Und wenn ja, was würde daraus folgen?/Eine Betrachtung
Die Rede ist, natürlich, von der Französischen Revolution. Es gab, im Zusammenspiel mit der sie begleitenden industriellen Revolution, keinen tieferen Bruch in der Geschichte. Damals begann sich alles umzukehren, was bis dahin galt, und heute sind die „Ideen von 1789“ zumindest in der westlichena Welt Gemeingut, übrigens auch bei den meisten, die sich für konservativ halten. Es handelt sich bei diesen „Ideen“ um ein Konglomerat von Glaubensartikeln, die bekanntlich eine ungeheure welthistorische Karriere hingelegt haben. Die fundamentalsten sind der Glaube an die prinzpielle Gleichwertigkeit aller Menschen, an die Demokratie als beste aller Staatsformen und an die Notwendigkeit permanenter Emanzipation, die notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden muss, auf dass der gesellschaftliche Fortschritt nimmer ende.
Mit der Abschaffung Gottes per Dekret, der öffentlichen Ermordung des Königs und großer Teile des Adels sowie der Einführung eines neuen Kalenders, beginnend beim Jahre Null, demonstrierten die jakobinischen Revolutionäre, welche Rolle, wenn es nach ihnen ginge, fortan der Tradition zukommen sollte. Sie waren der Überzeugung, etwas präzedenzlos Neues zu schaffen – bis ihre eigenen Köpfe rollten, doch in gewissem Sinne sogar darüber hinaus: Wenngleich Napoleon den revolutionären Elan in historisch gewohnte Bahnen lenkte, blieb der Bruch mit allem Vorherigen doch in der Welt.
Damit wären die Worte gefallen, um die es hier im Wesentlichen gehen soll: Die Frage, ob wir inzwischen in präzedenzlosen Zeiten leben, lässt sich, wenn überhaupt, nur vor dem Hintergrund der Tradition beantworten, genauer gesagt: vor dessen Verschwinden, vor dem Bruch mit allem Vorherigen. – Wenn wir in präzedenzlosen Zeiten leben, würde dies bedeuten, dass unsere Probleme, Ideale, Moralvorstellungen und Möglichkeiten – mit einem Wort: unser Menschenbild – so grundlegend verschieden von allem wäre, was für unsere Altvordern galt, dass uns sämtliche Tradition nichts mehr zu sagen hätte. Wir hätten uns dann sozusagen von der bisherigen Geschichte abgestoßen, ungefähr so, wie sich Homo sapiens vom Neandertaler abgestoßen hat. In diesem Fall wäre es möglich wenn nicht gar geboten, dass alle philosophischen, religösen, spirituellen, metaphysischen Verbindungen zur Vergangenheit gekappt werden. Die Geschichte und ihr Studium würden uns nichts mehr angehen, weil das, was war, keine Aktie mehr daran hätte, was wird oder werden soll. Aus Geschichte würde allenfalls „Fantasy”, ein schon heute erkennbarer Trend. Ein Satz wie: „Jahrhundertealte Bräuche verlangten, daß sich die Familie Salina am Tag nach der Ankunft ins Kloster Santo Spirito begab, um am Grab der seligen Corbèra zu beten“ (aus Giuseppe die Lampedusas Roman „Il Gattopardo“), verlöre jeglichen Sinn. Wer jetzt fragt, was an dieser Problematik interessant sein soll, schiene für den Anbruch präzedenzloser Zeiten zumindest gut gerüstet…
Das Christentum hat in unserem Weltkreis die jüdische Idee installiert, dass die Geschichte eine Richtung besitze und auf einen finalen Termin zusteuere. In innerweltlicher Form taucht dieser Gedanke im Marxismus wieder auf, wo quasi das gesamte Menschheitsgeschehen bis zur proletarischen Revolution zu einer Art Vorgeschichte degradiert wird, nach deren Ende die Menschheit ins Reich der Verheißung eintritt. Geschichte im herkömmlichen Sinn, so lautete die Idee, fände dann nicht mehr statt. Für unser Thema ist die Vorstellung festhaltenswert, dass am Ende des Zeitpfeils ein neuer, der vermeintlich präzendenzlose Zustand eintritt. Bekanntlich lagen die Marxisten mit ihren Prophezeiungen falsch, es gab aber eine Reihe vergleichbarer Prognosen von Denkern an der Zeitgrenze zwischen bürgerlicher und Massengesellschaft. Erinnert sei an Nietzsches „letzten Menschen“, der von sich behauptet, „das Glück erfunden“ zu haben und der „am längsten lebt“, an Max Schelers „Weltalter des Ausgleichs“, das den „relativen Allmenschen“ hervorbringe, an Heideggers „Weltzivilisation“ als Ende aller Heimat oder an die „Nachgeschichte“ vulgo „Posthistoire“ des französischen Denkers Antoine Cournot, in der eine „soziale Kristallisation“ stattfinden werde, also eben das Ende des historischen Flusses. Zuletzt verkündete bekanntlich Francis Fukuyama die These vom „Ende der Geschichte“ im westlichen liberalen System. Egal, ob solche Theorien mit optimistischem oder pessimistischem Duktus vorgetragen wurden, haben sie alle etwas gemeinsam: Sie verkünden das Eintreten eines qualitativ völlig neuen Weltzustands.
