Gieseking spielt Beethoven-Sonaten

 

Wal­ter Gie­se­king genießt heu­te noch den Ruf des sub­tils­ten Debus­sy- und Ravel-Inter­pre­ten, und zwar mit allem Recht der Welt. Tat­säch­lich ist jedoch das Schubert‑, Schu­mann- und vor allem Beet­ho­ven-Spiel die­ses pia­nis­ti­schen Phä­no­mens min­des­tens eben­so beein­dru­ckend gewesen. 

Gie­se­king war ein Rie­se; er besaß Hän­de von Tel­ler­grö­ße, mit denen er über die Tas­ta­tur „wisch­te“ und nicht nur gewal­tig­te Erup­tio­nen aus­lös­te, son­dern auch das hauch­zar­tes­te Pia­nis­si­mo spie­len konn­te (mit­un­ter fragt man sich bei ihm, ob ein Ton tat­säch­lich erklun­gen ist). Sei­ne Bega­bung war mys­te­ri­ös, sei­ne ein­zi­ge for­ma­le Aus­bil­dung bestand in einem zwei­jäh­ri­gen Stu­di­um bei Karl Lei­mer. Offen­kun­dig besaß er ein nahe­zu foto­gra­fi­sches Gedächt­nis, er lern­te die Stü­cke in kur­zer Zeit aus­wen­dig und spiel­te sie qua­si „von innen“. Üben erklär­te er für über­flüs­sig; wer ein­mal Kla­vier­spie­len gelernt habe, kön­ne es doch. Das klang kokett ange­sichts der Tat­sa­che, dass für ihn nie irgend­ei­ne tech­ni­sche Schwie­rig­keit exis­tier­te. Bei Gie­se­king hat man sogar oft den Ein­druck, er spie­le man­che Pas­sa­gen aus Lan­ge­wei­le viel zu schnell. Doch sein Form­ge­fühl war unbe­stech­lich – nach beim Hören des gesam­ten Stü­ckes zer­fal­len sol­che Ein­wän­de von selbst. Zugleich war sei­ne Fähig­keit, Mys­te­ri­en her­zu­stel­len, so stu­pend (man höre das Ada­gio und das L’istesso tem­po di Fuga aus Opus 110), dass die Aus­flü­ge ins All­zu-Vir­tuo­se wie ein ent­span­nen­des Durch­at­men wirken. 

Ein­zig­ar­tig bei vie­len sei­ner Beet­ho­ven-Auf­nah­men ist die Mischung aus Zärt­lich­lich­keit und nahe­zu Gewalt­tä­tig­keit. Er spielt eine Sona­te nicht, son­dern packt sie sich und unter­wirft sie sei­nem Wil­len. Wer weiß, wie all­seits geschätz­te Kol­le­gen in mit­un­ter ziel­lo­ser Detail­ver­ses­sen­heit in die­sen Stü­cken her­um­ir­ren, wird sein pro­me­t­hei­sches Spiel des­to mehr genießen. 

Ich emp­feh­le jede Beet­ho­ven-Ein­spie­lung von Gie­se­king (eine Gesamt­auf­nah­me schei­ter­te an sei­nem Unfall­tod), die 1953 und in sei­nem Todes­jahr 1956 ent­stan­de­ne ist nur ein Beispiel. 

Beet­ho­ven, Pia­no Sona­tas No. 21, 23, 30, 31. Wal­ter Gie­se­king, EMI (Gre­at Recor­dings Of The Century) 

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei

Vorheriger Beitrag

Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4

Nächster Beitrag

Horowitz spielt Chopin

Ebenfalls lesenswert

Mozart: Requiem

Von Fried­rich Heb­bel stammt die Fest­stel­lung, man kön­ne eben­so­we­nig dort wei­ter­dich­ten, wo ein ande­rer auf­ge­hört habe, wie man…

Giacomo Puccini: Tosca

  Eine Emp­feh­lung für Gia­co­mo Puc­ci­nis womög­lich bekann­tes­te Oper „Tos­ca“ aus­zu­spre­chen, berei­tet mir zunächt ein­mal inso­fern gro­ßes Ver­gnü­gen,…