Was Gender und Gender-Mainstreaming mit Dekadenz zu tun haben
Es gibt merkwürdige intellektuelle Moden, an die plötzlich die halbe Welt glaubt, bis irgendwann alles Schnee von gestern ist. So verhielt es sich zuletzt mit der Dialektik, dem Klassenkampf, dem „absterbenden Kapitalismus“ oder dem „Ende der Geschichte“. Zwei Moden unserer Epoche (bzw. unseres Epöchleins) heißen Feminismus und Gender. Lehrstühle für Frauenforschung sprießen allerorten, Gender-Professorinnen werden berufen, Kongresse veranstaltet, Publikationen strömen auf den Markt, Politiker übernehmen die Schlagworte, bewilligen Gelder für Studien über Frauenbenachteiligung und aufgezwungene Geschlechterrollen. Die EU und also auch Deutschland veranstalten Gender-Mainstreaming, was im Unterschied zum Kommunismus, mit dem diese Idee immerhin den Stallgeruch teilt, nicht Millionen Menschenleben, sondern zunächst nur viele Millionen überwiegend von männlichen Steuerzahlern aufzubringende Euros (und langfristig Zigtausende Männer den Job) kosten wird.
In Deutschland wurde Gender-Mainstreaming 1999 von der Regierung Schröder/Fischer per Kabinettsbeschluss – also am Parlament vorbei – eingeführt und umstandslos den Frauenabteilungen der entsprechenden Ministerien zugeschlagen. Allein der Begriff „Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz“ hätte aufhorchen lassen müssen. Dessen zweiter Satz erläutert, worum es geht: „Nach Maßgabe dieses Gesetzes werden Frauen gefördert, um bestehende Benachteiligungen abzubauen.“
Freilich verhält sich Gender-Mainstreaming zum Gender-Theorem an sich allenfalls wie eine linke Staatspartei zur kommunistischen Weltbewegung. Gender will mehr, quasi den neuen Menschen schaffen. Der Begriff soll das soziale oder psychologische Geschlecht einer Person im Unterschied zu ihrem biologischen Geschlecht (Sex) beschreiben. Aus der Allerweltstatsache, dass es Geschlechterrollen gibt, ist unter der Hand die These geworden, Geschlecht sei eine Rolle. Männlichkeit und Weiblichkeit erscheinen so als von der Gesellschaft konstruiert, klassisch formuliert im Satz der Frühfeministin Simone de Beauvoir: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht.“
Den Begriff Gender prägte 1955 der US-amerikanische Arzt John Money. Er hatte beweisen wollen, dass Geschlecht im Grunde disponibel sei und eine Geschlechtsumwandlung an einem jungen Mann vorgenommen, die diesen letztlich in den Selbstmord trieb. Damit war zugleich angedeutet, wohin die Reise gehen soll: Gender ist ein Aufstand gegen die Natur, ein Angriff auf den heterosexuellen Mann im Speziellen und die Zweigestaltigkeit der menschlichen Spezies an sich. Dieser sogenannte Dimorphismus war als evolutionäres Modell überaus erfolgreich, wie man unter anderem am vergleichsweise miserablen Abschneiden der Knosper und Selbstbefruchter erkennen mag. Die zwei Geschlechter in ihrer Wechselbeziehung haben sich evolutionär zu immer neuen Spitzenleistungen angeregt. Das menschliche Gehirn hätte sich ohne die Zweiheit der Geschlechter niemals so weit entwickelt, dass es sogar Theorien wie jene ersinnen konnte, diese Zweiheit sei ein „soziales Konstrukt“.
Meisterdenkerin der Gender-Theorie ist die US-amerikanische Philosophin Judith Butler. Frau (!) Butler, wie viele aus diesem Theoriemilieu homosexuell und kinderlos, vertritt die Ansicht, Gender und Sex ließen sich nicht trennen, die Geschlechterdifferenz sei „keine Tatsache“, sie klagt über „Zwangsheterosexualität“ und die „biologisch enge Vorstellung von Fortpflanzung als dem sozialen Schicksal der Frauen“. Während sie „eine heterosexuelle Melancholie“ entdeckt hat, die aus der „Ablehnung homosexueller Zuneigung“ herrührt, war ihr jene weit häufigere Melancholie, die sich auf die Züge der kinderlos gebliebenen Endvierzigerin malt (und die auch durch die Lektüre launiger Gender-Studies nicht zu tilgen ist), bislang nicht der Rede wert.
