Es gibt Bücher, bei deren Lektüre sich das Gefühl einstellt, jemand habe in einem über allzu lange Zeit ungelüfteten Raum das Fenster geöffnet. Ein solches Buch ist Titus Gebels Plädoyer „Freie Privatstädte. Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt”. Der Autor, promovierter Jurist, Unternehmer und Gründer der Deutsche Rohstoff AG, arbeitet derzeit daran, die erste Kommune dieser Art zu etablieren (übrigens in Honduras; das wirkt zunächst bizarr, ist aber insofern logisch, als die wunders wie freien westlichen Sozialstaaten eine wirklich freie Konkurrenz auf ihrem Gebiet so schnell nicht dulden werden).
Bei Gebels Vorschlag handelt es sich also um eine Zukunftsvision, eine Art „Utopia”. Der entscheidende Unterschied zu Thomas Morus’ genrebegründendem Roman aus dem frühen 16. Jahrhundert besteht darin, dass für den Unternehmer das Privateigentum die Basis von allem darstellt, während es auf der Insel der Seligen des englischen Lordkanzlers – ob Morus sein Opus nun als Satire verstanden hat oder nicht – abgeschafft ist.
Wer für die Zukunft plant, muss sich zunächst den Status quo vergewärtigen und festlegen, was er anders gestalten will. Damit beschäftigt sich die erste Hälfte des Buches.
Durch die deutsche Gesellschaft – und letztlich durch sämtliche westliche Gesellschaften – zieht sich ein Graben, der täglich breiter und tiefer wird und kaum mehr überbrückbar erscheint. Es ist, um die Spaltung der Anschaulichkeit halber auf ein einziges Begriffspaar zu bringen, ein Graben zwischen Universalisten und Partikularisten (in den derzeit im Schwange befindlichen politischen Begriffen: zwischen Establishment und Populisten; freilich befinden sich unter Letzteren viele Staatsfrömmlinge, denen Gebel das Fenster viel zu weit aufreißen dürfte). Zu welchem Lager Sie gehören, geneigter Leser, können Sie mit der Beantwortung einer einzigen Frage ermitteln: Halten Sie es für erstrebenswert, dass dereinst eine Weltregierung und ein Weltparlament die steuerfinanzierte Wohlfahrtspolitik einer vereinigten Weltrepublik bestimmen, in welcher Menschen, Waren und Informationen ungehindert fließen können (und, nebenbei, die Völker und das Bargeld abgeschafft sind), oder sind sie eher dafür, dass die Welt ein Pluriversum bleibt, in dem es zahlreiche autonome, miteinander konkurrierende, verschiedene Formen des Zusammenlebens ausprobierende Gesellschaftssysteme gibt?
Gebel geht von zwei Prämissen aus, zum einen, dass es für den Abbau politischer Spannungen besser sei, Gesellschaftsordnungen als „Produkte” zu betrachten, deren Hersteller um die Bürger als „Kunden” werben; das ermögliche „eine erhebliche Entschärfung bisheriger politischer Konflikte”. Zum zweiten, dass sich im Falle unvereinbarer Klientelen deren räumliche Trennung als die beste Lösung anbietet. Das betrifft nicht allein Linke und Konservative, Hausbesetzer und Häuslebauer, Grünen- und AfD-Wähler, sondern – „Nun sind se halt da” – Millionen in Europa eingewanderte Muslime, von denen sich das Gros wohl nie mit der Lebensart der Europäer anfreunden wird (ein interessanter Text dazu findet sich übrigens hier), und von deren Gebieten sich abzusondern einer der mächtigsten Trends der Zukunft sein dürfte. „Die einzige friedenserhaltende Lösung ist, inkompatible Weltanschauungen räumlich zu trennen bzw. entsprechende Störer des Landes zu verweisen”, statuiert Gebel. „Andernfalls wird es einen ständigen Kampf um die Macht geben, denn die jeweiligen Konzepte schließen einander aus.”
