Freiheit bedeutet, dass auch ein widerwärtiges Blatt wie „Charlie Hebdo“ ohne Einschränkungen erscheinen darf. Das war’s aber schon
Alle westlichen Kommentatoren sind sich einig: Der Mordanschlag auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ war ein Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit, einen zentralen Wert unserer Zivilisation. Zur Meinungsfreiheit gehören bekanntlich Satire, Blasphemie und die Beleidigung religiöser Gefühle. Die Grenzen der Freiheit wegen spezieller staatlicher Animositäten sind durch das Strafrecht markiert. Sonst kann jeder sagen und zeichnen, was er will, auf das Risiko, gesellschaftlich geächtet zu werden, aber ohne Gefahr für Leib und Leben. So ist das im Westen.
Wer gegen die Todesstrafe ist, muss auch gegen die Todesstrafe für Eichmann sein; wer will, dass Eichmann hängt, muss für sie sein. So einfach verhält es sich auch mit der Meinungsfreiheit. Wenn ich für sie bin, muss ich für die Meinungsfreiheit von jedermann sein, und ich muss mich erst recht mit Menschen solidarisieren, die ermordet wurden, weil sie von ihr Gebrauch machten. Aber Dreckschleudern und Hassprediger darf ich sie trotzdem nennen.
Viele Zeichnungen von „Charlie Hebdo“ waren ekelhaft und verbreiteten Hass. Eine bezeichnete den Koran auf der Titelseite als „Scheiße“, Papst Benedikt wurde als Penetrierer eines Maulwurfs ins Bild gesetzt. Vater, Sohn und Heiligen Geist sehen wir beim analen Rudelbums. Marine Le Pen rasiert sich auf einem Bild das Schamhaar so, dass Hitler-Scheitel und Hitler-Bärtchen bleiben, eine andere Zeichnung zeigt einen dampfenden Kothaufen mit der Zeile: „Le Pen: eine Kandidatin, die euch ähnelt“. Der große deutsche Humanist Karl Marx nannte die Gegenseite in seinen Briefen gern „Menschendreck“ und „Menschenkehricht“. Seine politischen Enkel haben es immer noch drauf.
Dass der deutsche Grafiker Thomas Meitsch alias Schwarwel auf einer Karikatur die Pegida-Demonstranten aus einem haarigen Hintern kommen lässt und das Bild mit der sinnigen Zeile versieht „Als der Stuhlgang wieder laufen lernte“, wirkt wie bei „Charlie“ gelernt. Nur arbeitet sich der hiesige Meutenfeigling lieber an einem ungefährlichen Gegner ab, während seine Pariser Kollegen immerhin einen beeindruckenden Schneid zeigten.
In gewissem Sinne sind sie auch dafür gestorben, dass ich sie abstoßend finden darf, ich weiß. Und es ist ein Skandal, dass westliche Satiriker unter Polizeischutz stehen, weil sie muslimische Blasphemievorstellungen übertreten haben. Also soll Herr Meitsch Menschenkehricht malen dürfen, ohne Wenn und Aber. Und Muslime, die im Westen leben, müssen wie alle akzeptieren, dass Freiheit eklig sein kann.
Das Problem ist nämlich, dass eine einmal begonnene Einschränkung dieser Freiheit auf die Gesellschaft wirken würde, als habe man ihr eine kollektive Droge verabreicht. Fängt man damit an, gibt es kein Halten mehr: In jeder Minderheit, jeder Ethnie, jeder Religionsgemeinschaft werden sich plötzlich Sprecher oder Funktionäre finden, die auch ein Stück vom Meinungsfreiheitseinschränkungskuchen abhaben und ihre Gruppe besonders vor Beleidigungen schützen wollen. Und es wird viele Anwälte geben, die das große Geschäft wittern. Am Ende wären wir von Strafandrohungen umstellt, die nicht eine so noble Sache wie die Sitte schützten, sondern schnöde Partikularinteressen. Und deshalb müssen wir ertragen, dass es zum Beispiel Karikaturisten gibt, die wirken, als litten sie an einer Unterform des Tourette-Syndroms, der sogenannten Koprolalie, dem zwanghaften Ausstoßen von Obszönitäten.
Schlaumeier sagen jetzt: „Wir sind Charlie“ war ja symbolisch gemeint. Nichts da! Ich kann sehr wohl die Meinungsfreiheit verteidigen, ohne mich gleich mit ihren Exkrementen einzureiben. Je suis Michael.
Erschienen in: Focus 4/2015, S. 29