Das Modell des Zeitpfeils konkurriert bekanntlich mit jenem des Rades bzw. der Zyklen, wie es speziell in Asien vorherrscht (hierzulande denkt man in diesem Zusamenhang vor allem an die Geschichtsmorphologie Oswald Spenglers); vielleicht gehören beide auch auf geheimnisvolle Weise zusammen. Wer wollte ausschließen, dass unser Zustand, der hier als womöglich präzedenzlos angesprochen wurde, tatsächlich bloß einen abgelaufenen Zyklus darstellt, an dessen Ende der Kollaps des westlichen Wirtschaftssystems steht, dem eine Völkerwanderung und ein neues Mittelalter folgen? Diese Vorstellung ist nicht abwegig, aber intellektuell langweilig – von so aparten Details abgesehen, dass es dann keine Grünen und kein Gender-Mainstreaming mehr gäbe. Dasselbe gilt für das mögliche Ende aller Geschichte durch die Selbstabschaffung des Menschengeschlechts, die Präzedenzlosigkeit schlechthin – nur wen würde das noch interessieren? Gehen wir also davon aus, dass der Mensch vermittels der Technik und der Wirtschaft weiterhin auf diesem Planeten das aufrecht erhält, was man gemeinhin Fortschritt oder Entwicklung nennt.
Zunächst liegt auf der Hand, dass in einem einfachen Sinne präzedenzlos in der Weltgeschichte vieles war, ob nun Faustkeil, Pfeil, Rad oder Einbaum, Artilleriegrante oder Verbennungsmotor. Hier geht es nicht um die vielen beispiellosen Neuerungen, von denen die Geschichte voll ist; „präzedenzlos“ meint in unserem Zusammenhang: alle bisherige Geschichte übersteigend. Eine neue Technologie würde nur dann einen beispiellos neuen Weltzustand herbeiführen, wenn sie einen totalen Paradigmenwechsel, eine grundlegenden Wandel der Conditio humana auslöst. Computer und Internet bilden fraglos eine Zäsur ersten Ranges, die in ihren Wirkungen nur mit der Einführung der Schrift und der des Buchdrucks vergleichbar sein dürfte – immerhin gibt es mit dem „Rechner“ jetzt ein Ding, das in einer Weise an der Kommunikation teilnimmt wie bislang nur das Bewusstsein. Aber ob dieser technologische Sprung in die weltgeschichtliche Präzedenzlosigkeit führt, bleibt offen.
Andere Sprungbretter in womöglich ungeahnte Weltzustände befinden sich durch die künstliche Intelligenz zumindest im Reißbrettstadium. Ob es dem Menschen jemals gelingt, das Altern zu besiegen, wie manche Wissenschaftler prophezeien, stehe dahin; sollte tatsächlich eines Tages ein Alters-Gen entdeckt werden, käme es wohl zu einem Methusalem-Komplott, welches diesen Namen auch verdiente. Aber bereits die deutliche Verzögerung des Alterns als Massenphänomen wäre ein präzedenzloser Eingriff in das biologische Uhrwerk der Gattung. Vollends präzedenzlos wäre, wenn Menschen begännen, die Erde zu verlassen und andere Planeten zu besiedeln. Beides ist noch Science fiction, beides sind uralte Menschheitsträume. Neu und für unser Thema zumindest als eine Art Hintergrundrauschen relevant ist, dass sie nicht mehr nur von Phantasten, sondern auch von Praktikern geträumt werden. Am Rande: Die absehbare Umwandlung der Fauna und Flora des Planeten in eine einzige Plantage zum ausschließlichen Nutzen der unangefochtenen Herrscherspezies Mensch läuft entweder auf eine Katastrophe oder auf einen unvergleichlich neuen Zustand hinaus.
Im Folgenden werden – weniger konzis als vielmehr konzentrisch – präzedenzlos erscheinende Einzelphänomene gelistet, die alle miteinander zusammenhängen, weshalb ihre Reihenfolge eher beliebig ist. Die Beantwortung der Frage, ob sie insgesamt einen präzedenzlosen Zustand ergeben, sei jedem selbst anheimgestellt.
Augenscheinlich erweckt die schiere Beschleunigung heutzutage die Vorstellung von etwas Präzedenzlosem, auch insofern, als die Klüfte zwischen den Generationen tiefer klaffen denn je, weil immer mehr „Information“ hineinpassen muss. Die Nachkommen werden ihren Eltern immer schneller immer unähnlicher. „Schauen Sie sich Ihr Kind genau an“, orakelte der IT-Guru Ray Kurzweil, „wenn es erwachsen ist, wird nahezu nichts auf der Welt mehr so sein wie heute.“ Andersherum: Präzedenzlos ist die Geschwindigkeit, mit welcher der Mensch heute kulturelle Verluste hinnehmen und sich neuen Konstellationen anpassen oder sich von ihnen überrennen lassen muss.
