Zur humanitären Grenzöffnung Merkels vom 05.09.2015
Ein Gastbeitrag von Carl Schmitt, Berlin
I. Auf der Pressekonferenz am 15.09.2015 hat Merkel über Staat und Recht gesprochen. „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.”
Sie zeigte den Gegensatz eines substanzhaften, von Sittlichkeit und Gerechtigkeit nicht abgetrennten Rechts zu der leeren Gesetzlichkeit einer unwahren Neutralität und wies damit auch auf die inneren Widersprüche in der Geschichte dieses Landes hin, das nur zu oft dunkel war und Dunkelheit verbreitete.
Bis zum heutigen Tage tragen wir die Verantwortung für die Verbrechen, Hemmungen und Lähmungen der nationalsozialistischen Herrschaft vor und im Weltkrieg.
Alle sittliche Empörung über die Schande dieser Gewaltherrschaft hat sich in Angela Merkel angesammelt und ist in ihr zur treibenden Kraft einer humanitären Tat geworden. Alle Erfahrungen und Warnungen der Geschichte des durch Deutschland verursachten Unglücks sind in ihr lebendig. Die meisten fürchten sich vor der Härte solcher Warnungen und flüchten lieber in eine ausweichende und ausgleichende Oberflächlichkeit.
Merkel aber macht Ernst mit den Lehren der deutschen Geschichte. Das gibt ihr das Recht und die Kraft, ein weltoffenes Deutschland und eine neue humanitäre Ordnung zu begründen.
II. Merkel schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn sie im Augenblick der humanitären Krise kraft ihres Amtes und ihres moralischen Urteilsvermögens unmittelbar Recht schafft:
„Das war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ.”
Wahrer Moralität folgt immer auch wahre Urteilskraft.
Aus moralischer Urteilskraft fließt die Fähigkeit, Recht zu schaffen. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Recht-Schaffenden entweder zum Antipoden der Moral oder zum Werkzeug des Moral-Antipoden und sucht die Gesellschaft mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. Das ist eine oft erprobte Methode nicht nur der Gesellschafts- sondern auch der Rechtszerstörung.
Die Justiz verwandelt sich dadurch in einen Zurechnungsbetrieb, auf dessen von ihm voraussehbares und von ihm berechenbares Funktionieren der Moral-Antipode ein wohlerworbenes Recht zu haben glaubt.
Die verschiedenen Gruppen der offenen Gesellschaft aber sind in einer angeblich lückenlosen Legalität restlos gefesselt. Für den äußersten Notfall werden der Gesellschaft vielleicht unter der Hand apokryphe Notausgänge zugebilligt, die von einigen Rechtslehrern nach Lage der Sache anerkannt, von anderen im Namen des Rechtsstaates verneint und als „juristisch nicht vorhanden” angesehen werden. Mit dieser Art von Jurisprudenz ist der Satz Merkels:
„Europa ist in seinem Innersten herausgefordert”
allerdings nicht zu begreifen. Sie kann den Recht-schaffenden Entschluss Merkels nur in eine nachträglich zu legalisierende und indemnitätsbedürftige Maßnahme für die hilfesuchenden Menschen umdeuten. Ein fundamentaler Teil unseres Grundgesetzes, der Schutz der Menschenrechte, wird dadurch in eine juristisch belanglose Floskel und der Dank, den die Medien Angela Merkel im Namen der Bevölkerung in diesem Land ausgesprochen haben, in eine Indemnität oder gar einen Freispruch verdreht.
In Wahrheit war der Entschluss Merkels echte humanitäre Gerichtsbarkeit. Sie unterstand nicht der Justiz, sondern war selbst höchste, weil zutiefst menschliche Justiz.
Es war nicht die Aktion eines republikanischen Diktators, der in einem rechtsleeren Raum, während das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollzogene Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen Tatsachen, die Fiktionen der lückenlosen Legalität wieder Platz greifen können.