Auf derselben Linie, wenngleich intellektuell anderthalb Stufen tiefer, agiert Thomas Krüger, SPD-Mann (bzw. ‑Gender) und Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, die Ende Oktober einen Kongress unter dem Motto „Das flexible Geschlecht“ abhielt. In der Eröffnungsrede forderte Krüger den „Verzicht auf Privilegien wie die klassische Ernährer-Ehe, an der sich immer noch steuerliche Privilegien festmachen“. Zugleich lobte er die Abtreibungspraxis in der DDR und würdigte den allmorgendlichen Massenaustrieb der DDR-Frauen in die Aufenthaltsräume nutzloser Betriebe als „beinahe Vollbeschäftigung“. Der Westen hingegen, so Krüger, „leistete sich Hausfrauen“. Seit 1995 sei Abtreibung nun „zwar straffrei, aber rechtswidrig und gesellschaftlich weiterhin geächtet und heiß umstritten“, monierte der Chef der auf weltanschauliche Neutralität halbwegs verpflichteten Behörde. Schlimmer noch: „Die Menschenrechte von Personen, die der Vorstellung und den Normen der Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen wollen oder können, werden tagtäglich kontinuierlich verletzt.“
„Doing Gender“ ist die logische Konsequenz linken Denkens, das seit 200 Jahren hinter jeder benachteiligten Gruppe eine neue entdeckt. Nach der Emanzipation des dritten Standes, des Proletariats, der Dritten Welt, der Frauen und der Migranten steht nunmehr die Emanzipation jedweder sexueller Neigung samt Abschaffung der repressiven Geschlechterrollen auf der Agenda. Nahezu von Anfang an und mit bemerkenswerter Konstanz rangiert die bürgerliche Familie an der Spitze zu bekämpfender „Zwangsstrukturen“. Kinder wiederum spielen im Gender-Diskurs ungefähr eine solche Rolle wie die Verhütung im katholischen. Wer die Begriffe Frau und Mutter zu eng zusammenbringt, ist des Teufels, wie hierzulande etwa die TV-Moderatorin Eva Herman erfahren durfte. In einer von der Schweizer Nationalrätin Doris Stump initiierten Beschlussvorlage des Europarats heißt es, Frauen dürften nicht mehr „als passive und minderwertige Wesen, Mütter oder Sexualobjekte“ dargestellt werden.
In ihrem Kern dient die Gender-Idee dazu, Frauen exklusive Karrierechancen zu eröffnen, und sei es nur als Professorin für Gender-Studies; außerdem sollen homosexuelle Lebensgemeinschaften heterosexuellen rechtlich gleichgestellt werden. Dieser radikale Subjektivismus kennt keinen Generationenvertrag mehr, sondern nur mehr noch die sexuelle Selbstverwirklichung. Tatsächlich ist die Gender-Ideologie eine Form des Heile-Welt-Kitsches mit dem Wunsch nach individueller Rundumbefriedigung, vergleichbar der klassenlosen Gesellschaft der Internationalsozialisten.
Ein Spaßverderber, wer nun die Demografie ins Spiel bringt. Aus deren Warte ist Gender nicht viel mehr als ein Symptom. Überall, wo diese Idee waltet, herrschen niedrige Geburtenraten. Asien etwa kennt kein Gender-Mainstreaming, und Amerika besitzt ein robustes konservativ-religiöses Milieu, das sich weiter fortpflanzt. Europas Anteil an der Weltbevölkerung betrug anno 1900 25 Prozent, im Jahr 2000 waren es zwölf Prozent, 2050 werden es 7,6 sein. Anno 1900 kamen in Deutschland 36 Geburten auf 1000 Einwohner, heute sind es acht, die Migrantenkinder eingerechnet. Demografen wie der Bielefelder Professor Herwig Birg menetekeln seit Langem, die derzeitge Situation werde in ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung „schlimmer als der Dreißigjährige Krieg“ sein: „Nichtgeborene können selbst bei der besten Familienpolitik keine Kinder haben.“ Und wo schwindende Völkerschaften Räume frei machen, drängen fruchtbare nach; es wird faszinierend sein zu beobachten, wie unsere Schwulen, Lesben und Feministinnen zum Selbstbehauptungskampf gegen die muslimischen Machos antreten.
Einer hat diesen Prozess vor hundert Jahren prophezeit: „Aus der Tatsache, daß das Dasein immer wurzelloser wird“, schrieb Oswald Spengler 1918, geht „endlich jene Erscheinung hervor, die im stillen längst vorbereitet war und jetzt plötzlich in das helle Licht der Geschichte rückt, um dem ganzen Schauspiel ein Ende zu bereiten: die Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen.“ Dieser „letzte Mensch der Weltstädte will nicht mehr leben, wohl als einzelner, aber nicht als Typus“, notierte der Geschichtsdenker. „Die Fortdauer des verwandten Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als Pflicht dieses Blutes, das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als Verhängnis empfunden.“ Verhängnisvoll ist vielmehr bloß noch, im falschen Gender zu leben. Dergleichen nennt man Dekadenz. Da sie von Egalitaristen verwaltet wird, handelt es sich, anders als im alten Rom oder im Spätabsolutismus, um eine Dekadenz ohne Glanz.
Interessant bei alledem, dass eine solche Theorie in das vermeintlich patriarchalische System eindringen kann wie ein Messer in die Butter. Dass sich aus den Reihen steuerzahlender, familien-ernährender Männer gegen diesen soziologischen Okkultismus kaum Widerstand regt, kann als ein Propaganda-Coup oder Dressurerfolg ersten Ranges verbucht werden.
Starb die „Kritik der politischen Ökonomie“, als welche der Marxismus daherkam, den ökonomischen Tod, wird die Gender-Ideologie mangels Nachkommen wohl peu à peu den biologischen Tod sterben. Die nächsten intellektuellen Moden werden dann aus anderen Erdteilen kommen.
Erschienen in: Focus, Heft 52/2010, S. 64–66