„Beim Weißen bin ich Patriot” – Sechseinhalb Stunden lang allein an einem Vierertisch im Speisewagen des ICE
Alles hängt vom richtigen Platz ab. Deshalb sollte man schon vor der Einfahrt des Zuges Position beziehen. Und es darf nur der große ICE-Speisewagen sein, wo einen noch die Ahnung davon anfliegt, wie kommod Reisen einst gewesen sein muss. Bevor die Praktiker kamen und die Effizienten. Und die Designer. Im Zug ausschließlich Speisewagen! Erspart die Kosten für die Erste Klasse, wo ohnehin immer irgendein Führungsprolet sitzt und ins Handy plärrt. Und die Getränkeversorgung ist halbwegs gesichert. Kein Zweiertisch, ist unbequem, zu klein, mit Gegenüber ganz schrecklich. Einen Vierer belegen. Sitzen. Sich ausbreiten: Bücher. Notizblock. I‑Pod. Die ganze Musik des Abendlandes in der Tasche. Und sofort Wein bestellen. Immerhin ist es längst Nachmittag.
Der Wagen ist beglückend wenig gefüllt. Sechseinhalb Stunden Fahrt stehen an. Kein Termin mehr heute. Die Speisekarte ist dünner geworden. Ob das Gerücht stimmt, dass sie nach und nach reduzieren, erst das Angebot, danach die Zahl der durchs Land rollenden Speisewagen? Dann werde ich überhaupt nicht mehr reisen. Nun, den Wein haben sie zumindest nicht reduziert, nach wie vor: drei Weiße, drei Rote. Nur das Sortiment ist geändert worden, ich kenne keinen davon. Erfahrungsgemäß kann man alles gut trinken, was sie im ICE anbieten. Viertelliterflaschen. Meistens Einheimisches. Beim Weißen bin ich Patriot.
Beginnen wir mit Weißburgunder Matthias Kerth, Rheinhessen, 2010, trocken. Unterwegs sein, Bach im Ohr, Rameau im Ohr, Chopin im Ohr, einen Rebstoff vor sich, während die Landschaft vorüberhuscht – „Vorüber schnell und schneller tanzen/Durch Draht verknüpft zu einem Ganzen,/Die schwesterlich verwandten langen/Zahlreichen Telegrafenstangen“ (Wilhelm Busch) –, so mag der Tag verstreichen. Die merkwürdige Beliebtheit von Flügen. Der Zeitgenosse reist nicht mehr gern, er kommt gern an. Dafür, dass es schnell geht, nimmt er in Kauf, beim Einchecken kujoniert zu werden und sich wie eine Sardine in Sitzreihen quetschen zu lassen, die von Jahr zu Jahr immer enger werden. Mittelplatz im Flieger: grauenhaft! Ein Freund hatte mal links und rechts je ein Model sitzen bzw. hocken, und dann, bei einem Luftloch, das den Namen abwechslungshalber mal verdiente, schmiegten sich plötzlich zwei schutzsuchende Köpfe an seine Brust; das tät’ ich mir halbwegs gefallen lassen. Sofern die Story überhaupt stimmt. Aber in der Regel sitzt neben einem irgendein Dicker und kämpft um die Armlehne. So einer wie der Servierer hier. Ein fröhlicher, lautstarker Sachse. Offenbar kann Dialekt, wie Johannes Gross selig einmal bemerkte, niemals leise gesprochen werden. Heikler Job, Speisewagenkellner. Dauernd die Gefahr, dass einem was vom Tablett auf die Gäste fällt. Neulich im Zug ein kleiner Junge mit seinem Vater, Junge stößt versehentlich seine Limo um, Vater schimpft, Kellner kommt, ein Südländer, wischt auf und und sagt: „Der Lokführer war schuld.“ Spontaner Trinkgeldverdoppelungs-beschluss meinerseits.
Nunc est bibendum! Also der Kerth. Schwache Nase. Papaya? Mango? Birne? Egal, rein damit. Solange es draußen hell ist, schmeckt Weißwein besser. Frische Frucht, sortentypisch. Dezenter Bitterton. Rasch wird das bewährte Glücksgefühl vorstellig. Zurücklehnen, räkeln, rausschauen. Allmähliche Dämmerung.