Aus der Beschleunigung resultiert eine Komplexität und verwirrende Unüberschaubarkeit der modernen Welt, die sich ebenfalls als beispiellos beschreiben lässt. Wir leben in einer „Form gesellschaftlicher Selbstorganisation, die sowohl auf der mikrologischen als auch auf der makrologischen Ebene sehr viel mehr Variationen zulässt, als wir es bisher gewohnt sind“, notiert der Kulturtheoretiker Dirk Baecker und prophezeit die Entstehung von „Milieus der Lebensführung, die niemand sich bisher vorstellen kann“.
Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts häufen sich Signal-Ereignisse, die allesamt Epochenschwellen markieren: die Atombombe, die Erfindung der Pille, die bemannte Raumfahrt, der Blick auf die Erde von außen, die Mondlandung, die Entdeckung des genetischen Codes, die erste Geschlechtsumwandlung, das Klonschaf Dolly, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, der Sieg des Computers „Deep Blue“ über Schachweltmeister Garri Kasparow… Es war einmal möglich, etwa vom Standpunkt Hegels, Darwins, Freuds, Marx’ oder Rudolf Steiners, komplette Gesellschaftsmodelle zu konstruieren. Das würde heute niemand mehr versuchen. Kein Kopf kann das globale Geschehen mehr zusammendenken. Luhmanns Systemtheorie beweist eher diese Aussage als das Gegenteil, indem sie das nahezu unüberbrückbare Zugleich inkommensurabler Strukturen beschreibt, in denen jeweils eigene Kommunikationsmuster walten. Peter Sloterdijk verwendet in seiner „Sphären“-Trilogie, einer Universalgeschichte des menschlichen In-der-Welt-Seins, für unseren Gesellschaftsbau die Metapher des Schaums: „Wir verstehen unter ‚Gesellschaft’ ein Aggregat aus Mikrosphären (Paare, Haushalte, Betriebe, Verbände) verschiedenen Formats, die wie die einzelnen Blasen in einem Schaumberg aneinander grenzen und sich über- und untereinander schichten, ohne füreinander wirklich erreichbar noch voneinander effektiv trennbar zu sein.“ Sloterdijk konstatiert ein „Abklingen des zentrischen Deliriums (anthropo, ethno, ego, logo)“ und den Übergang in eine „elastische Seinsweise“.
Das Verschwinden des einen Zentrums führt freilich direkt in ein polyzentrisches Delirium. Man kann dies leicht an den verschiedenen ökonomischen Theorien zeigen, die alle dieselbe Weltwirtschaft vergeblich zu erfassen suchen, aber noch besser an der Politik, die in ihrer Rhetorik desto elastischer wird, je unkalkulierbarer ihre Wirkungen und vor allem unbeabsichtigten Nebenwirkungen werden. In gewissem Sinne ist jeder moderne Politiker ein tragischer Mensch: Sobald er handelt, wird er schuldig – er ahnt nur noch nicht, woran. Es war zu allen Zeiten so, dass große Handelnde wenig vom erreichten, was sie beabsichtigten – man denke nur an Napoleon, Lenin, Churchill oder Hitler –, aber heute ist es so gut wie sicher; Frau Merkel wird in zwanzig Jahren ein Lied davon zu singen wissen.
Wenn man sich überlegt, welche Faktoren in diesem Zeitraum unsere Gesellschaft beeinflussen werden: Finanzkrisen, Inflationen, Zusammenbruch der EU oder Rettung der EU, mit welchen politischen Konflikten und monetären Folgen auch immer, Energiebeschaffungsprobleme, Ernährungsbeschaffungsprobleme, „normale“ Migration via Kreißsaal und Familiennachzug, „verschärfte“ Migration aus Afrika und Nahost, menschengemachte Erderwärmung als Ideologie oder als Faktum (man weiß nicht, was folgenreicher wäre), in einer immer dichter bevölkerten Welt allzeit drohende Pandemien, Überfischung der Meere, Zersiedelung der Öko-Systeme, islamischer Fundamentalismus in harter, sprich terroristischer, und weicher, sprich infiltrativer Form, Links- und Rechtsextremismus, das Ausgreifen Chinas mit seinem Produktions- und Energiehunger, der Rückzug der USA aus der europäischen Politik, ein möglicher atomarer Nahostkonflikt, das globale Nomadisieren der Wirtschaft und der Qualifizierten, die immer weitere Technisierung und Elektronisierung des Alltags, die immer dichtere Vernetzung von immer mehr Personen und Institutionen, die Gentechnik mit ihren ungeahnten Möglichkeiten der Optimierung des Menschen, die künstliche Intelligenz mit ihren ungeahnten Möglichkeiten, ein menschenunabhängiges Denken zu erzeugen, immer weniger Arbeit für Menschen, weil immer mehr von Maschinen und Computern geleistet wird, dazu Überalterung, Kriminalität, Verslumung, Analphabetentum, überdehnte Sozialsysteme… – halten wir an dieser Stelle erschöpft inne. Es gibt, wie es scheint, tatsächlich nur noch auf Treibsand errichtete Schäume.