Der Entschluss Merkels entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Menschenrecht entspringt. Wenn Menschen in höchster Not sind, bewährt sich das höchste Recht – das Menschenrecht –, und seine Verwirklichung sowie sein Schutz erscheinen als der höchste Grad der Verwirklichung dieses Rechts.
Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht aller Menschen.
Jedes Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt. Das Übrige ist kein Recht, sondern ein „positives Zwangsnormengeflecht”, dessen ein geschickter Moral-Antipode spottet.
III. In scharfer Entgegensetzung hat Merkel den Unterschied ihrer Regierung und ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen zum totalitären Staat und dem Unrechtsregime der Nazis betont:
„Wir schaffen das.”
Wenn Merkel mit solchen Worten die Auseinandersetzung mit einem trüben Abschnitt der deutschen Geschichte fordert, so ist das auch für unser Rechtsdenken, für Rechtspraxis und Gesetzesauslegung, von juristischer Tragweite. Wir haben unsere bisherigen Methoden und Gedankengänge, die bisher herrschenden Lehrmeinungen und die Vorentscheidungen der höchsten Gerichte auf allen Rechtsgebieten neu zu prüfen. Wir dürfen uns nicht blindlings an die juristischen Begriffe, Argumente und Präjudizien halten, die ein altes und krankes Zeitalter hervorgebracht hat.
Mancher Satz in den Entscheidungsgründen unserer Gerichte ist freilich aus einer berechtigten Sorge vor dem Wiederaufflackern des damaligen Systems zu verstehen; aber auch das würde, lediglich gedankenlos weitergeführt, heute das Gegenteil bedeuten und die Justiz zum Feind der heutigen Gesellschaft machen.
Wenn ein ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts der Kanzlerin in einem Rechtsgutachten zur Öffnung der Grenzen Sätze wie: „Das Grundgesetz garantiert nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich” entgegen hält, so sind diese aus einer rein technokratischen Haltung gesprochen.
Das technokratische Richtertum wird hineingedacht in eine Frontstellung nicht nur gegenüber der Bevölkerung und der Regierung, sondern auch gegenüber der Menschheit überhaupt. Heute aber obliegt uns die Pflicht, den neuen Sinngehalt aller öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, auch der Justiz, mit größter Entschiedenheit durchzusetzen.
Am Ende des 18. Jahrhunderts hat der alte Häberlin die Frage des Staatsnotrechts mit der Frage der Abgrenzung von Justizsachen und Regierungssachen in Verbindung gebracht und gelehrt, bei Gefahr oder großem Schaden für die Gesellschaft könne die Regierung jede Justizsache zur Regierungssache erklären. Im 19. Jahrhundert hat Dufour, einer der Väter des französischen Verwaltungsrechts, den jeder gerichtlichen Nachprüfung entzogenen Regierungsakt (acte de gouvernement) dahin definiert, dass sein Ziel die Verteidigung der Gesellschaft, und zwar die Verteidigung gegen innere und äußere, offene oder versteckte, gegenwärtige oder künftige Feinde sei.
Was man auch immer von solchen Bestimmungen halten mag, sie weisen jedenfalls auf eine juristisch wesentliche Besonderheit der politischen „Regierungsakte” hin, die sich auch in liberalen Rechtsstaaten wie unserem rechtliche Anerkennung verschafft hat.
In einem vom Primat der Moral geleiteten Gesellschaftssystem aber, in dem Gesetzgebung, Regierung und Justiz sich nicht gegenseitig misstrauisch kontrollieren, muss das, was sonst für einen „Regierungsakt” rechtens ist, in unvergleichlich höherem Maße für einen Entschluss gelten, durch den eine Regierung höchsten moralischen Anforderungen genügt und sich im Schaffen diesbezüglichen Rechts bewährt hat.
Inhalt und Umfang ihres Vorgehens bestimmte Angela Merkel selbst und – kraft ihrer moralischen Autorität – selbstverständlich ohne parlamentarische Absicherung.
