Der Klimawandel beschert deutschen Winzern zwar mehr Arbeit, aber auch beeindruckende Resultate im Glas. Eine traditionsreiche französische Rebsorte wird indes wohl den Wärmetod sterben
Es gibt Weingegenden, die sind so malerisch, dass einem dort quasi alles schmeckt, was ins Glas kommt. Andere, die Pfalz etwa, präsentieren sich zurückhaltender. Die Weinberge sind eher Hügel, nicht so spektakulär wie manche Steillagen an Rhein und Mosel, aber von einem gewissen Liebreiz. Gemütlich. So wie die Weine dort: süffig, solide, unangeberisch, trinken sich gut weg…
Aber holla – was ist das denn? Ein großer Burgunder, der sich mitsamt seiner tiefgründigen Mineralität in die Pfalz verirrt und dort die typisch deutsche Frische aufgesogen hat? So elegant, so viel Finesse, aber doch schlank und mit appetitlichen Fruchtnoten; gewissermaßen Ballkleid und Minirock in einem.
Peter Siener heißt der Mann, der diesen Weißburgunder aus dem Jahr 2013 eingeschenkt und vor allem hergestellt hat. Der 41-Jährige zieht seinen Stoff zu Birkweiler in der Südpfalz auf Flaschen. Deutscher Weißburgunder ist in der Regel ein zwar fruchtiges, aber oft auch etwas fades Tränklein. Dem „Birkweiler Rosenberg“ indes entnimmt der bezirzte Gaumen immer neue Nuancen. „Solche Weine“, sagt Siener, „haben wir früher nicht gemacht. Aber wir müssen uns gewaltig umstellen.“
Egal, welchen deutschen Winzer man derzeit fragt – unisono sagen sie ähnliche Sätze. Wenn der Klimawandel so schmeckt wie Sieners Rieslinge und Weißburgunder, dann sei er gepriesen. Klimawandel? Das Klima wandelt sich zu allen Zeiten. Es gibt nur immer mehr Menschen auf dem Planeten, die sich damit arrangieren müssen, darunter so sensible Zeitgenossen wie die Winzer mit ihren zuweilen noch sensibleren, ja zickigen Reben. Auch der Weinanbau wandelte sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte, keineswegs nur durch Klimaschwankungen, nicht minder beispielsweise durch die Reblaus oder durch Parker-Punkte – wobei unter Kennern umstritten ist, welcher Einfluss verheerender war.
Aktuellen Prognosen zufolge wird es bis 2030 um etwa zwei Grad Celsius wärmer. Seit einigen Jahren stagniert der durchschnittliche Temperaturanstieg allerdings. Doch schon die bisherige Erwärmung hat die europäische Landkarte des Weinbaus verändert. Bacchus’ fröhliches Reich dehnt sich nach Norden aus.
Rebensaft von erwähnenswerter Qualität gedieh lange nur zwischen dem 40. und 50. Breitengrad. Heute reift großartiger Wein in Sachsen. Rebstöcke stehen auf Sylt und in Südengland sowieso. Im norwegischen Kristiansand, am 58. Breitengrad, wächst seit 2009 Riesling auf einer Versuchsparzelle, die Reben stammen aus dem 900 Kilometer südlicher gelegenen Rheinhessen. 2014 wurde erstmals Weinbau in Schottland vermeldet. Künftige Vinophile werden vielleicht mit großer Selbstverständlichkeit edlen englischen Schaumwein, süffigen Silvaner aus Südschweden oder rassigen Riesling aus Lettland picheln.
In den südlichen Anbaugebieten, etwa im Friaul, wandern die Rebstöcke ebenfalls: in die Höhe. In Nordspanien ist der Weinbau auf 800 Metern angelangt, südafrikanische Winzer gehen auf der Suche nach kühleren Lagen noch höher. In Regionen wie dem Rhônetal führte die Erwärmung dazu, dass nicht mehr die Parzellen direkt am Fluss bevorzugt werden, wo das Wasser die Sonneneinstrahlung verstärkt, sondern entferntere Anhöhen.