Historisch einzigartig ist die inzwischen erreichte Synchronität der Welt. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstand durch die Nachrichtenelektronik und den Flugverkehr eine bislang ungekannte Wahrnehmung von globaler Gleichzeitigkeit; plötzlich empfanden sich Menschen über Kontinente hinweg als „Generation“, und heute wird der gesamte Globus durch Popmusik, Massenmedien und Sportereignisse auf synchron gestellt. Die sukzessive Verbreitung des Englischen als Weltsprache, gewissermaßen die beginnende Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung, ist ein symbiotischer Bestandteil dieses Prozesses. Als Kehrseite vollzieht sich ein semantisches Artensterben, wie es noch nie zu beobachten war, etwas Präzedenzloses also zugleich im Werden wie im Vergehen.
Die Synchronschaltung des Globus bedeutet, bei aller Ungleichzeitigkeit der technologischen und sozialen Zustände, eine wiederum historisch singuläre Totalherrschaft der Gegenwart (sofern wir nur jene Zeit in den Blick nehmen, die uns als irgendwie „geschriebene“ Geschichte gilt; die Steinzeit war auch eine Totalherrschaft der Gegenwart). Der moderne Mensch lebt außerhalb der Geschichte, jedoch nicht so wie der Bauer des Mittelalters, dessen Leben sich in naturhaften Zyklen vollzog, in denen nichts normaler war als der Wechsel der Generationen und das Wachstum seiner Viehbestände, sondern er beginnt die Fähigkeit zu verlieren, in Generationen zu denken, er betrachtet sich nicht mehr als Zwischenglied einer Kette, die Verbindung zum Gestern ist abgerissen, und ob er je eine zum Morgen herstellen wird, hängt von biografischen Zufällen ab. Er denkt die Enkel nicht nur nicht mehr mit, er glaubt oftmals gar nicht mehr an sie – wobei man zugestehen muss, dass wir erstmals in der Geschichte einen Punkt erreicht haben, wo sich die Lebenswelt eines möglichen Enkels komplett unserer Vorstellungskraft versperrt. Dem modernen westlichen Mensch sind der Südamerikaner oder der Indonesier seiner Gegenwart näher und vertrauter als der deutsche Bürger des späten 19. Jahrhunderts, vom preußischen Freiwilligen des Jahres 1813 zu schweigen, denn diese Menschen essen dasselbe Fastfood wie er, sie sehen dieselben Filme, hören dieselbe Musik und träumen dieselben Träume.
Dass sich die Angehörigen eines Volkes oder eines Kulturkreises stärker von ihren Vorfahren getrennt fühlen als von anderen zeitgenössischen Völkern und Kulturkreisen, ist welthistorisch beispiellos. Die Zeit trennt mehr als der Raum, weil es den Raum nicht mehr gibt. Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel haben ihn aufgehoben. Zugleich deklariert die moderne Mentalität die Gegenwart als den aktuellen Aggregatzustand einer notorisch anzustrebenden Zukunft und damit zur einzig gültigen Zeit, außerhalb derer sich aufzuhalten etwas für Spinner oder Finstermänner ist.
Das heißt, dass die Verwurzelung in der Zeit quasi täglich schwächer wird, weil diese Wurzeln ständig absterben. Die Menschen haben aus dem Progress der Medizin, der Technik, der Wirtschaft und der Unterhaltungsindustrie den Schluss gezogen, dass neu = gut ist, und nichts mehr alt sein darf, was inzwischen sogar für die Künste und die Gesellschaftstheorien gilt. Einzelne Retro-Moden und das Gerede von – typischerweise: neuer – Bürgerlichkeit können nicht davon ablenken, dass diese Gesellschaft zutiefst neomanisch denkt bzw. „tickt“. Die Revolution ist quasi auf Permanenz gestellt. Deshalb werden einem heutzutage die Klassiker, wenn überhaupt, stets mit der Beifügung angedient, sie seien hochaktuell. Neuheit und Aktualität sind Werte an sich geworden; „gestrig“ ist ein Schimpfwort, steigerbar zur Exkommunikationsformel „ewiggestrig“. Alle traditionellen Gesellschaften wandelten in den Spuren ihrer Altvordern, wir verwischen sie – wenn wir nicht gerade damit beschäftigt sind, jene zu verurteilen, die sie hinterließen. Auch das dürfte welthistorisch singulär sein.
