” – sein zwei­ter Roman übri­gens – erschien 2016, die deut­sche Aus­ga­be ein Jahr dar­auf (das Buch wirk­te auf mich wie eine Über­set­zung aus dem Rus­si­schen), aber wäh­rend Tow­les in den USA schon jetzt als gro­ßer Erzäh­ler gilt und auch vie­le deut­sche ama­zon-Rezen­sio­nen von einer nicht uner­heb­li­chen Reso­nanz kün­den (wer nicht beim Mono­po­lis­ten bestel­len will: eine Alter­na­ti­ve wäre hier), ist der „Gen­tle­man”, wenn ich’s recht über­se­he, von kei­ner deut­schen Publi­kums­zei­tung rezen­siert wor­den. Ich mag nicht spe­ku­lie­ren, war­um – viel­leicht ist die­ses Opus ein­fach zu sehr aus der Zeit gefallen?

Dabei behan­delt es ein ewig­gül­ti­ges The­ma. Tow­les Roman, wenn man ihn in einem Satz zusam­men­fas­sen müss­te, han­delt vom Wil­len zum Stil auch unter miss­li­chen Ver­hält­nis­sen. Es ist eines der men­schen­freund­lichs­ten Bücher, das mir je in die Hän­de geriet. Stil hängt ja immer untrenn­bar mit Wür­de zusam­men, und was besä­ße der Mensch Grö­ße­res als sei­ne Wür­de? (Der Kurs der Wür­de an der Wer­te­bör­se sinkt bekannt­lich wegen ihres infla­tio­nä­ren Gebrauchs durch die Wohl­wol­len­den, die sie jedem gra­tis zusi­chern wol­len; viel­leicht soll­te man bes­ser zwei ver­schie­de­nen Wert­pa­pie­re aus­ge­ben: eines für die Wür­de des Grund­ge­set­zes, die jeder a prio­ri hat und die kei­ne Abstu­fun­gen kennt, sowie eines für jene Wür­de, die der Mensch sich durch Anstren­gung, Erdul­den und Hal­tung erwirbt und die sehr wohl Rang­un­ter­schie­de herstellt.)

Even­tu­ell könn­te man dem Roman vor­wer­fen, dass er zu men­schen­freund­lich ist. Immer­hin spielt er in einer der blu­tigs­ten, grau­sams­ten, am meis­ten von Nie­der­tracht erfüll­ten Epo­chen der Welt­ge­schich­te. Aber nicht nur in der Haupt­fi­gur, auch im Autor lebt der Wil­le zum Stil. Weder der Gen­tle­man im Hotel noch sein Erfin­der haben eine Schwä­che fürs Veris­ti­sche. Gleich­wohl drin­gen die Schre­cken von drau­ßen auch in die noblen Sui­ten und fei­nen Restau­rants des „Metro­pol”. Nicht nur Men­schen ver­schwin­den, auch die inter­na­tio­na­len Zei­tun­gen; statt ihrer lie­gen nur noch die erlaub­ten rus­si­schen bzw. sowjet­rus­si­schen Gazet­ten aus. Der Blu­men­la­den in der Hotel­lob­by, des­sen Betrei­be­rin auf den Namen Fati­ma Fedo­ro­wa hört, wird geschlos­sen. „In sei­ner Glanz­zeit waren in dem Laden gro­ße Men­gen Blu­men ver­kauft wor­den. Er hat­te den üppi­gen Blu­men­schmuck für die Lob­by und die Lili­en für die Zim­mer gelie­fert, hier wur­den die Rosen­bou­quets, die im Bol­schoi den Bal­le­ri­nen vor die Füße gewor­fen wur­den, und die Knopf­loch­blu­men für die Män­ner, die sel­bi­ge Rosen­bou­quets war­fen, ver­kauft. Natür­lich hat­te Fati­ma sich flie­ßend auf den Blu­men­code ver­stan­den, der seit dem Zeit­al­ter der Rit­ter­lich­keit in der fei­nen Gesell­schaft herrsch­te. Nicht nur konn­te sie einem sagen, wel­che Blu­men man schi­cken muss­te, wenn man um Ver­zei­hung bit­ten woll­te, sie wuss­te auch, mit wel­cher Blu­me man sich für eine Ver­spä­tung ent­schul­dig­te, mit wel­cher für ein unacht­sa­mes Wort, mit wel­cher für die Krän­kung der eige­nen Beglei­te­rin, weil man der jun­gen Dame am Ein­gang Beach­tung geschenkt hat­te. Kurz­um: Fati­ma kann­te den Duft, die Far­ben und den Zweck von Blu­men bes­ser als eine Biene.
Gut, Fati­mas Laden hat­te zuge­macht, sin­nier­te der Graf, aber waren die Blu­men­lä­den in Paris unter der ‚Herr­schaft’ von Robes­pierre nicht auch geschlos­sen wor­den, und gab es jetzt nicht einen Über­fluss von Blu­men in eben­die­ser Stadt? Und genau­so wür­de auch im Metro­pol die Zeit für Blu­men wiederkommen.”

