In seinem neuen Buch – Startauflage 100 000 Stück – beklagt Thilo Sarrazin die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Wie passt das zusammen?
„Einen solchen Misserfolg möchte ich auch mal haben“, soll Charles Gounod nach der Pariser Tannhäuser-Premiere anno 1861 gesagt haben, die von Wagner-Gegnern so lautstark boykottiert wurde, dass der Komponist danach in aller Munde war. Ein bisschen erinnert der Vorfall an die Skandalisierung der Bücher von Thilo Sarrazin, die maßgeblich dazu beitrug, dass der SPD-Mann zum erfolgreichsten Sachbuchautor der Republik aufstieg. Seither ist besonders unter Linken die Frage en vogue, wie sich Sarrazins Auflagenzahlen mit der von ihm wiederholt und in seinem neuesten Buch nun explizit präsentierten These vertragen, in Deutschland werde die Meinungsfreiheit eingeschränkt.
Zunächst: Das deutsche Strafgesetzbuch schränkt sie definitiv ein, aber letztlich darf hierzulande jeder, die im StGB §§ 130 als strafbar festgelegten Sachverhalte ausgenommen, äußern und publizieren, was er will. Es gab Versuche, juristisch gegen Sarrazin vorzugehen, etwa von Karamba Diaby, Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats, der seinem Parteifreund über eine Erweiterung des Volksverhetzungsparagrafen den Mund verbieten wollte, doch die sind allesamt gescheitert. Daraus folgt, dass entweder Meinungsfreiheit herrscht oder Sarrazin sich in deren Grenzen bewegt, dass es allerdings Leute gibt, die diese Grenzen gern enger ziehen würden. Der deutsche Rechtsstaat hat sich im Umgang mit Sarrazins Meinungsfreiheit vorbildlich verhalten, was auch daran zu erkennen war und ist, dass er bei Bedarf dessen Auftritte unter Polizeischutz stellt.
Etwas anders sieht es aus, wenn man die Gesellschaft betrachtet. Durch diese zog sich relativ schnell ein anscheinend unkittbarer Riss im Umgang mit dem dissidenten Sozi. Eine erdrückende Minderheit der Deutschen lehnte seine Thesen zur Integration ab, wobei sich in dieser Minderheit auch der Wunsch nach Verbot und Mundtotmachung regte und der Antipluralismus recht ungescheut sein Haupt reckte, denn dieses Milieu ersetzt Richtig und Falsch gern durch Gut und Böse. Letztlich wird man feststellen müssen, dass die deutsche Gesellschaft überwältigend für Sarrazins Meinungsfreiheit votierte, wobei der millionenfache Kauf seiner Bücher in einem Land ohne Volksabstimmungen beinahe als eine solche durchgeht. Das führte zu der ambivalenten Situation, dass sich der sogenannte Skandalautor zwar in diversen Talkshows und Interviews äußern konnte, aber stets Sprechsituationen zu seinen Ungunsten vorfand, eine feindselige Vorberichterstattung etwa oder immer mehr Gegner als Verteidiger in den Gesprächsrunden. Als in der Geschichte der Republik singulär darf der Fall gelten, dass sich der Regierungschef gegen ein noch nicht einmal erschienenes Buch erklärt. Auch in seiner eigenen Partei sah sich Sarrazin mit einem Ausschlussverfahren konfrontiert; allerdings siegte sogar dort der Pluralismus über den Konsenszwang, und er blieb SPD-Mitglied.
Wie also ist das nun mit den Grenzen der Meinungsfreiheit? Die Frage lautet, wer eine Grenze zieht und inwieweit diese Grenzzieher Legitimität besitzen. Im meinungsbildenden, machtausübenden, „besseren“ Milieu dieser Republik gehört es, trotz einzelner Ausnahmen, zum guten Ton, sich gegen Sarrazin zu positionieren. Auch das fällt unter Meinungsfreiheit. Die meisten Konservativen oder Rechten, die sich über einen angeblich oder tatsächlich waltenden neuen Jakobinismus gegen sie beklagen, haben immer nur dieses prägende Milieu im Auge, zu dem sie im Regelfall sozial und intellektuell selbst gehören und von dem sie aus Gesinnungsgründen geschnitten werden (wer behauptet, es gäbe dieses Milieu nicht, gehört gemeinhin dazu). Die Entscheidung, ob man von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch macht, sofern die eigene Meinung von der des tonangebenden Milieus abweicht, ist immer eine Entscheidung darüber, ob man dazugehören will oder nicht. Es ist also zu unterscheiden zwischen geistiger Freiheit sozusagen in den Grenzen der Republik, und derjenigen innerhalb spezieller Milieus. In Deutschland herrscht insgesamt mehr Freiheit als im tonangebenden Milieu, also in Politik, Medien und an den Universitäten.
Sarrazins Aussagen sind entstellt, vergröbert, falsch zitiert worden, seine Gegner haben teilweise aus ihm einen „rassistischen“ Popanz gemacht – aber das steht auf einem anderen Blatt. Er konnte sie vortragen, in Büchern, Interviews, Lesungen und Talkshows. Millionen haben ihn im O‑Ton vernommen. Die Bundesrepublik als Gesamtbiotop verdient keinen Tadel wegen etwaiger Einschränkung von Sarrazins Meinungsfreiheit. Es ist natürlich bequemer, deren Beschneidung zu beklagen, als sich mit seinen Ansichten ins Getümmel zu stürzen, wo es als Folge zu blauen Augen, Denunziationen, vermasselten Karrieren, ja sozialer Isolation kommen kann. Es liegt schließlich im Wesen einer Meinung, dass sie denjenigen, die anderer Ansicht sind, in der Regel nicht willkommen ist. Den „Glücksfall fremden Denkens“ (Joachim Fest) empfinden offenbar die wenigsten, und oft stehen handfeste materielle Interessen dahinter. Es kann unglaublich lästig sein, in einem Klima der moralischen Erpressung Ansichten zu vertreten, die als böse klassifiziert worden sind. Aber wer es gar nicht erst versucht, darf auch nicht beklagen, es gebe keine Meinungsfreiheit. Die Freiheit ist immer bedroht.
Wenn Sarrazin also von den Grenzen der Meinungsfreiheit spricht, meint er nicht jene Demarkationen, über welche der Staatsanwalt wacht (und deren Legitimität ein anderes Thema ist), sondern in Rede stehen die Grenzen, die vom meinungsbildenden Milieu errichtet werden und bei deren Überschreitung die Diskurslinierichter heftig mit dem Abseitsfähnchen zu wedeln beginnen. In seinem neuen Buch nennt Sarrazin zum Beispiel die Ausweitung des Rassismus-Vorwurfs, der inzwischen gegen nahezu jede Ungleichheitsbehauptung ins Feld geführt werde. Jeder hat das Recht, diese Grenzen zu überschreiten.
Fassen wir zusammen: Meinungsfreiheit „herrscht“ nicht, sondern sie ist bloß staatlich garantiert; man muss sie sich schon nehmen – und mit den Konsequenzen rechnen. Aber von Leuten nicht mehr eingeladen zu werden, die einem die elementarste bürgerliche Freiheit nicht zugestehen wollen (oder die, schlimmer noch, nur mit den Wölfen heulen), ist einem Menschen von Charakter am Ende eher angenehm.
Eine gekürzte Version dieses Textes erschien in: Focus 9/2014