In österreichischen und deutschen Weinregionen fassen Sorten Fuß, die bisher vor allem im Süden gediehen: konzentrierte Syrahs, die normalerweise unterhalb von Lyon reifen, elegante Merlots und Cabernet Sauvignons, die in Bordeaux oder in Übersee gekeltert werden und viel Sonne brauchen. Bis an die einst kühle Ahr bauen neuerungsfreudige Erzeuger inzwischen Cabernet Franc, Bestandteil vieler Bordeaux-Cuvées, und Cabernet Sauvignon an, mitunter mit Mostgewichten, von dem mancher Bordeaux-Winzer träumen kann. Bei den Weißen breiten sich speziell Chardonnay und Sauvignon Blanc immer mehr gen Norden aus. Von Tirol bis Sachsen laufen verwegene Experimente mit für diese Breitengrade ehedem als exotisch geltenden Rebsorten.
Im nördlichsten Zipfel der Pfalz, 300 Meter über Null, liegt das Weingut Klosterhof. „Dort oben, hieß es früher, wird der Wein nicht richtig reif“, erzählt Stephan Schwedhelm, der mit seinem Bruder Georg in vierter Generation Rebstoff herstellt. Heute indes, so der studierte Önologe, müsse man aufpassen, dass der Wein nicht zu alkoholstark wird. Es herrscht so etwas wie vinologische Goldgräberstimmung. Die einen reaktivieren alte Hochlagen, wo ihre Urgroßväter Wein anbauten, andere ziehen in Gegenden, die früher kein Weinbauer haben wollte. In regelmäßigen Abständen tauchen Vertreter etablierter Güter auf, um Parzellen oder wenigstens Trauben zu kaufen. Inzwischen reifen hier in der Nordpfalz Spätburgunder im Côte‑d’Or-Stil und cremiger Sauvignon Blanc. Die beiden Brüder haben das Familiengut kräftig umgekrempelt, ihre Weine sind von stupender Qualität, saftig, charaktervoll, mit langem Nachhall. Etwas für „bewusste Trinker“, wie Georg Schwedhelm nicht ohne Stolz festhält.
Und die Kehrseite? Auch da sind sich die Weinerzeuger einig: Die Wetterextreme haben zugenommen. Unwetter, Hagelschlag, Starkregen, lange Trockenphasen, lange sonnenarme Perioden, sehr frühe Blüte, Spätfröste, die sie zunichte machen, verregnete Herbste, zu warme Winter: Das Klima ist schwerer kalkulierbar geworden und hält die Winzer deutlich mehr auf Trab als früher.
Letztes Jahr etwa blühten die Reben bei Spitzentemperaturen von über 30 Grad, erinnert sich der Südpfälzer Siener, der seine Rebstöcke mit einer eigenen Bewässerungsanlage versorgt. Die Trauben werden oft schlagartig reif. In Baden begann die Riesling-Lese 2014 Mitte September. Normaler Termin: November.
Zu hohe Temperatur hat Säureabbau zur Folge. Bei deutschen Weißweinen steht damit die typische Frische auf dem Spiel. Setzt sich das Prinzip früher Austrieb, frühe Blüte, frühe Lese fort, drohte der Paradesorte des hiesigen Weinbaus, dem Riesling, eine Art Diabetes: Er würde überreif, breit und „fett“. Die rieslingtypische Liaison aus Frucht und Säurespiel braucht einen sonnigen Frühherbst und vor allem kühle Nächte. Wenn die Mostgewichte weiter zulegen, keltern die Kellermeister statt frischer, feinfruchtiger Kabinettweine üppige Spät- und Auslesen mit 13 Volumenprozent Alkohol und mehr.
Die schon jetzt seltene Eisweinlese – die Trauben werden bei mindestens sieben Grad minus in gefrorenem Zustand gekeltert, so dass nur der konzentrierte Nektar aus der Presse läuft – droht allmählich völlig auszufallen. Umgekehrt warnt die Bayrische Landesanstalt für Weinbau vor zunehmenden Spätfrosteinbrüchen während der Wachstumsphase. Erfrieren die Triebe der Rebe, sinkt der Ertrag.
