Es gibt eine Reihe kultivierter Menschen – darunter einige der bedeutendsten Pianisten – die Alfred Cortot (1877–1962) für den größten Klavierinterpreten aller tontechnisch überlieferten Zeiten halten. Die Betonung liegt auf dem Begriff „Interpret”. Cortot war der freieste aller Pianisten (auch frei von jeder Masche), ein nachschöpfender Poet mit einzigartig pastosem Ton. Lebte er noch, würde er unter seinen heutigen Kollegen wirken wie ein Ölmaler unter Grafikern. Allerdings wäre für einen so hochgradig eigentümlichen Spieler wie den Franzosen heutzutage kaum eine Weltkarriere vorstellbar. Die Verpflichtung auf einen schlanken, präzisen Klang und exakte, scheinbar „objektive” Wiedergabe hat unter den aktuellen Interpreten den Typus der Perfektionsmaschine als maßgebend etabliert, der kaum mehr den Sinn oder die Nerven dafür hat, die großen Werke wirklich individuell neu entstehen zu lassen. Cortot dagegen, ganz aus dem Geist der Komposition schöpfend, leistete sich mit zunehmendem Alter und zunehmenden Verpflichtungen als Kulturfunktionär und Klavierpädagoge etwas, das unter modernen Pianisten als größtes Malheur gilt: Verspieler. Aber bei ihm war es egal. Man nahm es hin, „wie man die Risse oder Schäden an Gemälden alter Meister akzeptiert” (Harold C. Schonberg). Joachim Kaiser zitiert einen zeitgenössischen Pianisten mit den Worten, Cortots falsche Noten seien ihm lieber als seine eigenen richtigen. Das heißt keineswegs, dass der Franzose nicht zu den exzellentesten Virtuosen gehörte.
Friedrich Gulda hat berichtet, dass er nach einem Cortot’schen Chopin-Recital dermaßen berauscht war, dass er nicht mehr gewusst habe, wie er nach Hause gekommen sei. „Seht ihr diese Bäume? Der Wind spielt in den Blättern, entwickelt unter ihnen Leben, der Baum bleibt derselbe, das ist Chopinsches Rubato!“, sprach Franz Liszt. Durch niemandes Spiel braust und fächelt dieser Wind eindrucksvoller als durch jenes des göttlichen Cortot.
Chopin: Balladen/Nocturnes, Alfred Cortot (Naxos)
Erschienen in: eigentümlich frei, Oktober 2011