Präzedenzlos im Sinne des alten dialektischen Kniffs, dass Quantität ab einem Punkt in eine neue Qualität umschlägt, ist inzwischen die schiere Zahl der Menschen. Mit einer gewissen Ratlosigkeit sieht man zu, wie es „der Menschheit gegenwärtig gelingt, sich auf einem Komplexitätsniveau und mit einer Bevölkerungszahl zu reproduzieren, die als evolutionär unwahrscheinlich zu beschreiben eine Untertreibung ist“ (Dirk Baecker). Das Zeitalter der Massen, vielfach mit kulturpessimistischem Unterton angekündigt, ist endgültig angebrochen. Bemerkenswert dabei ist, dass dieser Feststellung in der Umpolsterung des heutigen Zeitgeistes nichts Bedrohliches oder zumindest kulturell Problematisches mehr eignet. Bedenken gegen die Menschenmassen werden heute allenfalls noch aus ökologischer Sicht angemeldet, der Massenmensch an sich scheint kein Thema mehr zu sein, vermutlich weil sich inzwischen jeder die egalitäre Zwangsjacke angezogen hat. Die Bewohner der Metropolen sind Scharen loser Einzelner geworden, Berufsnomaden ohne spezielle Heimat, vielleicht bald auch ohne Heimatgefühl. Der Ort seiner Herkunft bindet den Menschen nicht mehr. Das moderne Individuum lässt die Großfamilie ebenso hinter sich wie die historischen Großkollektive – Stand, Klasse, Volk, Nation –, für die es keine Loyalitäten mehr empfindet, und organisiert sich in wechselnden Interessensverbänden. Wer nicht zur herkunftslosen, flexiblen Masse gehören will, lebt zunehmend mit dem Gedanken, er habe irgendwie den Zug verpasst bzw. generell als Angehöriger einer auf Entwicklungspermanenz genormten Gattung versagt.
Doch auch den erfolgreich flexiblen Gattungsvertretern stehen narzisstische Kränkungen ungeahnten Ausmaßes bevor. Dass die Möglichkeit, Menschen zu klonen, aus der Science-Fiction-Literatur in die Wirklichkeit gewandert ist, bringt die wachsende Verfallenheit des Massenmenschen an die Technik idealtypisch zum Ausdruck. Noch sind zwar Menschenklone Theorie, aber wer zweifelt ernsthaft daran, dass sie bald ebenso Realität sein werden wie Roboter und Avatare bereits heute? Das explosionsartige Wachstum der künstlichen Intelligenz und ihrer Trägersysteme hat unserer Epoche den verräterischen Namen „Computerzeitalter“ beschert. Vom Weltall aus betrachtet, könnte man durchaus einen Kampf zwischen denkender Biomasse und rechnender Technosphäre um die Energieressourcen eines Planeten konstatieren. Hollywood, wie stets der Zeit voraus, hat es längst getan („Terminator“, Matrix“ etc.). Wenn Homo sapiens seine Macht dermaleinst an seine elektronischen Geschöpfe verlöre, dürfte gewiss von etwas Präzedenzlosem gesprochen werden.
Die moderne Gesellschaft unterscheidet sich von allen vorherigen Ordnungen dadurch, dass sie durch nichts anderes mehr formiert wird als durch das Geld, und nichts anderes als das Geld bildet inzwischen den Unterschied zwischen Arm und Reich, Oben und Unten. Mit anderen Worten: Die Luxusvorstellungen eines Staatschefs und eines Ghetto-Rappers unterscheiden sich kaum mehr, am wenigsten, wenn der Staatschef Berlusconi heißt. Man kann dies Gleich- und also Massenhaftwerden verdeutlichen am Wegfall bzw. am Nichtmehrentstehen repräsentativer Figuren, wie sie die historischen Epochen hervorgebracht haben: Kaiser, Papst, Mönch, Ritter, Gutsherr, Kaufmann, Marschall, Dichter. Als repräsentative Figur unserer Zeit kämen wohl allenfalls der TV-Moderator oder der Nerd in Frage. Dazu passt die sukzessive Abschaffung des Dynastischen, das inzwischen fast nur noch in Familienunternehmen zu finden ist. Es gibt kaum mehr Menschen mit Ahnengalerien. Erbe ist kein geistig-sittlicher Begriff mehr, wie er es jahrtausendelang immer (auch) war, sondern ein rein materieller.
In vielerlei Hinsicht ohnegleichen ist auch die moderne Architektur. Ihre welthistorische Neuartigkeit besteht darin, dass sie einerseits imstande war, die Behausungsfrage, die in der gesamten Geschichte für die unteren Klassen eine höchst prekäre war, zu lösen, aber andererseits sogar in ihren staatsoffiziellen Bauten die urarchitektonischen Ziele Repräsentativität und Dauer aufgegeben hat. Der NS-Baumeister Albert Speer hat das architektonische Denken um den pittoresken Aspekt des „Ruinenwertes“ bereichert, der in unserem Zusammenhang etwas Evidentes gewinnt: Während die historisch repräsentativen Bauten, ob nun die sumerische Zikkurat oder die Tempel von Angkor wat, die Ritterburg, der gotische Dom oder das historistische Opernhaus ästhetisch ansprechende Ruinen abgeben – oder abgäben –, wäre moderne Architektur als Ruine sofort an ihrer hervorstechenden Abscheulichkeit zu identifizieren.