Diese segens- und hilfreiche Trennung – und hier beginnt der einstweilen noch utopisch wirkende Teil des Buches – soll eben nicht nur nach dem bisherigen Modus des zwangsweisen Überstülpens der jeweiligen Ordnung verlaufen (Gebel stellt seiner Fiktion „Dezentralia” die bereits in statu nascendi vorhandenen Systeme „Nannytopia” und „Weltkalifat” gegenüber), sondern ausschließlich nach den Kriterien der freien Marktwirtschaft. Im Idealfall könnte sich jeder Erdenbürger auf dem Markt der Gesellschaftsordnungen diejenige aussuchen, die zu ihm passt, was natürlich umgekehrt nur funktionieren kann, wenn der besagte Erdling auch die Erwartungen erfüllt, welche die jeweilige Ordnung an ihre Mitglieder stellt. Wer unter Linken nach linken Vorstellungen leben will, mag das gern tun; es ist nur stets befremdlich, wenn Menschen ihr Leben auf anderer Menschen Kosten führen und ihnen auch noch vorschreiben wollen, nach welchen Regeln sie ihr Dasein zu fristen haben. Eine freie Privatstadt kann nicht jedem ihre Tore öffnen, weil es dann schnell vorbei wäre mit Freiheit und Privatheit. Sie wäre ein „Gegenpol zu allen Kollektivideen politscher oder religiöser Prägung, die von den Menschen fordern, zugunsten eines Gemeinwohls oder einer göttlichen Ordnung vom Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben Abstand zu nehmen”.
In einer luziden Analyse zeigt Gebel, warum das System des restmarktwirtschaftlich finanzierten Umverteilungsstaates zwangsläufig immer wieder scheitern muss. Es bewegt sich, grob gesagt, in folgendem Zyklus:
Menschen wollen ihren Lebensstandard erhöhen; am einfachsten funktioniert das, indem man anderen etwas wegnimmt; die meisten trauen sich allerdings nicht, dem Nächsten einfach direkt etwas wegzunehmen, also beauftragen sie den Staat damit; Politiker erfüllen diese Wünsche, indem sie Steuergelder umverteilen, sonst werden sie abgewählt; der Staat löst die Wirtschaft als Hauptquelle der Erhöhung des Lebensstandards allmählich ab; immer weniger Menschen arbeiten im produktiven Sektor, die Staatsnutznießer bilden schließlich die Mehrheit der Wähler; die Verteilungskämpfe werden intensiver, die Staatsquote steigt immer höher, die Staatsverschuldung wächst; die Staatspleite führt zum Systemkollaps und zu radikalen Reformen; das Spiel beginnt von vorn.
In welchem Stadium sich die Bundesrepublik mit ihrer Staatsquote von 50 Prozent gerade befindet, mag sich jeder selber ausrechnen. Der Kollaps des Systems wird durch die Masseneinwanderung von Sozialfällen derzeit enorm beschleunigt.
Die innerhalb des Systems unkurierbaren Mängel desselben lauten also: Mitbestimmung statt Selbstbestimmung (= erzwungene statt freiwilliger Kooperation), falsche Anreize („Wenn dafür bezahlt wird, arm, arbeitsunfähig, krank oder alleinerziehend zu sein, so werden auch diese Zustände häufiger auftreten”) und vor allem: Eine kleine Minderheit von Politikern trifft Entscheidungen, für die sie niemals materiell zur Rechenschaft gezogen wird, egal wie hoch der angerichtete Schaden ist, den wiederum jene zu begleichen haben, die über die Verwendung der Gelder nicht mitentscheiden dürfen. Gebel zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Thomas Sowell: „Man kann sich kaum eine dümmere oder gefährlichere Art der Entscheidungsfindung vorstellen, als die Befehlsgewalt in die Hände von Menschen zu legen, die keinerlei Preis dafür bezahlen, falsch zu liegen.” Ihre Existenz ist auch dann gesichert, wenn sie abgewählt werden. Sie haften praktisch für nichts.
Das sei übrigens der Grund, schreibt der Autor, „warum es nirgends auf der Welt ein demokratisch geführtes Unternehmen gibt” – es würde binnen kürzester Zeit bankrott gehen. Die Alternative bestünde darin, den Halbgott Staat in ein Dienstleistungsunternehmen umzuwandeln, dessen Befugnisse exakt festgelegt sind und mit dem der Bürger einen Vertrag abschließt.
Eine „neue, langfristig stabile Gesellschaftsordnung” müsse von denjenigen, die sie führen, folgendes verlangen:
> ein eigenes wirtschaftliches Interesse am Erfolg des Gemeinwesens
> Haftung für Fehler (Kopplung von Macht und Verantwortung)
> keinerlei Hürden gegen den Wegzug von Bürgern
> keinerlei Sonderregelungen für Einzelne oder Gruppen
> vertraglich exakt fixierte Verpflichtungen beider Seiten, die nicht einseitig geändert werden können
> neutrale Streitschlichtung im Falle von Differenzen.
