Zumindest ein vorläufiger – oder kennt jemand noch ein Exemplar?
Beginnen wir mit einer Anekdote. Sie spielt im Winter 1812, irgendwo in den Weiten Russlands. Moskau ist in Flammen aufgegangen, die französischen Truppen befinden sich, von Kälte, Hunger, Krankheiten und Kosakenangriffen dezimiert und demoralisiert, auf dem Rückzug. Der russische Partisan Denis Dawydow berichtet folgendes:
„Die Alte Garde, bei der sich Napoleon befand, näherte sich. Wir sprangen auf unsere Pferde und erschienen wieder an der großen Straße. Als der Feind unseren lauten Haufen erblickte, legte er die Hand an den Gewehrhahn und setzte seinen Weg stolz fort, ohne seine Schritte zu beschleunigen. Allen unseren Versuchen, auch nur einen Mann aus diesen geschlossenen Kolonnen herauszureißen, setzten sie eisernen Widerstand, an dem all unsere Angriffe scheiterten, entgegen; nie werde ich den freien Schritt und die achtunggebietende Haltung dieser Soldaten vergessen, die dem Tod in allen seinen Gestalten ins Auge gesehen hatten. Mit ihren hohen Bärenfellmützen, ihren blauen Uniformen, dem weißen Lederzeug, mit den roten Federbüschen und Epauletten glichen sie Mohnblüten auf einem schneebedecktem Felde (…) Alle unsere asiatischen Angriffe vermochten nichts gegen diese geschlossene europäische Formation (…) An diesem Tag nahmen wir noch einen General, allerlei Gepäck und 700 Soldaten gefangen, doch Napoleon und die Garde gingen durch unsere Kosaken hindurch wie ein mit 100 Kanonen bestücktes Linienschiff zwischen Fischerbooten.“
Welcher Mann kann das ohne mehr oder minder heimliche Begeisterung lesen? Der moderne Westeuropäer durchaus, wird man antworten, er weiß schließlich, wohin all diese Kriege und Heldentaten geführt haben. Er verbringt lieber ein ganz und gar unheroisches Zivilistenleben, und dass er in keiner Partisanen-Anekdote auftaucht, nimmt er gern als Ausgleich dafür in den Kauf, dass seine Gliedmaßen vollständig sind oder seine Knochen nicht irgendwo in der Steppe bleichen, dass er seine Kinder aufwachsen sieht und das Straßencafe gegenüber, in dem er täglich verkehrt, eine hübsche neue Kellnerin hat.
Kein Dissens. Oder?
Wer sollte ihn auch äußern? Schließlich haben die „letzten Menschen“, deren Heraufkunft Friedrich Nietzsche durch den Mund seines Zarathustra angekündigt hatte, das aristokratische Lebensziel des Ruhmes längst durch das demokratische des Glücks ersetzt. „’Wir haben das Glück erfunden’ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“ Warum blinzeln sie? Nun, unter anderem weil sie die untergehende Sonne des Ruhms noch ein bisschen blendet. Sie sind sich ihrer Sache nicht ganz sicher. Können sie sich jemals sicher sein?
Bei der erwähnten französischen Elitetruppe handelt es sich übrigens um dieselbe, deren Kapitulation der General Pierre Cambronne anno 1815 bei Waterloo mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz ablehnte: „Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht!“ – „Und ob die sich ergibt, die Garde!“ echot es anderthalb Jahrhunderte später durch den Mund eines römischen Legionärs in „Asterix bei den Belgiern“: Ein guter Witz, gewiss – doch wie sehr illustriert er den veränderten Zeitgeist!
Womit wir mitten im Thema sind.
Der Held steht seit einiger Zeit und speziell hierzulande in schlechtem Ruf. Wir leben in einer sogenannten postheroischen Gesellschaft. Das deutsche Karthago hat, ähnlich wie das historische, nach dem Zweiten Punischen Krieg kein Bedürfnis mehr nach Heldentaten, und es geht ihm bislang recht gut dabei. Zumal der amerikanische Hegemon, anders als der römische, den besiegten Gegner als vorgeschobenen Posten an der Peripherie seines Imperiums gut gebrauchen konnte und ihn nicht nur verschonte, sondern sogar eine Art Freundschaft mit ihm schloss, sofern dergleichen unter Staaten überhaupt möglich ist. Das deutsche Karthago ging nicht nur nicht unter, sondern konnte es sich sogar leisten, unter dem Schutz seines großen Verbündeten pazifistisch zu werden. Ähnlich erging es den Japanern, noch vor kurzem eine Kriegergesellschaft par excellence und heute der einzige Staat auf dem Planeten, der qua Verfassung auf Kriegsführung, auch auf defensive, verzichtet: Zwei Atombomben sowie die nahezu komplette Niederbrennung der Hauptstadt können Erstaunliches bewirken.
