Der Historiker Jörg Friedrich, Autor des Welterfolgs „Der Brand”, legt eine Darstellung des Ersten Weltkriegs vor. Es ist das provokanteste Buch zum Thema
In letzter Zeit überrascht der Berliner Historiker Jörg Friedrich seine Bekannten mit einer seltsamen Frage: Ob sie eigentlich mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs zufrieden seien? Immerhin ist damals jener Prozess in Gang gesetzt worden, der Deutschland als Großmacht und Weltkulturpräger schließlich vom Spielfeld wischte. „Es muss doch eine große Trauer darüber geben, dass wir verspielt haben“, sagt Friedrich. „An welchem Ort des deutschen Körpers liegt der verdrängte Schmerz über die Niederlage im Ersten Weltkrieg? Gibt es eine Wunde? Ist sie betäubt? Für immer?“
Die Antworten, sagt Friedrich, seien meist ambivalent; auf die Seite des Kaiserreichs wolle sich zwar keiner mehr stellen, aber auf jene der damaligen Sieger auch nicht. So bleibe es bei einem verlegenen Achselzucken und der Bemerkung, was denn die Frage solle, das sei doch Schnee von gestern.
Historiker sehen das gemeinhin anders, vor allem wenn es sich um Begebenheiten der jüngeren Geschichte handelt. Wie sehr der Große Krieg, wie er in Frankreich und England bis heute heißt, in unsere Gegenwart wirkt, lässt sich an vielen Indizien erkennen. Etwa daran, dass Christopher Clarks Wälzer „Die Schlafwandler“, die bislang detaillierteste Analyse der Vorgeschichte von 1914, seit Monaten auf den vorderen Plätzen der Verkauflisten liegt. Und dass auch viele andere Neuerscheinungen zum 100. Jubiläum des Kriegsausbruchs vor allem im Internet umfangreiche Diskussionen auslösen. Und daran, dass kaum ein Zeitungsartikel zum Thema auf den Begriff der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ verzichtet, den der Historiker George F. Kennan geprägt hatte.
Nun legt der Autor des Weltbestsellers „Der Brand“ nach seinen Büchern über den Russlandfeldzug der Wehrmacht, den alliierten Bombenkrieg gegen Deutschland und den Koreakrieg sein nächstes opulentes Werk über einen militärischen Großkonflikt des 20. Jahrhunderts vor*. Das Buch besitzt die Stärken seiner Vorgänger: den epischen Atem, die teils plastische, teils lakonische Sprache, die Orientierung an den Quellen statt an den Meinungen der Kollegen. Friedrich ist ein Geschichts-Erzähler uralten, ideologiefreien Schlags, der im stetigen Wechsel der Schauplätze die Perspektive sämtlicher Seiten einzunehmen sucht. Er liefert also keine „Thesen“. Aber einige Kernaussagen zeichnen sich dennoch ab und werden von ihm im Gespräch auch bestätigt.
1. Wir Deutschen seien „behext von der Schuldfrage“, sagt Friedrich. Aber der Begriff „Kriegsschuld“ sei für den Historiker unergiebig. Weit interessanter und wichtiger finde er die Frage: „Wer verantwortet, dass der Krieg 1915 nicht aufhört?“ Das Erschütternde sei nicht die Art des Kriegsausbruchs als vielmehr die fortdauernde Schlächterei ohne Ergebnis. „Das ist der eigentliche Tiefpunkt. Keine Heiligkeit des Lebens, keine Kunst des Zusammenlebens. Alle Werte fallen binnen weniger Monate. Dieses Europa hatte doch seinen Untergang verdient. Alles, worauf es stolz war, was ihm als heilig galt, wurde ohne einen erkennbaren Anlass abgeräumt.“ Nun könne man fragen: Wer hat auf Zermürbung gesetzt – und wer wollte den Krieg beenden? Während das Kaiserreich mehrfach seine Verhandlungsbereitschaft signalisierte, hätten die Alliierten auf Grund ihrer geostrategischen Vorteile ewig Krieg führen können. „Da hätten wir auf einmal andere Schuldige. Aber die Schuldfrage führt zu nichts. Es geht um Interessen.“ Nach 100 Jahren könne man die Propaganda einstellen.