Doch wäh­rend der Kopf des Pari­ser „Unbe­stech­li­chen” erfreu­lich schnell in dem­sel­ben Korb lan­de­te, in den es zuvor auf sein Geheiß mona­te­lang Aris­to­kra­ten- und Kon­kur­ren­ten­köp­fe gereg­net hat­te, soll­ten schier end­los vie­le Jah­re ver­ge­hen, bis das Mons­ter im Kreml nicht fried­lich, aber unbe­hel­ligt sei­nen Mil­lio­nen Opfern nach­folg­te. Eines Tages bemerkt der Graf bei der Betrach­tung des Mos­kau­er Stadt­plans am Tre­sen des Hotel­por­tiers, dass ihm jeder zwei­te Stra­ßen­na­me dort drau­ßen inzwi­schen unbe­kannt ist. Und eines ande­ren Datums, in einem der täg­lich besuch­ten Restau­rants (in dop­pel­ten Böden sei­nes ver­blie­ben­den Priv­at­mo­bi­li­ars haben Res­te des gräf­li­chen Ver­mö­gens über­lebt), muss Ros­tov erschüt­tert fest­stel­len, dass von sämt­li­chen Bou­teil­len des best­sor­tier­ten hotel­ei­ge­nen Wein­kel­lers die Eti­ket­ten abge­weicht wor­den sind, weil beim Kom­mis­sar für Nah­rungs­mit­tel eine Beschwer­de ein­ge­gan­gen war, die Wein­lis­te lie­fe den Idea­len der Revo­lu­ti­on zuwi­der und sei ein aris­to­kra­ti­sches Relikt. Für­der­hin soll­te es nach dem Wil­len der Gesell­schafts­ni­vel­lie­rer nur noch Rot- und Weiß­wein geben. „Als der Graf jetzt die Fla­sche in sei­ner Hand betrach­te­te, wur­de ihm mit aller Macht bewusst, dass tat­säch­lich alles hin­ter ihm lag. Denn die Bol­sche­wi­ken hat­ten sich vor­ge­nom­men, die Zukunft nach ihrer eige­nen Vor­stel­lung zu gestal­ten, und sie wür­den nicht ruhen, bis der letz­te Rest sei­nes Russ­land aus­ge­ris­sen, zer­schla­gen oder aus­ge­löscht war.”

Eigent­lich ist das Schick­sal des Gra­fen ent­setz­lich. Zumal er die Suite, die er zuvor bewohn­te, selbst­ver­ständ­lich räu­men und gegen ein Kabuff unterm Dach ein­tau­schen muss­te. Für, wie gesagt, 32 Jah­re. Zwi­schen­zeit­lich bes­sern sich die Zei­ten etwas, das inter­na­tio­na­le Publi­kum kehrt zurück (und die Wein­eti­ket­ten mit ihm), wenn­gleich es kaum nor­ma­le Rei­sen­de, son­dern vor allem Jour­na­lis­ten und Diplo­ma­ten sind, die nun­mehr Bar und Lob­by bevölkern.

Neben den Restau­rant­be­su­chen gehört die Beob­ach­tung der Gäs­te dort­selbst zu Ros­tovs Haft­er­leich­te­run­gen. „Für einen hoff­nungs­vol­len jun­gen Mann, der eine ernst­haf­te jun­ge Dame zu beein­dru­cken ver­such­te, war die Spei­se­kar­te des Piaz­za, ähn­lich der Stra­ße von Mes­si­na, vol­ler Gefah­ren. Links die bil­li­ge­ren Gerich­te, eine Art Scyl­la, mit deren Wahl man sich womög­lich als knau­se­rig und von ödem Geschmack dar­stell­te, und rechts die Cha­ryb­dis mit Köst­lich­kei­ten, die einen arm mach­ten und zudem ange­be­risch wirk­ten.” Dann, „mit einem Genie­streich”, bestellt der jun­ge Galan den let­ti­schen Ein­topf. „Die­ses tra­di­tio­nel­le Gericht, bestehend aus Schwei­ne­fleisch, Zwie­beln und Apri­ko­sen, war einer­seits nicht sehr teu­er, galt aber ande­rer­seits als eini­ger­ma­ßen exo­tisch und beschwor gleich­zei­tig eine Welt von Groß­müt­tern und Fei­er­ta­gen und sen­ti­men­ta­len Melo­dien her­auf, über die sie gera­de spre­chen woll­ten, als sie so abrupt unter­bro­chen wor­den waren” – vom Kell­ner näm­lich, der, wie schänd­lich, dem Zögern­den zur gewähl­ten Spei­se nun einen Rio­ja andient. Der Graf schrei­tet ein und emp­fiehlt einen – sowohl pas­sen­den als oben­drein bil­li­ge­ren – Muku­za­ni, einen geor­gi­schen Rot­wein aus der Sapera­vi-Trau­be, ordert für sich das Glei­che und kon­sta­tiert zufrie­den, dass sowohl das jun­ge Pär­chen als auch die Zuta­ten zuein­an­der gefun­den haben: „Die Zwie­beln waren kara­mel­li­siert, das Schwei­ne­fleisch lang­sam gegart, die Apri­ko­sen kurz mit­ge­kocht”, und alles ver­band sich „zu einem süßen, rau­chi­gen Gemisch, das an die Behag­lich­keit eines ver­schnei­ten Wirts­hau­ses und das Geras­sel eines Zigeu­ner­tam­bu­rins den­ken ließ”. (Schließ­lich wird der Graf sel­ber kell­nern, um sich die Jah­re zu vertreiben…)

