Chopin: Scherzi

Die vier Scher­zi zäh­len zu den ein­drucks­volls­ten und ver­we­gens­ten Schöp­fun­gen Cho­pins. Der gött­li­che Pole hat die­ses Gen­re zwar nicht erfun­den – Scher­zi gibt es ja schon bei Hadyn –, doch kann man ange­hörs der Eigen­art die­ser Stü­cke, ähn­lich wie bei sei­nen Bal­la­den, von einer Gat­tungs­neu­grün­dung spre­chen. Es han­delt sich dabei übri­gens um sehr erns­te Scher­ze; zum h‑Moll-Scher­zo etwa frag­te Robert Schu­mann irri­tiert, „wie sich der Ernst klei­den soll­te, wenn schon der ‚Scherz’ in dunk­len Schlei­ern geht“.

Die ein­sät­zi­gen Pre­zio­sen ent­stan­den nicht in einem Guss, son­dern über einen Zeit­raum von mehr als zehn Jah­ren. Wie bei den Evan­ge­li­en fällt eines aus dem Rah­men, näm­lich das vier­te, dem jene Dra­ma­tik fehlt, die aus sei­nen drei Geschwis­tern des­to hef­ti­ger her­vor­bricht. Gemein­sam sind ihnen die völ­lig freie,  musi­ka­li­sches Neu­land erschlie­ßen­de Art des Kom­po­nie­rens, die schrof­fen rhyt­mi­schen Gegen­sät­ze, der zer­ris­se­ne Ver­lauf mit abrup­ten Pau­sen und die inmit­ten des Tumul­tes auf­leuch­ten­den Idyl­len. Nr. 1 ist das düs­ters­te, Nr. 4 bil­det einen hei­ter-gelös­ten Abschluss. Jeder Takt trägt Cho­pins sin­gu­lä­re Handschrift.

Das h‑Moll-Scher­zo lebt vom har­ten Kon­trast zwi­schen dem schmerz­li­chen Beginn, einem wie von allen Furi­en gehetzt dahin­ra­sen­den Pres­to con fuo­co, und dem inni­gen Mol­to più len­to-Mit­tel­teil, einer pol­ni­schen Weih­nachts­me­lo­die mit dem Cha­rak­ter eines Wie­gen­lie­des. Am Ende zer­fällt das Idyll und wird in einer wüten­den Coda zer­stört. Das b‑Moll-Scher­zo beginnt mit einer fra­gen­den Figur, die von einer for­tis­si­mo-Ant­wort zwei­mal förm­lich nie­der­ge­brüllt wird, und die­se ers­ten 17 Tak­te gehö­ren zum Ein­präg­sams­ten, was die Kla­vier­li­te­ra­tur her­vor­ge­bracht hat. Nr. 2 eilt von Kon­trast zu Kon­trast, es ist ein im bes­ten Sin­ne ori­gi­nel­les, zu sei­ner Zeit uner­hör­tes, atem­be­rau­ben­des Stück, in dem Cho­pin Wohl­klang und Furor ver­bin­det. Das Scher­zo in cis-Moll scheint mit sei­nem gru­se­li­gen Beginn an die Not­schreie des ers­te anzu­knüp­fen, geht aber bald in eine medi­ta­ti­ve Pas­sa­ge über, in wel­cher sich die fei­er­li­chen Akkor­de eines Cho­rals mit einer abwärts per­len­den, schim­mern­den Figur aus Ach­teln abwech­seln – ein ein­zig­ar­ti­ger Dua­lis­mus –, um zwar wie­der im drei­fa­che For­te, aber durch­aus opti­mis­tisch zu enden. Nr 4. erklingt im war­men E‑Dur und ver­brei­tet eine gleich­sam son­ni­ge Gestimm­heit, wobei im Mit­tel­teil eine jener wun­der­schö­ne Kan­ti­le­nen anhebt, wie nur Cho­pin sie kom­po­nie­ren konnte.

Cho­pin, 4 Scher­zi; Ivo Pogo­re­lich (Deut­sche Grammophon)

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei Nr. 164

Vorheriger Beitrag

Zurück ins trübe Gestern?

Nächster Beitrag

Und jeden Tag ein bisschen enthemmter

Ebenfalls lesenswert