2. Deutschland wollte den Weltkrieg so wenig wie alle anderen Beteiligten. Seit Beginn der Kaiserzeit habe sich die russisch-französische Zange um das Kaiserreich geschlossen. Die Statistiken waren aus dessen Sicht erschreckend eindeutig: Bevölkerungswachstum, industrielle Entwicklung, Eisenbahnbau, „man konnte sich den Termin ausrechnen, wann Deutschland abgehängt ist“. Deshalb entstand der Schlieffen-Plan, dessen Kern darin bestand, im Falle eines Krieges mit Frankreich und Russland – aufgrund der Beistandsverträge war ein Konflikt nur mit beiden zugleich möglich – mit einem energischen Präventivschlag Frankreich niederzuwerfen, bevor Russland seine Truppen gegen die Ostgrenze des Reichs in Marsch gesetzt hatte. Aber Deutschland habe Österreich im Juli 1914 keineswegs einen „Blankoscheck“ für seine Beteiligung am Krieg erteilt; Wilhelm II. habe vielmehr von „Aktionen“ gegen Serbien gesprochen. Analog etwa zum 11. September 2001 „wurde damals auf ein Attentat reagiert“. Als die Serben auf nahezu alle Bedingungen des österreichischen Ultimatums eingingen, frohlockte Wilhelm: „Wir haben gewonnen.“ Friedrich: „So verhält sich doch niemand, der auf die Gelegenheit zum Krieg wartet.“ Erst die russische Mobilmachung – und zwar nicht im Süden gegen die Österreicher, sondern im Norden gegen Ostpreußen – habe Wilhelms Sinn geändert.
3. Die militärische Stärke des Kaiserreichs war die Ursache seines Untergangs. „Die Grundannahme des Schlieffen-Plans war falsch, Deutschland konnte sehr wohl einen Zweifrontenkrieg führen.“ Deutsche Truppen standen binnen kurzer Zeit im Westen wie im Osten weit auf gegnerischem Territorium. Ein Friedensschluss nach diesem Status quo sei nicht möglich gewesen. Gerade wegen der kolossalen Kraftentfaltung Deutschlands seien die Alliierten nicht bereit gewesen, das Reich weiter zu dulden, „mit diesem Koloss wollte keiner leben“. Man musste die halbe Welt aufbieten, um ihn zu bekämpfen, und trotzdem stand es nur pari-pari. Ein Weltkrieg sei erst entstanden, als der Westen „sein Schwert mit immer neuen Verbündeten ’schärfer’ machen wollte“.
4. Die Alliierten waren an der Propagandafront so überlegen wie die Deutschen im Felde: „Die Moralisierung des Krieges blieb an Deutschland hängen.“ Die deutsche Besetzung Belgiens sei offenbar die einzige erwähnenswerte Annexion gewesen, die von Konstantinopel, Libyen, Ägypten spielten bis heute keine Rolle. Auch die von Frankreich angestrebte Eroberung von Elsaß-Lothringen fällt seit 100 Jahren nicht unter den Begriff Annexion. Dabei seien die französischen Begehrlichkeiten nach jenen Gebieten, die Ludwig XIV. Deutschland wegstahl, ungefähr dasselbe gewesen, als wenn Deutschland heute Schlesien wiederhaben wollte.
Deutsche Truppen töteten in Belgien etwa 3000 Zivilisten als „Franktireure“. Abgehackte Kinderhände und auf Bajonette gespießte Babys waren perfide Erfindungen der britischen Kriegspropaganda. Die englische Hungerblockade, rechnet Friedrich anhand der Sterbestatistiken vor, brachte allein in Deutschland bis zu 800 000 Menschen um, rechnet man Österreich-Ungarn hinzu, ist die Million schnell überschritten. Die Gegenseite habe also ein Mehrhundertfaches an Zivilisten gekillt (die Deutschen hatten es während des Krieges nicht an die große Glocke gehängt, um den „Erfolg“ der englischen Abschnürung nicht zu bestätigen). „Die Blockade war ein Neutralitätsbruch wie der Belgien-Durchmarsch, eine abstoßende, gemeine Waffe, die die Schwächsten traf, Kinder, Kranke, Alte“, sagt Friedrich – doch bis heute werde sie in der Geschichtswissenschaft „hinwegbagatellisiert“. Er verweist auf das Buch eines Kollegen über die deutsche Gesellschaft im Krieg, das deren Militarisierung bis in die Schullehrpläne und die Spielzeugproduktion verfolge, aber die Verhungerten und an fehlender Hygiene Umgekommenen – so gab es beispielsweise wegen des Mangels an Fetten in vielen Krankenhäusern keine Seife mehr – mit keinem Wort erwähnt.