Gebel: „Für sieben Milliarden Menschen dürften zweihundert verschiedene Systemangebote, davon viele nahezu identischen Inhalts, einfach zu wenige sein. Je mehr neue und verschiedene Angebote es gibt, desto besser.” Eines davon sei die freie Privatstadt, deren Bewohner nicht mehr Staatsbürger, sondern „Vertragsbürger” wären und ihr Schicksal in Eigenverantwortung regelten.
Solche Kommunen könnten sich übrigens auf ein erlauchtes Pedigree berufen, von den antiken Stadtstaaten über die freien Reichsstädte des deutschen Hochmittelalters („Stadtluft macht frei”), die Hansestädte und die Stadtstaaten der italienischen Renaissance hin zu modernen, wirtschaftlich sehr erfolgreichen Stadtstaaten wie Hongkong, Dubai, Singapur, Sandy Springs sowie verschiedenen Sonderwirtschaftszonen. Gebel behandelt diese Vorläufermodelle in einem eigenen Kapitel. Eine erhellende Passage widmet sich dem Fürstentum Liechtenstein. Diese konstitutionelle Monarchie vereint auf eine weltweit einzigartige Weise plebiszitäre mit autoritären Elementen: Der Fürst hat ein Vetorecht gegen die Ergebnisse von Volksabstimmungen, umgekehrt haben die Bürger die Möglichkeit, den Fürsten per Misstrauensvotum abzusetzen; die Gemeinden besitzen überdies das Recht auf Sezession. Das ist so grandios klug ausbalanciert, dass es kaum zu glauben ist, und Liechtenstein hat bekanntlich die Kataklysmen des 20. Jahrhunderts recht unbeschadet überstanden.
Gebel lebt übrigens und keineswegs zufällig in einem anderen Fürstentum, nämlich Monaco, das Nichtmonegassen (immerhin vier Fünfteln der Bevölkerung) keinerlei Mitbestimmungsrechte zugesteht, aber trotzdem ein begehrter Lebensort ist, weil es „Sicherheit, weitgehende Steuerfreiheit und überschaubare Regeln” bietet und seine Einwohner ansonsten unbehelligt lässt. Der Mann hat also mehr als nur eine Idee, wovon er spricht.
Im zweiten Teil des Buches beschreibt Gebel sehr akribisch, wie eine solche freie Privatstadt funktionieren könnte. Das beginnt bei der vertraglichen Regelung eines „Mindestkatalogs von Autonomierechten” mit dem Gastgeberstaat, führt über verschiedene Rechtssysteme, einen verbindlichen minimalen Ordre Public (mit der Ausweisung als ultima ratio), Budget‑, Währungs- und Infrastrukturfragen, soziale Absicherung, Einwanderungsregeln und das Bildungssystem zu Überlegungen, wie ein solches Gebilde seine innere und äußere Sicherheit gewährleisten könne. Es würde hier zu weit führen, auf all das einzugehen; ich empfehle ausdrücklich die Lektüre.
„Menschenrechte sind richtig verstanden Abwehrrechte”, schreibt Gebel in der Tradition sämtlicher Freiheitsdenker von John Locke bis Roland Baader. Das heißt, dem derzeit verstärkt propagierten angeblichen Menschenrecht auf Migration und Teilhabe steht das elementare Menschenrecht auf Verteidigung von Leben, Leib und Eigentum entgegen. Das oberste Menschenrecht besteht darin, in Ruhe gelassen zu werden. Es gibt – Kriegs- und Katastrophenfälle ausgenommen – keine Teilhaberechte, die das natürliche Selbstbestimmungsrecht des Menschen außer Kraft setzen. Das neue Utopia muss also ein Ort sein, dessen Bedingungen Gebel in einem Postscriptum zusammenfasst:
„Liebe Politiker, liebe Meinungsmacher, liebe Weltverbesserer,
wir möchten in Frieden und Freiheit leben.
Wir können für uns selber sorgen.
Wir wollen in Ruhe gelassen werden.
Verstehen Sie das nicht?”
(Titus Gebel, Freie Privatstädte, Walldorf 2018, 312 S., 24,99 Euro).