Dass die Abgrenzung ermächtigten und nichtermächtigten Handelns im Zweifelsfalle nicht Sache der Gerichte sein kann, dürfte sich nach den vorigen Andeutungen über die Besonderheit von moralisch geprägten Regierungsakten von selbst verstehen.
IV. Innerhalb des Gesamtbereichs jener Monate treten diejenigen Recht-schaffenden Handlungen Merkels besonders hervor, durch die sie als Kanzlerin der Herzen die teils menschenverachtenden, ja gegen die Menschlichkeit gerichteten Handlungen anderer Regierungschefs in Europa konterkariert hat. Die Anführerin der Freien Welt hat in dieser Eigenschaft eine Recht-schaffende Aufgabe, deren inneres Recht von niemand anderem verwirklicht werden kann.
Dass es in unserer Gesellschaft nur eine Quelle politischen Handelns geben darf, die Menschlichkeit, hat Merkel in ihrer Rede anlässlich der Fraktionssitzung vom 22.09.2015 ausdrücklich hervorgehoben:
„Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin. Nun sind sie halt da.”
Daran, dass die Regierung diese Aufgabe erfüllt, hängt heute nicht weniger als das Schicksal der Menschheit selbst.
„Zu Recht wehrt sich Kanzlerin Angela Merkel gegen die Kritik, sie sei Flüchtlingen gegenüber zu großzügig. Wer in dieser Frage kein Herz zeigt, hat die humanitären Werte der EU am Stacheldraht-Zaun abgegeben.” (bundesdeutsche-zeitung.de)
Hier ist Merkel deshalb infolge der besonderen humanitären Notlage noch in einer spezifischen Weise zur höchsten moralischen Instanz geworden.
V. Immer wieder erinnert Merkel an die Lehren, die wir aus der Vergangenheit ziehen müssen. Von dort aus bestimmt sich unsere heutige Lage. Wer die ernsten Vorgänge in den Tagen der Grenzöffnung richtig beurteilen will, darf die Ereignisse dieser Tage und der folgenden Monate nicht aus dem Zusammenhang unser Geschichte und der sich daraus ergebenden politischen Gesamtlage herausnehmen und nach der Art bestimmter strafprozessualer Methoden solange isolieren und abkapseln, bis ihnen die politische Substanz ausgetrieben und nur noch eine „rein juristische Tatbestands”- oder „Nicht-Tatbestandsmäßigkeit” übrig geblieben ist. Mit solchen Methoden kann man keiner humanitären Notlage gerecht werden.Es gehört aber zum rechtspopulistischen Standardrepertoire und ist ein seit langem geübter Kunstgriff menschenfeindlicher Hetze, gerade dieses Isolierverfahren als allein „rechtsstaatlich” hinzustellen.
1933 haben alle in ihrem Rechtsdenken verwirrten deutschen Wähler der Nazis in merkwürdiger Einmütigkeit verlangt, dass man das Schicksal Deutschlands und letztlich der Menschheit solchen prozessualen Fiktionen und Verzerrungen ausliefere, und eine geistig hilflose Bürokratie hat damals dann willfährig diese „juristischen” Forderungen vollstreckt.
Gegenüber der Entscheidung Angela Merkels werden manche deutschen Rechtspopulisten mit ähnlichen Forderungen kommen. Sie werden es unerhört finden, dass die heutige deutsche Gesellschaft die Kraft und den Willen hat, zwischen wahrer Menschlichkeit und kaltherziger „Rechtsprechung” unterscheiden.
Sie werden uns das Lob und den Beifall der Deutschen versprechen, wenn wir wiederum, wie damals im Jahre 1933, niederfallen und die Menschenrechte den Götzen des Nationalismus und des Egoismus opfern.
Wer den gewaltigen Hintergrund der humanitären Notsituation sieht, wird die Mahnungen und Warnungen Merkels verstehen und sich zum Kampf gegen rechts und für die Menschheit rüsten, in dem wir nicht weniger als die universal gültigen Menschrechte zu wahren haben.