Eine Würdigung verkannter Leistungsträgerinnen (anlässlich des sogenannten „Tarabella”-Berichts, in dem das Europäische Parlament fest- und klarstellt, „dass durch die traditionellen Geschlechterrollen die Entfaltung der Frau eingeschränkt wird und sie deshalb ihr Potential als Mensch – sic! – nicht ausschöpfen kann.” )
Es ist heutzutage viel von der „Doppelbelastung der Frau“ die Rede. Bekanntlich umschließt dieser modische Begriff die parallelen Anforderungen von Beruftstätigkeit und Familie, das heißt, beide werden als „Belastungen“ auf eine Ebene gestellt. So verwandeln sich Kinder in Belastungen, vergleichbar ungefähr dem Terminstress bei einer Projektabgabe oder einem nervenden Chef. Zweifellos können Kinder zuweilen sogar noch belastender sein als der schlimmste Chef, aber der Formulierung von der Doppelbelastung sollte man keineswegs trauen. Besser wäre vielleicht: Doppelleistung, je nach Naturell sogar: Doppelglück. Schließlich kann ein Tag intensiver Kinderbetreuung so anstrengend (und erfüllend) sein wie das tägliche Arbeitspensum eines Physik-Nobelpreisträgers oder einer Konzertpianistin, wie eine Schicht im Bergwerk oder eine Bergetappe bei der Tour de France.
Aber passen Berufstätigkeit und Familie zusammen? Wie jede Frau, die sich zur Fortpflanzung entschließt, irgendwann erfährt, eher nicht. Unter den Bedingungen des sogenannten modernen Lebens bedarf es einer Parforceleistung, erfolgreich Kinder großzuziehen und gleichzeitig einem Beruf nachzugehen. Die sogenannte Doppelbelastung wird deshalb häufig delegiert. Frau kann heutzutage Kinder haben und gar nicht erstlinig Mutter sein; dafür gibt es Einrichtungen oder Au pairs, oder die Väter übernehmen Betreuungsaufgaben. Wobei ich nicht glaube, dass sie dasselbe leisten können wie Mütter.
Das erste und elementarste Wort, das mir im Zusammenhang mit dem Begriff „Mutter“ einfällt, ist „Trost“. Mit dem Vater mag sich die kindliche Assoziation „Sicherheit“ verbinden – ich rede hier von Normalfällen –, doch sie beschreibt nur ein sozusagen praktisch-weltliches Vermögen, während jenes, Trost zu spenden, in die Bezirke des Chthonisch-Bergenden und zugleich Transzendenten hineinreicht, weshalb es lange Zeit, wenn man der Obhut der Mutter entwachsen war, auch an den Geistlichen delegiert wurde. Einem unglücklichen oder kranken Kind Trost zu spenden, ist zwar eine der gewöhnlichsten Beschäftigungen der Mütter dieser Erde, doch sie funktioniert eben nur jeweils zwischen zwei unaustauschbaren Menschen. Nur die Mutter kann jenen ungetrübten Frieden schenken, von dem Proust spricht, wenn er beschreibt, wie seine Maman ihm Gute Nacht sagte. Die Verbindung des Kindes zur Mutter ist weit enger und dauerhafter als jene zum Vater; kein Gekreuzigter, mit Ausnahme des einen, rief nach seinem Vater, und auch die Schwerverletzten in den Schützengräben brüllten „Mama!“ und nicht „Papa!“.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat in seinen alten Tagen immer wieder den Verlust der Mütterlichkeit in den jüngeren, also derzeit tonangebenden Generationen beklagt. Mütterlichkeit, das ist die Bereitschaft zu engelsgeduldiger Selbstverleugnung und dienender Aufmerksamkeit, ein liebevolles Sich-Aufopfern, das nicht nach Grund und Honorar fragt. Es ist das, was eine Feministin sofort „Ausbeutung der Frau“ nennt. Es ist ein Verzicht zugunsten anderer, wie ihn der Zeitgeist einfach nicht mehr vorsieht, und nur die enorme Kraft der Blutsbande vermag der Allgewalt dieses Zeitgeistes zu widerstehen. Deswegen finden wir in den Familien immer noch die Asymmetrie der Lastenverteilung, die sich in außerfamiliären Strukturen sofort als Ungerechtigkeit angeprangert sähe. Innerhalb der Familie darf noch gedient werden.
Als Hauptfeinde der Mütterlichkeit agieren der Ökonomismus (am deutlichsten in Gestalt des feministischen Karrierefetischimus) und der Hedonismus. An eine moderne junge Frau werden extreme Forderungen gestellt: Sie soll emanzipiert sein, attraktiv, sportlich, gepflegt, modisch up to date, mobil, dynamisch, beruflich erfolgreich (und belastbar), sexuell aktiv (und disponibel). Hat sie einen festen Partner, fällt nur das „disponibel“ weg, der Anschein freilich sollte bleiben. Nichts stört hier mehr als Kinder. Die Supermodels machen es vor, dass zumindest theoretisch die Möglichkeit besteht, ein halbes Jahr nach der Geburt wieder bauchfaltenfrei vor die Kamera zu treten. Ohne privaten Fitnesstrainer und zwei Nannys pro Kind ist Mutterschaft jedoch, zumindest nach den Kriterien des beruflichen und partnerschaftlichen Marktes, eine mittlere Katastrophe. Sie bedeutet das exakte Gegenteil von ganztägiger beruflicher Belastbarkeit und sexueller Attraktivität. Schwangerschaft und Stillzeit gelten heutzutage eher als temporäre Behinderungen. Am Ende ist der Schoß ist durchbrochen, der Bauch gerissen, die Brüste verlieren an Spannung, OP-Narben bleiben ewig sichtbar. Kinder sind sozusagen gutartige Tumore, die die Frau körperlich dauerhaft beschädigen und ihr Zeit und Energie und Attraktivität abziehen.