Aus der praktischen, abwaschbaren, einzig auf die körperlichen Bedürfnisse der Insassen abgestellen modernen Architektur ist etwas verschwunden, das vorher in den Bauten und in den Köpfen der Menschen omnipräsent war: Gott. Der sukzessive kollektive Verzicht auf Gott – oder das Göttliche – ist ebenfalls historisch beispiellos. Bislang glaubte der Mensch sich in einem Zusammenhang geborgen, er lebte in der Hoffnung, dass mit ihm etwas gemeint sei. Die transzendenten Angebote der Religionen verlieren aber, zumindest in der westlichen Welt, zunehmend an Reiz oder gar Verbindlichkeit. Rein praktisch hat das mit dem Siegeszug der Medizin und des Sozialstaates zu tun, also dem Sinken der existentiellen Risken bzw. ihrer sozialtechnischen Abfederung. Ein präzedenzloser Zustand wäre hier erreicht, wenn es gelänge, den Schmerz, speziell den seelischen, sinnsuchenden – inclusive Liebe, Zorn und Transzendenzbedürfnis – durch die Entdeckung hirnstruktureller oder biochemischer Auslöser gänzlich abzuschaffen. Einstweilen bleibt die Wunde des Sinns freilich offen, wovon die aktuellen Ersatzreligionen zeugen, vom Kult um die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit bis zur grünen Apokalypse.
Zwei sich eigentlich ausschließende Phänomene des Massenzeitalters sind die Aufweichung der Privatsphäre bei gleichzeitigem Verlust der sozialen Kontrolle, welche ja, mit einer schönen Formulierung Egon Friedells darin besteht, dass jeder des Anderen Irrenwärter ist. In besonderem Maße betrifft die Aufweichung des Privaten die Sphäre des Sexuellen. Die Befreiung der Sexualität von nahezu sämtlichen Konventionen und sittlichen Regeln ist beispiellos; alle bisherigen Gesellschaften haben der Entfesselung des Eros viele Riegel vorgeschoben, weil sie die Folgen ahnten. Der sexuell befreite Mensch, so lautete bekanntlich eine linke Verheißung, werde der schlechthin freie Mensch sein, frei von Privategoismen und repressiven bzw. autoritären Charakterzügen. Diese Prognose oder Wette hat sich als haarsträubender Unsinn erwiesen, die sexuelle Befreiung führte nicht in die entspannende Vergesellschaftung des Sexus, sondern direkt in dessen konkurrenzkampfverschärfende Verprivatisierung und entzaubernde Versportlichung. Zugleich wurde er entdämonisiert. Jeder Vierzehnjährige weiß heute, was ein Gang-Bang ist. Das Resultat ist eine schamfreie Zurschaustellung des Sexuellen, und zwar keineswegs nur durch die geschäftsmäßig betriebene Pornographie, sondern von ganz normalen Leuten, wie sie in allen vorherigen Gesellschaften als schwachsinnig oder gar kriminell gegolten hätte.
An dieser Stelle lässt sich ein kurzer Perspektivwechsel ins überzeitlich-Evolutionstheorische einschalten. Ohne auf die merkwürdige, schon Darwin irritierende Abkehr des Menschen vom Standardmodell: schönes, werbendes Männchen auf der einen, wählendes, unscheinbares Weibchen auf der anderen Seite einzugehen, kann doch festgehalten werden, dass Attraktivität, durch die evolutionsbiologische Brille gesehen, stets reproduktive Fitness signalisiert hat. Das Stichwort dazu lautet: Pfauenrad. Beim heutigen westlichen Menschen frisst der Aufwand, der für das – um im Bild zu bleiben – Pfauenradschlagen getrieben wird, buchstäblich die Ressourcen auf, die für die Reproduktion erforderlich wären. Frauen nahezu jeden Alters entwickeln ein im Grunde „sexualdarwinistisches“ Interesse an der Optimierung und am Erhalt ihrer Schönheit, das aber zugleich ihrer Fortpflanzung entgegensteht. Sie werden durch Selbstoptimierung immer attraktiver – und immer unfruchtbarer. Sie senden permanent sexuelle Signale aus, aber sie wollen sich allenfalls später und maßvoll fortpflanzen. Der schnelle körperliche Verschleiß durch die traditionelle Rolle als Mutter und Ehefrau ist für viele emanzipierte Frauen eine größere Katastrophe als die Kinderlosigkeit. Im feministischen Schrifttum zirkuliert für das Phänomen des weiblichen Attraktivitätskultes der Begriff „beauty trap“: An ihrer Schönheit arbeitende Frauen, heißt das, lassen sich vom sexualisierten Blick der Männer beherrschen. Doch Schlankheit, Sportlichkeit und verlängerte Jugendlichkeit – die wichtigsten Resultate ihrer körperlichen Selbstveredelung – vertragen sich erstaunlich gut mit dem feministischen Ideal einer emanzipierten, das heißt: mit den Männern konkurrierenden Frau, weil sie eben Mütterlichkeit hinausschieben oder ganz ausschließen. Tatsächlich haben weibliche Körperschönheit, weibliche Emanzipation und weibliche Unfruchtbarkeit parallel zugenommen. Ich bin geneigt, auch das für präzedenzlos zu halten.