Welche Musik heute? Oder erst ein bisschen lesen? Stets mindestens fünf Bücher im Gepäck, die Stimmung auf einer Reise ist nicht kalkulierbar. Proust ist immer dabei. De Maistre? Sebald? Nein, doch lieber Musik. Liszt, h‑Moll-Sonate. Pogorelich, Hamelin, Gilels oder Demidenko? Anfangen mit Hamelin. Ist der Kälteste der vier. Passt zum Weißwein. Die Dichter besingen den Wein allerorten, bei den Komponisten muss man sehen, was zum Trinken passt. Sehr gut immer: Mahler, Trinklied vom Jammer der Erde. „Schon glänzt der Wein im goldnen Pokal.“ Gesungen von Wunderlich, kein anderer packt dieses Stück. Ist aber eher was für Rotwein. Zu spektakulär und zu „tief“ für einen Weißen. Ein frischer, aber komplexer Roter muss es sein. Haben sie hier nicht.
Also Liszt. Mahler selber trank wohl eher kaum. Obwohl sein Vater Schnapshändler war. Branntweinhändler, wie man damals sagte. Die merkwürdige Abstinenz der Juden. Alle israelischen Freunde halten sich stundenlang am spätestens zweiten Glas fest. Rauschabholdes Volk. Diaspora-Mentalität. Unter Fremden, die einem womöglich übel wollen, muss man klaren Kopf behalten. Dann gibt’s da noch gewisse Trunkenheitsvorfälle im Alten Testament. Noahs und Lots folgenschwere Vollräusche. Immerhin kommt der Segen Noahs als direkte Folge seines Besoffengewesenseins auf Sem, weil der des bezechten Vaters Blöße deckte. „Gepriesen sei Jahwe, der Gott Sems, Kanaan (Cham) aber sei sein Knecht!“ Genesis 9, 26. Lot wiederum, der Abrahamsneffe, pimpert im Suff mit seinen Töchtern. Weil die nach Sodoms Vertilgung glauben, sie seien die letzten Menschen auf der Welt, und nicht aussterben wollen. Solche welthistorischen Peinlichkeiten passieren also, wenn Juden saufen; also lassen sie’s. Ob Gott selber trinkt? Aus Langeweile? Und dann einen Kater hat und Unglücke passieren lässt wie die Erfindung des Feminismus oder Kroos vergeigte Riesenchance gegen die Spanier im WM-Halbfinale?
Nürnberg ist noch fern, aber es naht der Barth Riesling Classic, 2010, Rheingau. Ob ich etwas essen wolle? Ja, später. Typischer, solider Riesling. Die wählen anscheinend so aus, dass jeder Esel im Zweifelsfall die Rebsorte erkennt. Die Speisekarte. An manchen Gerichten ist ein Häkchen, bei Penne mit Pilz-Sahne-Sauce und Salat mit Käsetreifen etwa. Hier wird’s erklärt: „Bestandteile dieses Gerichtes beinhalten keine Erzeugnisse, die aus oder mithilfe von Erzeugnissen hergestellt werden, die aus verendeten, geschlachteten oder aufgrund ihres Verzehrs zu Tode gekommenen Tieren gewonnen werden.“ Bin ich schon besoffen? Aufgrund ihres Verzehrs zu Tode gekommenen Tiere? Das mag sein, wenn ein Krokodil oder ein Waran frisst. Und die anderen Speisen enthalten Verendetes? Wenn hier etwas verendet, dann wohl das Deutsch.
Wo war ich gerade? Ah, Musik und der Trunk. In der Oper denn doch öfter. Tosca, 2. Akt: Wein. Butterfly, 1. Akt: Whisky. Tabarro, 1. Akt: Wein. La Boheme, 1. Akt: Bordeaux. „Nein, nein, ich trink kein Wein“: Rosenkavalier, 3. Akt. Im zweiten Akt der Fledermaus sind am Ende alle dicht, der dritte handelt vom Kater. Bei Wagner nichts. Doch – die Blutsbrüderschaftstrinkerei in der Götterdämmerung. Hagen wird ja wohl kein Wasser genommen haben. Champanger-Arie des Don Giovanni. Im Finale trinkt er dann „exzellenten Marzemino“. Trinkt heute kein Mensch mehr. Einem Freund hat die Frau, derweil er verreist war, die ganze Wohnung ausgeräumt. Das einzige, was er bei seiner Rückkehr vorfand, war eine Flasche Marzemino. Die Frau war Opernliebhaberin.