Nach den geltenden Kriterien verwandelt sich eine Mutter erst dann in ein Leistungswesen, wenn sie die Kinder in der Krippe abgegeben hat und im Büro angekommen ist. Das ist ein vergleichsweise trauriges Phänomen, welches mit der Heiligung der Lohnarbeit zusammenhängt und viele Frauen in eine paradoxe Lage bringt, die eine Freundin in die Worte fasste: Sie arbeite immer mehr, um sich immer bessere Kinderbetreuung leisten zu können. Mit anderen Worten: „Man hat Kinder, als hätte man sie nicht“ (Norbert Bolz). Kinder zu betreuen gilt nur als verrechenbare Leistung, wenn sie von professionellen Erzieherinnen erbracht wird. Mutterschaft läuft nebenher oder findet gar nicht mehr statt; wir können diesen Trend bei zahlreichen Akademikerinnen beobachten. Sie versäumen die entscheidende Erfahrung ihres Geschlechts, und die Avanciertesten oder auch bloß Verzweifeltsten unter ihnen entwickeln stattdessen Theorien über „Gender“ und „konstruierte Geschlechterrollen“. Doch die Lektüre der launigsten Gender-Studies vermag die Melancholie nicht zu vertreiben, die sich auf das Gesicht der kinderlosen Endvierzigerin malt. Wenn wir auf 5000 Jahre rekapitulierbarer menschlicher Geschichte zurückschauen, dann würde in ca. 4950 davon kein Mensch den Begriff „Mutterrolle“ verstanden haben. Gewiss, die Begriffe „Work-Life-Balance“ oder „Frauenqoute“ hätte auch niemand verstanden, aber es dürfte kein Zufall sein, dass die Idee, aus der natürlichen Mutter die angeblich sozial konstruierte Mutterrolle zu machen (so wie aus den Geschlechtern die angeblich sozial konstruierten Geschlechterrollen), aus einem demografisch erschöpften Weltteil stammt, dessen Bevölkerungspyramide sich anschickt, einen auf Dauer höchst ungesunden Kopfstand zu machen.
Vor hundert Jahren schrieb Henry Louis Mencken: „Es ist allgemein bekannt, dass eine Hausfrau, die gut kocht oder ihre eigenen Kleider so geschickt näht, dass man es nicht gleich merkt, oder die ihre Kinder in den Anfangsgründen der Moral, der Naturwissenschaft und der Hygiene unterrichten kann – bekanntlich sind solche Frauen sehr selten –, dass eine solche Frau gewöhnlich nicht für einen Menschen von bemerkenswerter Intelligenz gehalten wird.“ Das war damals vor allem als Spott auf den Allerwelts-Mann gemünzt, der seine täglichen Geschäfte für wunder wie bedeutend hielt (und bis heute hält). Inzwischen stehen wir vor dem Phänomen, dass auch viele Frauen diese Geschäfte für bedeutender halten als die Betreuung des Nachwuchses oder solch eminente Kulturtaten wie die Zubereitung des Mahls. Das liegt weniger an den Produkten ihrer Berufstätigkeit – viele Menschen sind heutzutage ja dazu verdammt, ihr Geld mit Beschäftigungen zu verdienen, deren Produkte schierer Tinneff sind – als vielmehr an den Begleiterscheinungen des Berufstätigseins. Der Gewinn, den die sogenannte moderne Frau daraus zieht, besteht in ihrer sozialen und vor allem finanziellen Unabhängigkeit vom Mann. Einerseits mag dies ein Ideal von kinderwunschbefreiten Akademikerinnen oder Lesben sein, andererseits scheint es aber auch für eine normale Frau angebracht, weil der aktuelle Typus Mann oft nicht mehr willens oder imstande ist, eine Familie zu gründen und zu ernähren, weil sie sich also nicht auf ihn verlassen kann. Doch auch der erfüllendste Job mit dem höchsten Sozialprestige – Kanzlerin etwa – wird es einer kinderlosen Frau nicht ermöglichen, der Sinnfrage aus dem Weg zu gehen. Und besteht nicht der einzige Sinn, den dieses sonderbare menschliche Dasein produziert, in der generativen Weitergabe der unbeantwortbaren Sinnfrage? Wie gering schätzt ein Mensch seine Gene, der mit ihnen aus der weiteren Menschheitsgeschichte aussteigen will? Und wie viele von diesen Aussteigern produzieren in ihrem Job Bleibendes?
Man könnte, unter marktwirtschaftlichen Prämissen, vielleicht so formulieren: Eine Frau, die dauerhaft daheim bleibt, ist in ähnlichem Maße ein Leistungsverweigererin wie eine Frau, die wegen ihres Jobs auf Kinder verzichtet (weibliche Genies ausgenommen). Dass es dagegen zahllose Frauen schaffen, ihre Kinder vernünftig großzuziehen, gleichzeitig einen Beruf auszuüben und dabei noch manierlich auszuschauen, ist eines jener schönen Alltagswunder, die wahlweise aus der Ferne zu bestaunen oder aus der Nähe zu genießen sich kein Mann versagen sollte.
Erschienen in: schweizer monat, Dezember 2011/Januar 2012, S. 54/55