Was es ebenfalls auf Erden noch nie gegeben hat, ist der Versuch, das biologische Geschlecht des Menschen in Frage zu stellen, indem man es zur sozial erlernten oder von der Gesellschaft erzwungenen Rolle erklärt. Diese auf den ersten Blick verrückte Idee, eine extreme Radikalisierung des sozialen Egalitarismus, ist über das Stadium einer bloßen Intellektuellenphantasie hinausgewachsen, seit Mediziner in der Lage sind, Geschlechtsumwandlungen vorzunehmen. So disponibel oder unwichtig wie das biologische Geschlecht sollen nach den Vorstellungen feministischer und homosexueller Aktivisten bekanntlich auch bisherige biologisch-geschichtliche Konstanten wie Heterosexualität und Mutterschaft sein. Momentan würde jeder Versuch, dergleichen Hirngespinste mehrheitsfähig zu machen, schnell auf das Aussterben einer ganzen Population hinauslaufen, weshalb man sie nicht ernstnehmen kann. Was aber, wenn es der Technik gelänge, Retorten- oder Klonbabys außerhalb des Mutterleibes aufwachsen zu lassen? Was, wenn diese Wesen am Ende sogar ohne schwere psychische und seelische Störungen durchkämen? Wer hätte vor 50 Jahren geglaubt, dass wir Eizellen außerhalb der Gebärmutter befruchten und damit sogar Impotenz vererbbar machen können? Dass wir Erbkrankheiten pränatal bekämpfen und Embryonen mit erwünschten Eigenschaften ausstatten können? Von hier ist es vielleicht nicht weit bis zum Artensprung.
Präzedenzlos ist, nach Jahrtausenden des Mangels, die Abschaffung des Hungers in unserem Weltteil – geronnen in der Nachricht, die Zahl der Übergewichtigen habe auf dem Planeten inzwischen die Zahl der Hungernden überstiegen –, desgleichen die weitgehende Abschaffung der Seuchen, der Erbkrankheiten und der Kindersterblichkeit. Letztere ging freilich einher mit einem rasanten Anstieg der Embryonensterblichkeit. Auch das hat es noch nie gegeben, dass eine ganze Gesellschaft aus reinem Privategoismus der nächsten Generation einen pränatalen Krieg liefert, weil sie selber möglichst komfortabel und möglichst lange leben will.
Der Mensch ohne Heimat und ohne Heimatgefühl, einzig dem Heute zugetan im festen Glauben, dass alles Neue besser sei als das täglich Veraltende, ist ein strukturell „linker“ Mensch, und zwar auf eine Weise links, dass Marx und Lenin mit ihren traditionalistischen Kulturpräferenzen daneben wie Reaktionäre wirken würden. Man muss sich nur die CDU-Modernisierer oder Reformkatholiken anschauen, um zu begreifen, wie sehr dieser Typus bereits etabliert ist. War vor 2000, 500, ja 200 Jahren nahezu jeder Mensch „konservativ“ (d. h. traditionsorientiert), so ist heute nahezu jeder „links“ (d. h. fortschrittsgläubig).
Die Ablösung von der Vergangenheit und das Verschwinden der volkshaften, nationalen, standes- bzw. klassenmäßigen Bindungen bedeutet gewissermaßen die welthistorische Niederlage, das Waterloo des Konservatismus und umgekehrt den umfassenden Sieg linken Denkens. Praktisch sieht dies so aus, dass auch die vermeintlichen konservativen Parteien der Gegenwart zumindest europaweit sowohl sozialdemokratische als auch Beschleunigungsparteien sind. Seit 1789 sind die Weltgeschichte und ihr Lauf dermaßen mit sozialer und egalitaristischer Rhetorik durchtränkt worden, dass der heutige Allerweltsdemokrat aus tiefer Überzeugung von sich behaupten kann, er sei doch gar nicht links.
Nach der in vielen kommunistischen Staaten herrschenden Unkalkulierbarkeit, auf welcher Seite des Stacheldrahtes man als Linker landen werde, hat die linke Mentalität in der Massendemokratie schließlich die ihr gemäße Staatsform gefunden. Was die Klassiker linken Denkens nicht ahnten, war, wie gut sich der Kapitalismus mit emanzipatorischer Politik verleimen lassen würden. Ein „rechtes“ Wirtschaftssystem, in dem alle „links“ sind: Auch das mutet präzendenzlos an, zumal sich die gesamte Welt, das rätselhafte China und die muslimischen Länder teilweise ausgenommen, dieses Konglomerat mehr oder weniger zum Vorbild zu nehmen scheint. Es gibt anscheinend keinen besseren Verbreiter linken Denkens, keinen besseren Humus für linke Wertvorstellungen als den Kapitalismus; der ursprüngliche Todfeind hat sich in die profitabelste Melkkuh verwandelt.