5. Die USA lieferten vom ersten Tag an Waffen und Munition an die Entente, ihr wirtschaftlicher Beitrag zum Krieg war enorm. „Dass die Deutschen ihre U‑Boote schickten, um das zu verhindern, war logisch.“ Zugleich installierte das Kaiserreich in den Vereinigten Staaten ungemein effiziente Terrortrupps, die Rüstungsfabriken und Munitionsschiffe in die Luft jagten, ein nahezu vergessenenes Kapitel des Kriegs, das Friedrich in seinem Buch wieder ausgräbt. Gewissermaßen seitenverkehrt zum Verschweigen der Hungeropfer in Deutschland beschwiegen die Amerikaner die erfolgreichen Anschläge der Deutschen.
6. Die Niederlage sei verdient gewesen, „weil Deutschland nicht bemerkte, dass es gewonnen hatte“ – nämlich im Osten, nach dem Zusammenbruch Russlands 1917. Danach hätte sich das Reich im Westen hinter den Rhein zurückziehen und Waffenstillstandsverhandlungen anbieten sollen. Obwohl das berühmteste Kriterium des Krieges gerade die zwei Fronten gewesen seien, werde bemerkenswerterweise der Osten von Geschichtswissenschaft und Publizistik aber kaum dargestellt. Das gehöre zur siegreichen westlichen Saga.
7. Alle Länder standen vor dem gleichen Problem, nämlich „den Krieg führen, ihn finanzieren und ihren Völkern Kriegsziele verkaufen“. Deutschland bettelte bei der eigenen Bevölkerung um Geld für Eisen, England verwirtschaftete sein Empire, Frankreich war Kriegsgebiet, Russland brach 1917 zusammen, Amerika verdiente prächtig und stieg zur Weltmacht auf. „Ein Frieden ohne Annexion und Reparationen wäre ein unlösbares Problem angesichts der Schuldenberge geworden.“ Entweder die Vereinigten Staaten schenkte ihren Verbündeten alles – die Amerikaner dachten aber nicht daran –, oder man brauchte einen Verlierer, der die Zeche zahlt. Deswegen habe es keinen Kompromissfrieden gegeben. Für die Entente hieß das Kriegsziel: die Mittelmächte zerschlagen und danach die Welt neu verteilen. Doch dass sie für Elsass-Lothringen oder Nordafrika sterben sollten, war den meisten Soldaten, vor allem den angelsächsischen, nicht zu vermitteln; ein zündender Kriegsgrund gegen Deutschland musste nachgeliefert werden. „Der Krieg, der keinen Grund hatte, musste sich einen schaffen.“ Es wurde der Kampf der westlichen Zivilisation gegen eine Macht, die mit der Zivilisation unvereinbar war und die vor Paris stand, irgendwann auch noch fast vor Moskau, gegen die deutschen Barbaren. „Im nächsten Krieg schlüpften die Deutschen dann tatsächlich in diese Rolle.“
1914 sei der Konflikt um ein Ländlein wie Bosnien als geopolitisches Riesenproblem behandelt worden, 1918 dagegen wurde der halbe Kontinent in Windeseile neuverteilt, „Hauptsache, Deutschland ist am Boden. Drei Reiche brechen zusammen, drei Balken der Welt, es gibt überhaupt keine Sicherheitsarchitektur mehr. Der Stärkste hat verloren und sollte fortan schwach sein. Germania esse delendam!“
Und das sei die finale Tragödie des Ersten Weltkriegs gewesen: dass die Welt 1918 schlechter war als 1914 und den Keim allen kommenden Übels in sich trug.
* Jörg Friedrich: 14/18. Der Weg nach Versailles; Propyläen-Verlag, Berlin 2014, 1072 S., 34,99 Euro
Erschienen (gekürzt) in: Focus 20/2014