Sie mer­ken schon, die­ser Amor Tow­les kann schrei­ben, und dar­in besteht der Haupt­ge­nuss des Buches (jedes Buches):

„Somit war es den bei­den jun­gen Män­nern vom Schick­sal nicht unbe­dingt vor­be­stimmt, sich anzu­freun­den. Aber das Schick­sal hät­te nicht den Ruf, den es hat, wenn es nur das täte, was nahe­lie­gend scheint.”

„Wenn die Geduld nicht so oft auf die Pro­be gestellt wür­de, wäre sie wohl kaum eine Tugend.”

„Die Zeit zwi­schen dem Auf­ge­ben der Bestel­lung und dem Ein­tref­fen der Vor­spei­se ist eine der schwie­rigs­ten in zwi­schen­mensch­li­chen Beziehungen.”

„Im März 1939 saß er in einem Zug nach Sibi­ri­en in das Reich reif­li­chen Reflektierens.”

„Eine unbe­dach­te Sitz­ord­nung (hat) schon die bes­ten Ehen zer­ris­sen und zum Zusam­men­bruch manch lang­le­bi­ger Déten­te geführt. Hät­te Paris bei dem Essen am Hof von Mene­la­os nicht neben Hele­na geses­sen, wäre der Tro­ja­ni­sche Krieg nichts ausgebrochen.”

„Wenn die Geis­ter des Nachts unter­wegs sind, dann nicht aus Groll oder Neid, den sie gegen die Leben­den hegen. Viel­mehr ist es so, dass sie kei­nen Wunsch haben, den Leben­den zu begegnen.”

Und auf einem Bilett, wel­ches dem Gra­fen über­reicht wird, steht in Damen­hand­schrift geschrie­ben: „Geben Sie mir bit­te eine zwei­te Gele­gen­heit für den ers­ten Ein­druck, in Suite 208.”

Die­ser Roman ist eine Lek­ti­on (ich sag­te schon, wor­in) und ein ästhe­ti­scher Genuss, er ist bit­ter und komisch und mit­un­ter so anrüh­rend, dass es einem die Keh­le zuschnürt. Etwa wenn die Bie­nen, die ein alter Hotel­mit­ar­bei­ter auf dem Dach­gar­ten züch­tet, plötz­lich ver­schwun­den sind, aber dann, als der Graf nachts dort oben mit einem Sprung sei­nem Leben ein Ende set­zen will, der Alte auf­ge­regt gelau­fen kommt und sagt, die Bie­nen sei­en wie­der da, der Graf möge unbe­dingt den Honig pro­bie­ren, denn die­ser Honig schmeckt anders als sonst, „nicht nach den blü­hen­den Bäu­men in Mos­kaus Innen­stadt, er hat­te viel­mehr einen Hauch von Fluss­ufern … von Som­mer­wind … die Ahnung einer Per­go­la … aber vor allem war da die unver­kenn­ba­re Essenz von Tau­sen­den von Apfel­bäu­men.” Die Bie­nen waren in Ros­tovs Hei­mat geflo­gen, zu den Apfel­bäu­men um Nish­ni Now­go­rod. „ ‚All die Jah­re haben sie uns belauscht’, flüs­ter­te der Alte.”

In 32 Jah­ren wider­fährt auch einem Arrestan­ten viel, gera­de in einem Hotel. Eine Freun­din, die er als jun­ges Mäd­chen im Restau­rant ken­nen­ge­lernt hat, ver­schwin­det als jun­ge Frau im GULag und lässt ihre Toch­ter zurück. Eine schö­ne Film­schau­spie­le­rin taucht auf, und die Som­mer­spros­sen auf ihrem Rücken for­men sich zu Stern­bil­dern. Ein hoher Par­tei­bon­ze hält sei­ne schüt­zen­de Hand über Ros­tov und schaut mit ihm den Film „Casa­blan­ca”. Ein nie­der­träch­ti­ger poli­tisch lini­en­treu­er Ober­kell­ner steigt zum Hotel­di­rek­tor auf. Mit dem Küchen­chef und dem Emp­fangs­chef ent­steht eine enge Freund­schaft, die sich bewäh­ren muss. Zum Schluss gibt es sogar einen Show­down, aber der Erzäh­ler, der die unver­zeih­li­che Sün­de der nach­träg­li­chen his­to­ri­schen Recht­ha­be­rei in kei­nem Halb­satz unter­krie­chen lässt, wählt geschmack­vol­l­er­wei­se kein ame­ri­ka­ni­sches, son­dern ein rus­si­sches Ende.

 

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