Nicht präzendenzlos ist das Aussterben von Völkern und Sprachen, der Aufstieg und Niedergang von Kulturen und Rassen. Präzedenzlos wäre dagegen das Aufgehen aller Völker und Sprachen in einem Weltvolk mit einer Weltsprache. Der weiße Mann hat 1000 Jahre lang die Erde beherrscht; heute schämt er sich dafür, leidet unter demiurgischer Erschöpfung und bringt sich sukzessive um. Nur etwa jedes 50. Kind, das heutzutage zur Welt kommt, ist weiß; in den USA werden die Weißen demnächst zur Minderheit. Europas Anteil an der Weltbevölkerung betrug anno 1900 25 Prozent, im Jahr 2000 waren es zwölf Prozent, 2050 werden es 7,6 sein. Im Jahr 1900 kamen in Deutschland 36 Geburten auf 1000 Einwohner, heute sind es acht, knapp die Hälfte davon Migrantenkinder. Dieser Trend hat alle europäischen Länder erfasst. Speziell die Intelligenz pflanzt sich kaum mehr fort. Der Zeitgeist hat sich derart gedreht, dass dieser kollektive Selbstfortsetzungsverzicht durch Hedonismus, Abtreibung, Verhütung, Glorifizierung der Homosexualität und so weiter bei gleichzeitigem Bevölkerungsimport nicht als krank gilt, sondern die Kritik daran. Von einer „Kultur des Todes“ sprach Benedikt XVI. In gewissem Sinne ist dieser allmählich kollektivsuizidal werdende Zug des Westens der große Widerspruch zur Präzedenzlosigkeits-These, weil die in präzedenzlos neue Lebensformen Aufbrechenden womöglich einfach aussterben. Dafür, dass das Zeitalter der Massen gleichwohl nicht endet, sorgen einstweilen die anderen. Man wird sehen.
Die Enstehung beispielloser neuer Weltverhältnisse führt, wie gesagt, nur über grundlegende Änderungen der Conditio humana. Gottfried Benn wollte Anfang der 1930er Jahre nicht daran glauben, als er, an die Adresse sozialistischer Gesellschaftsumstürzler gerichtet, feststellte, „daß der Mensch in allen Wirtschaftssystemen das tragische Wesen bleibt, das gespaltene Ich, dessen Abgründe sich nicht durch Streuselkuchen und Wollwesten auffüllen lassen, dessen Dissonanzen sich nicht auflösen lassen im Rhythmus einer Internationale, der das Wesen bleibt, das leidet“. Zwanzig Jahre später klang er schon anders: „Es ist ein Irrtum, anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommenssorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen Sinne mehr. (…) Es ist überhaupt kein Mensch mehr da, nur seine Symptome“.
Wiederum 60 Jahre später, nach einer technologischen Revolution, die dem Menschen gewissermaßen die Auslagerung seiner gesamten Person in die virtuelle Weltverknüpfung ermöglicht, mag unsereiner diese Vollzeit-Vernetzten und Handystocherer allerorten für närrische, fremdbestimmte, sinnenfeindliche und geistlose Figuren halten, während sie tatsächlich die erste Welle einer kompletten Veränderung der Welt sein könnten, die Avantgarde der Mensch-Maschine bzw. des Maschinenmenschen, eines ganz und gar unmetaphysischen, religionslosen und kunstabholden Geschlechts findiger Netzwerker, die sich als gleichberechtigte Bestandteile eines enstehenden Weltgehirns begreifen, welches mit lauter praktischen und fast nur virtuellen Dingen beschäftigt ist. Tut sich unter uns der Boden zwischen zwei Epochen auf? Reißt die Geschichte auseinander? Ist die Veränderung nicht weit radikaler, reicht der Riss nicht unendlich tiefer als zum Beispiel beim finalen Niedergang des Pharaonenreiches? Oder fühlen die kulturell Zurückbleibenden heute bloß dasselbe wie ein ägyptischer Prieser des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, der noch Hieroglyphen schreiben und lesen kann, während ringsumher das modische und von ihm als heillos primitiv empfundene Griechisch siegt?
Das Zurückbleiben ganzer Generationen ist im historischen Kontext immer so normal gewesen wie deren Klage über die Verdorbenheit der nachrückenden Jugend, aber man konnte stets davon ausgehen, dass sich das Neue früher oder später auf dem Boden der – leicht modifizierten – Tatsachen des Alten wiederfinden werde, es war immer noch derselbe Boden, dasselbe Land. Heute aber hat es zuweilen den mächtigen Eindruck, eine neue Kontinentaldrift habe eingesetzt…
Bei diesem Eindruck muss es hier bleiben. Der Autor hatte angekündigt, dass er die von ihm aufgeworfene Frage nicht werde beantworten können. Fragen wir abschließend nach dem Gegenteil: Was ändert sich nicht, vielleicht nie? „Die Sonne wird immer scheinen, und Bäume werden immer wachsen, und Frauen werden immer Kinder haben“, hat Adolf Hitler einmal darauf geantwortet. Pardon, es war Mao Tse-tung. So präzendenzlos, dass wir den einen zitieren dürften und den anderen auf einmal nicht mehr, wird sich auch der präzedenzloseste neue Weltzustand nicht darbieten. Ohne den Teufel vermag dieses Menschengeschlecht, vernetze es sich, wie es will, so schnell nicht auszukommen.
Erschienen in: eigentümlich frei, Juli 2012, S. 28–36