Unangenehm wird es auch, wenn feuchtwarme Witterung auf reifende Trauben trifft; Fäule und Bakterien stellen sich ein. Längere Feuchtperioden behagen vor allem dem Mehltau. Auch mancher Schädling wie der Traubenwickler schlüpft wegen der Wärme früher. Klaus Zimmerling, der an der Elbe südlich von Dresden hochkomplexe Traminer und elegante Weißburgunder keltert, kämpft seit vergangenem Jahr gegen die Kirschessigfliege, die „von heute auf morgen“ bei ihm einfiel. Das Insekt immigrierte über die Zwischenstation Italien aus Asien. Die Winter sind oft nicht mehr kalt genug, um solche Plagegeister zu töten.
Wie sein pfälzischer Kollegen Siener, die Gebrüder Schwedhelm sowie zahlreiche andere Winzer auch erzeugt Zimmerling seinen Wein inzwischen biologisch (oder biodynamisch). Im konkreten Fall heißt das, dass der Kirschessigfliege mit Bakterien oder einem speziellen Kalk der Garaus gemacht wird statt mit Insektiziden. Mit dem Weinbau dem Rhythmus der Natur folgen, lautet die Maxime der Bio-Winzer, von denen viele in bemerkenswerter Einhelligkeit darauf verzichten, ihre Anbauweise auf die Etiketten zu drucken. Den grünen Stiefel mögen sich die meisten nicht anziehen. „Wir arbeiten so, weil das besser für die Wein ist, nicht weil wir die Welt retten wollen“, erklärt Stephan Schwedhelm lakonisch.
Biodynamisch arbeitende Winzer haben gelernt, auf die Klimaveränderungen und ihre Folgen flexibel zu reagieren. Sie erzeugen Weinbergsweine, keine später geschönten und manipulierten Kellerweine. Die Reben werden nicht mehr summarisch, sondern sozusagen individuell betreut. Reifeverzögerung ist mittlerweile ein wichtiges Thema, zum Beispiel durch Verkleinerung der sogenannten Laubwände, also des Grüns im Weinberg. Lesetermine müssen vorgezogen werden, oft in spontaner Reaktion auf die schlagartige Reife der Beeren oder angekündigte Extremwetterlagen. Das „Lesefenster“ ist kleiner geworden, das heißt, die Ernte muss zügig eingebracht werden, mit vielen Saisonkräften. Der Arbeitsaufwand steigt – aber man schmeckt Glas für Glas, dass er sich lohnt.
In den südlicheren Anbaugebieten von Rioja in Spanien über Südfrankreich bis nach Sizilien produzieren die heißeren Sommer zwar perfekt reifende Trauben mit dem Potenzial von Superjahrgängen. Urplötzlich hereinbrechende, oft regional oder lokal wütende Unwetter mit Hagelschlag, Orkanböen und Starkregen machen aber oft binnen Minuten alles zunichte, mit zunehmender Tendenz. Außerdem liegt die Alkoholkonzentration des Rebstoffs dort längst standardmäßig bei 14 und mehr Prozent. So entstehen geschmacklich mitunter sehr gehaltvolle, oft auch bloß eindimensionale, in jedem Falle aber anstrengende Weine, halbe Sherrys, die standhafte Zecher und ausgiebige Siestas am Folgetag verlangen; nicht jedermanns Sache.
Problematisch wird es, wenn Regionen mit ihren Rebsorten auf Grund der klimatischen Veränderungen nicht mehr harmonieren. Sollte es im Burgund zu warm und zu sonnig werden, endet der edle Chablis womöglich als plumper Drops. Auf lange Sicht dürften sich die Klimakapriolen sogar auf die Böden und deren Nährstoffzusammensetzung auswirken. Feuchte Herbste und milde Winter verursachen in unseren Breiten eine schleichende Veränderung des Pflanzenbewuchses und der Besiedelung mit Mikroorganismen. In manchen Lagen bleibt der Boden kontinuierlich feucht. Kein handfester Frost „reinigt“ ihn mehr. Zuweilen durchziehen tiefe Risse die Parzellen.
