Die Auferstehung? Das ist Glaubenssache. Bleiben wir bei der Kreuzigung. „Erde, Meere, Steine, Welten/Waschen sich in diesem Blut“, heißt es im Karfreitagshymnus Pange lingua gloriosi proelium. „Der Altar stand in Jerusalem, aber das Blut des Opfers ergoss sich über das Weltall“, notierte der frühchristliche Kirchenschriftsteller Origenes. Der Mann am Kreuz, von dessen Blut die Rede ist: Wer war er?
Ein Wanderprediger und Spuckeheiler (Letzteres nachzulesen bei Markus 8, 22–26), ein sanfter und zugleich wohl äußerst charismatischer Mensch, der in merkwürdigen Gleichnissen redete, zugleich aber Sätze von majestätischer Größe sprach wie: „Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ oder „Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen“. Der die drohende Steinigung einer Ehebrecherin mit den bislang unsterblichen Worten unterband: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Der aufforderte: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen. Und der einen unglaublichen Schneid zeigte, indem er nach Jerusalem ging, wo sich sein Schicksal erfüllen sollte, von dem er, anscheinend, mehr als nur eine Ahnung besaß.
Und dann sein Verhalten vor den Häschern, den Anklägern, den Richtern, sein erschütternder, vollkommen unbegreiflicher Verzicht auf jede Art von Verteidigung. Hat er tatsächlich geglaubt, er sei der Messias? Der Sohn Gottes? Einige seiner überlieferten Äußerungen legen es nahe, aber jede Überlieferung ist auch schöpferisch, mythenschöpferisch. Doch dies „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, das muss er in der äußersten Qual und Verzweiflung am Kreuz, nach Luft ringend und vor Schmerz halb wahnsinnig, gesagt, gestöhnt, das muss er geglaubt haben, bevor er starb …
Und nun mag man sich vorstellen, jemand würde diesen Zimmermannssohn durch unsere heutige Welt führen, würde ihm den Vatikan zeigen, den Petersdom, die von zwölfen auf Abermillionen gewachsene Schar seiner Jünger, die Kirchen in jeder Stadt, ja jedem Dorf des Abendlandes und in den missionierten Weltteilen, seine gegen unendlich gehenden Darstellungen in der Kunst, würde ihm berichten von der Ausmordung Jerusalems anno 1099 und der blutigen Eroberung Amerikas in seinem Namen, aber auch von der Abschaffung des Menschenopfers überall dort, wo die sich auf ihn berufende Kirche waltete, würde ihm die Passionen Bachs und die Messen Mozarts vorspielen, ihm erklären, dass wir globusweit die Jahre zählen nach seiner Geburt, dass er die Zeit geteilt hat in ein Davor und ein Danach, dass niemand in der Menschenwelt eine tiefere Spur hinterlassen hat als er, dass die, die ihn ans Kreuz schlugen, ihn als Erste anbeteten, dass er bei den Muslimen als großer Prophet gilt und auch heute noch, nach 2000 Jahren, die halbe Menschheit vor ihm das Haupt neigen oder auf die Knie sinken würde, wenn er erschiene (vor wem denn sonst?) – was würde er dazu sagen? „Es ist vollbracht“? Oder doch: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“? Oder würde er an sich selber irre werden? –
Ein gekreuzigter Gott – für den antiken Menschen war diese Vorstellung eine Absurdität. Obendrein handelte es sich bei dem Gekreuzigten um einen Juden, und die Juden galten den Römern wegen ihrer religiösen Exklusivitätsvorstellungen als besonders verächtliche oder zumindest verrückte Völkerschaft unter den ohnehin verächtlichen „Barbaren“. Die Idee, einen der schmählichsten Todesstrafe überantworteten Juden anzubeten, für den Juden Zeugnis ablegen und dessen Evangelium vor allem von Juden verbreitet wurde, war für einen Römer des ersten Jahrhunderts eine Zumutung unvorstellbaren Ausmaßes. Und doch wurde der Kult um diesen Mann 300 Jahre später römische Staatsreligion. Und doch fegte der eine, durch seinen Sohn auf Erden bezeugte Gott den bunten antiken Götterhimmel leer. Ein Einzelner besiegte nach seinem Tod ein Weltreich! Vom „sonderbarsten Ereignis, das sich jemals zugetragen hat“, sprach der französische Aufklärer Montesquieu. Wie war dieser Aufstieg vom mit Schimpf und Schande beladenen Gemarterten zum „Menschheitsrabbi“ (Thomas Mann) möglich?
Durch das kolossalste Ereignis in der Geschichte der Semantik. Paulus kam, der postume Spin-Doctor des Heilands, und wertete das Kreuz um: vom Marterpfahl zum Werkzeug der Erlösung. Alle Religionen treiben den Kult des großen Stifters, ob nun um Gautama Buddha, Zoroaster, Moses, Konfuzius oder Mohammed – aber nur eine berichtet von seiner Hinrichtung. Die Idee der Auferstehung war im südlichen Mittelmeerraum nicht neu, es gab überall Mythen über sterbende (in die Unterwelt steigende) und wieder erstehende Götter, Tammuz in Syrien, Dumuzi in Mesopotamien, Adonis in Kleinasien, Osiris in Ägypten, Persephone bei den Griechen. Schon in der europäischen Frühaufklärung zirkulierten Schriften, in denen es hieß, die Jünger hätten Jesu Leichnam gestohlen und später behauptet, er sei gen Himmel gefahren, oder er sei nur scheintot gewesen … – wie auch immer: Die Zweifel der Jünger nach seinem Hingang müssen enorm gewesen sein, es tauchte das Problem auf, wie Gott d a s zulassen konnte, und Paulus gab die Antwort. Seit der Umdeutung des Kreuzes durch ihn kommt das Heil aus der Schwäche.
Jesus dachte aus der Perspektive der Menschen, die am meisten leiden, jedem von ihnen versprach er die Aussicht auf Erlösung, er gab das Beispiel, dem Bösen nicht zu widerstehen, sondern es „aufzuleiden“ (Benedikt XVI.) – das war eine Umwertung aller Werte, eine Weltrevolution der Moral, neben der sich die spätere kommunistische wie ein matter Abglanz ausnimmt. Dass ihre Prämissen zweifelhaft sind, dass sie zum Machtmittel verkehrt wurde, dass das Ressentiment sich ihrer bemächtigte, steht auf einem anderen Blatt.
„Die größte Geschichte aller Zeiten“ hieß ein Hollywood-Film über den Heiland aus dem Jahr 1965. Genau so verhält es sich. Ecce homo – das gilt erst recht, wenn dieser Jesus Christus nicht Gottes Sohn gewesen ist.