Modest Mussorgski: Bilder einer Ausstellung

 

Der jun­ge Mensch genießt gegen­über dem älte­ren den außer­or­dent­li­chen Vor­teil eines straf­fe­ren, funk­ti­ons­tüch­ti­ge­ren Kör­pers, aber dafür ist er gezwun­gen, mise­ra­blen Wein zu trin­ken, gewal­ti­gen Unsinn zu den­ken und schlech­te Musik zu hören. In mei­nem Fall bestand eine der typi­schen musi­ka­li­schen Jugend­vor­lie­ben bzw. ‑blöd­hei­ten dar­in, dass ich Mus­sorgskis „Bil­der einer Aus­stel­lung” per­ma­nent, aber gespielt von drei bunt­ge­klei­de­ten, ein­drit­tel­nack­ten ame­ri­ka­ni­schen Pop­kas­pern namens Emer­son, Lake & Pal­mer oder von dem japa­ni­schen Syn­the­si­zer-Freak Tomi­ta hör­te, spä­ter dann auch in der Orches­ter­ver­si­on von Ravel. Im Ori­gi­nal nahm ich das Werk erst drei­ßig Jah­re dar­auf zur Kennt­nis, nach­dem ich es zwi­schen­durch so satt hat­te wie Spa­ghet­ti car­bo­n­a­ra. Die „Bil­der” sind ein tri­via­li­sier­tes Meis­ter­werk, sie gehö­ren zu den popu­lärs­ten klas­si­schen Stü­cken über­haupt – nicht zuletzt weil es sich um musi­ka­li­sche Bild­be­schrei­bun­gen han­delt, das heißt, die Abs­trak­ti­ons­fä­hig­keit des Hörers wird nicht über­for­dert –, aber man hört sie erst wirk­lich, wenn man sich zur Kla­vier­fas­sung bekehrt. Alle ande­ren Ver­sio­nen sind, bes­ten­falls, so authen­tisch wie „La Bohè­me” auf deutsch. 

Mus­sorg­ski, der sich als vor­bild­li­cher Rus­se mit 42 Jah­ren zu Tode soff, war ein Ori­gi­nal­ge­nie, ein Mann ohne Vor­gän­ger und Nach­fol­ger; sei­ne Musik ist tita­nisch, derb, unele­gant, unsen­ti­men­tal, erdig, mas­ku­lin, frei. Der Kla­vier­zy­klus nach Bil­dern des ver­stor­be­nen Maler­freun­des Vik­tor Hart­mann ist eines der weni­gen Wer­ke, das er voll­enden konn­te. Sei­ne Popu­la­ri­tät hat es voll­auf ver­dient. Allein die Idee der Pro­me­na­den, des musi­ka­li­schen Umher­ge­hens und Sin­nie­rens zwi­schen den den Bil­dern, ist gran­di­os. Pia­nis­tisch gehört das Opus zu den anspruchs­vol­le­ren Par­cours. Kaum jemand ist dafür so geeig­net wie Jew­ge­ni Kis­sin. Kis­sin zählt (zumin­dest bis­lang) zu den eher „kal­ten” Pia­nis­ten, Mys­te­ri­en sind nicht sei­ne Sache, aber sei­ne Tech­nik ist kolos­sal, sei­ne Prä­zi­si­on atem­be­rau­bend, und was er in Mus­sorgskis Zyklus an Klang­far­ben – Klang­ma­le­rei­en eben – pro­du­ziert, stellt mei­nes Erach­tens sogar noch die legen­dä­re Auf­nah­me von Horo­witz in den Schatten. 

Mode­st Mus­sogs­ky: Bil­der einer Aus­stel­lung; Jew­ge­ni Kis­sin, Kla­vier (RCA)

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Juli/August 2011

 

 

 

 

 

 

 

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