Verändert sich das Terroir, ändert sich auch der Wein – ob zum Besseren oder Schlechteren, muss einstweilen dahingestellt bleiben. Andererseits werden weiter nördlich oder in höher gelegenen Regionen neue Anbaugebiete erschlossen, also auf Böden, wo noch nie Reben gediehen; neue Geschmacksnuancen sind immerhin garantiert.
Im Bordelais, auf der Champs Elysee des Weinbaus, konzentrieren sich die Hoffnungen der Châteaubesitzer und Weinhändler auf ein kleines Stück Land im 30 000-Einwohner-Städtchen Villenave d’Ornon. Inmitten der renommierten Bordeaux-Appellation Graves hat das „Institut des Sciences de la Vigne et du Vin“ eine Parzelle mit Reben bestockt, von denen die meisten der Bordelaiser Weinaristokratie früher nur ein Naserümpfen entlockt hätten. 52 unterschiedliche Sorten aus aller Welt, vom griechischen Aghiorghitiko über portugiesische Vinhao und Touriga, spanischer Tempranillo, Südfranzosen wie Grenache oder Carignan, sogar georgischer Saperavi und bulgarischer Melnik stehen dort Seit’ an Seit’ mit speziellen Klonen der Bordeaux-Klassiker Cabernet Sauvignon und Merlot.
Der Claim trägt den Namen Parzelle 52. Ein Dutzend Experten studiert hier den Einfluss des Klimawandels auf die verschiedenen Rebsorten. 2009 wurde das Versuchsfeld angelegt, seit 2012 produzieren die Stöcke Wein, in diesem Jahr kommen die ersten verwertbaren Ergebnisse ans Licht. Anpassung heißt das Zauberwort, nicht radikale Umkrempelung der Jahrhunderte alten Weinbautradition. „Unser Ziel ist es, die Identität und Typizität des Bordeaux zu erhalten“, sagt Projektleiterin Agnès Destrac Irvine.
Keineswegs wird das Bordelais als das Epizentrum des planetarischen Rotweinanbaus abdanken, ja als Kulturraum zusammenbrechen, wie unlängst ein deutsches Nachrichtenmagazin unkte. Doch einige Rebsorten werden leiden, gesteht Madame Destrac. Insbesondere der früh reifende Merlot, der allein fast die Hälfte der bestockten Rebfläche in Bordeaux ausmacht, werde quasi nur noch überreif zu ernten sein: zu viel Zucker, zu viel Alkohol; zu wenig Frucht, zu wenig Säure, zu wenig Finesse. Für die Appellation Pomerol, wo mit Château Pétrus der berühmteste und teuerste reinsortige Merlot der Welt gekeltert wird, aber auch für Saint-Emilion wäre das ein Desaster.
Dem später reifenden Cabernet Sauvignon dagegen könnte die Erwärmung sogar guttun – freilich auf die Gefahr hin, dass Bordeaux-Weine irgendwann wie Kalifornier schmecken. Die Sorte Carménère, die einst gemeinsam mit Cabernet Franc den Ruhm der Châteaux begründete und dann in Vergessenheit geriet, steht heute vor ihrem Comeback. Vielleicht ersetzt sie in den Cuvees den Merlot.
Am Ende der mittelalterlichen Wärmeperiode findet das gegenwärtige Szenario übrigens seinen Vorläufer. Damals war Englands Süden dicht mit Reben bepflanzt. Wein wuchs in Pommern und Ostpreußen, und wo sich heute Berlin ausbreitet, lieferten rund 100 Weingärten den Rauschtrank für Adel, Klerus und Bürgerschaft. Freilich waren die Beeren meist so sauer, dass erst Honig- oder Gewürzzusätze den Trunk genießbar machten – ganz im Gegensatz zu den leckeren Stöffchen, die einem heute die Sorgen brechen.
Weintrinker gehen einstweilen herrlichen Zeiten entgegen.
Erschienen (gekürzt) in: Focus 12/2015
Co-Autor: Uli Martin