Allmählich wird’s dunkel, Zeit für Rotwein. Schild an der Straße: „Hier war Deutschland geteilt“. Die alte Zonengrenze! Die „ehemalige“ DDR. Es gibt ja keine andere. Also bis jetzt noch nicht. Vielleicht wird’s ja wieder. Wenn man sich die deutsche Politik und das Personal so anschaut. Den Gabriel zum Beispiel. Und diese Linkspartei-Figuren. Die Wagenknecht als Diktatorin, na gut, das ginge hin. Die liest wenigstens Goethe. – Was für Plörre ich in diesem Land getrunken habe! Im Schnapslager, die Waggons aus Rumänien, aus denen der Wein troff wie aus einem Kelter. Weil die Kisten in den Waggons lose rumstanden. Na gut, war ja kein Wein, hieß nur so. Man müsste diese Kommunisten noch nachträglich massakrieren dafür, was sie einem kulinarisch zugemutet haben.
Jetzt August Kessler, Spätburgunder Qualitätswein trocken. 2009. Nein, keine Detailforschung mehr, einfach zügig wegschlürfen. Diese erkennungsdienstliche Behandlung von Wein! Diese Parkerpunktetabellenmentalität! Wir Verfeinerten mit den schwachen Trieben. Fünf Pianisten mit demselben Stück hören ist ja auch nichts anderes. Damals in Meißen, wann war das, 1996, bei Vincenz Richter, ehedem ein sogenanntes legendäres DDR-Weinlokal. Alles, was der Chef von vor 1989 aus dem Keller holte, war schon hinüber. Und der Zustand des Weinberges, herrlich gelegen über Elbe und Albrechtsburg! Aber die Reben an Betonpfählen mit Draht, der Boden knochenhart und biologisch tot. Die Staatsgrenze quasi noch mal als Rebzeile. Rote Barbaren! Hätten gleich Stacheldraht nehmen sollen. Heute machen sie dort gute Weine, Spätburgunder vor allem. Apropos, ich bleibe beim Spätburgunder. Dornfelder muss nicht sein.
Die Reise vor ein paar Jahren mit der kaputten Klimaanlage, mitten im Sommer von Zürich nach München. Prachtvolle Hitze draußen, stechender, notdurftsnaher Weindurst, und dann war der Speisewagen dicht, weil drinnen 50 oder mehr Grad herrschen. Hab’ mich trotzdem reingesetzt. Kühlschrank funktionierte, Kellnerin schaute immer mal wieder rein, ob ich noch lebe und brachte kopfschüttelnd neuen Weißwein. Flasche für Flasche. Das Zeug floss gleich wieder aus allen Poren raus, ungefähr wie ein Saunaaufguss. Großartige Fahrt! – Das ewige Denken an den Tod ab einer gewissen Promillegrenze. Im Moment größter Lebendigkeit wirst du plötzlich auch den Tod sehen. Also sprach Osho, alias Baghwan. Der hat auch nicht getrunken. Mein tiefer Widerwille gegen Abstinenzler.
Jetzt guckt doch dieser Kerl am Nachbartisch auf dem Laptop Filme an, den Bildschirm genau in meine Richtung. Pferde, Ritter, Schwertkämpfe. Optische Umweltverschmutzung. Bildergestank, Bilderlärm. Der I‑Pod im Ohr hilft gegen das Gerede der Mitreisenden, was hilft nun dagegen? Ah, die Brille runter! Kurzsichtigkeit ist oft die Rettung. – Mensch, es ist doch Freitag, Bundesliga, das Abendspiel. Gleich mal nachschauen, wie es steht. Für irgendwas muss dieses blöde Handy ja gut sein. Sieh an, der FC Große Klappe verliert. Hat sich mal wieder selbst geschlagen, wie seine Lautsprecher gerne tröten. Die würden sich gegen Barcelona wohl auch nur selber schlagen. Egal, Dortmund ist jedenfalls wieder dran an den Bayern. BVB, ole! Jetzt aber Schluss mit dem Wein. Jetzt brauch’ ich ein Bier!
Erschienen in: Fine. Das Weinmagazin, Heft 1/2012, S. 144/145