Vergleichbares hat bei den Deutschen die Einäscherung ihrer Innenstädte bewirkt, der sie ebenso hilflos zuschauen mussten wie der noch demütigenderen millionenfachen Vergewaltigung deutscher Frauen durch vor allem die russischen Besatzer. 1939 waren sie mehr nolens als volens aufgebrochen, die halbe Welt zu erobern, deutsche Truppen hatten auf den Schlachtfeldern Gewaltiges geleistet und waren doch zerschlagen worden, und nun war ihr Land zerstört, amputiert, den Siegern auf Gnade und Verderb ausgeliefert. Millionen Menschen waren tot, Millionen ohne Obdach, Millionen befanden auf der Flucht. Dergleichen steckt kein Volk so einfach weg. Obendrein setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass das Regime durch seine Schandtaten den deutschen Namen in der Welt diskreditiert hatte. Die Kehrseite der riesigen Tapferkeit auf den Schlachtfeldern war der feige Massenmord an Zivilisten, darunter Hunderttausende Kinder. Mit Heldengedenken, Nibelungentreue, Sedantag und Fliegerassen war es vorbei. Künftig wollten die Deutschen nur noch eines: gut leben – und von Kriegen verschont bleiben.
Erst ganz Europa unterwerfen, dann am liebsten von der politischen Landkarte verschwinden wollen: Die Radikalität dieser Umkehr hat das Ausland immer wieder irritiert, am stärksten die Amerikaner. Einem Volk, dessen Eiserner Kanzler einst stolz verkündet hatte: „Wir fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!“ und das zwei Menschenalter später den Begriff „German Angst“ zum gefügelten Wort machte, war nicht zu trauen. Dass viele Deutschen radikalpazifistisch bis zur Selbstaufgabe geworden waren, offenbarte der millionenfache und sogar bei der regierenden SPD mehrheitsfähige Widerstand gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss. Während des ersten Golfkrieges war es schick, weiße Fahnen aus den Fenstern zu hängen. Das einstige „Kriegervolk“ – in Wirklichkeit waren die Deutschen zwar hervorragende Kämpfer, aber sie haben viel weniger Kriege geführt als Briten, Franzosen oder US-Amerikaner – hatte plötzlich nicht nur Angst vor einem Atomkrieg, sondern nicht minder vor dem Waldsterben, der Volkszählung, dem Hitler in sich, der Erderwärmung, vor BSE, Geflügelgrippe, Versicherungslücken, Sekundärtugenden, dem Absingen aller drei Strophen der Nationalhymne und Stürzen vom Fahrrad ohne Helm.
„Ein Zeitalter, das nicht seinen Helden findet, ist pathologisch: seine Seele ist unterernährt“, schrieb der Kulturhistoriker Egon Friedell. Aber was ist überhaupt ein Held? Ist es denn statthaft, ihn mit dem mutigen Krieger geichzusetzen? Hat sich das Bild vom Helden im Laufe der Jahrhunderte nicht verwandelt? Gewiss. Hießen die Helden einst Julius Cäsar, Dietrich von Bern, Friedrich der Große oder Erwin Rommel, sind es heute eher Albert Schweitzer, Nelson Mandela, der Dalai Lama oder Mutter Theresa.
Der Held der Friedfertigen fand anno 2001 sein verbindliches Symbol im New Yorker Feuerwehrmann. Moderne westliche Helden töten nicht, sondern retten Leben, auch unter Einsatz des eigenen. Sie arbeiten für „Ärzte ohne Grenzen“ oder „Amnesty international“. Ein Held war auch jener Pilot, der unlängst seine Boeing im Hudson notwasserte und den Passagieren damit das Leben rettete. Auch gewaltfreie Widerständler wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King gelten als heldenhafte Menschen. Ein politisch korrekter Held darf nichts auf dem Kerbholz haben und nicht der „falschen“ Sache dienen. Die Umbenennung vieler Bundeswehrkasernen illustriert diesen Paradigmenwechsel (der Tag wird kommen, an dem Rekruten in die Rita-Süssmuth-Kaserne einziehen und die „Diskurs“ am Horn von Afrika auf Piratenjagd geht). Die ehemaligen Kriegshelden haben sich dagegen in Täter und manchmal sogar Verbrecher verwandelt. Der passende Platz für Kriegshelden ist der Heldenfriedhof, meinen die sarkastischeren unter den Pazifisten (und wer wäre heute keiner?) – ein etwas tendenziöser Satz übrigens, denn dort liegen auch die Feiglinge. Doch wie auch immer: Denjenigen, die in den Endlagern des Soldatentums verscharrt liegen, gebührt nach allgemeiner Aufassung ungefähr zur Hälfte Mitleid, zur anderen Hälfte Geringschätzung.
Eine halbwegs verbindliche, epochenübergreifende und wertfreie Definition des Helden könnte zunächst also lauten: Ein Held ist ein Mensch, der unter Hintanstellung persönlichen Glücks und persönlichen Nutzens sein Leben für eine Sache oder für die Gemeinschaft einsetzt und manchmal sogar opfert. Dieses sein-Leben-Einsetzen kann zehn Minuten dauern oder 60 Jahre; das unterscheidet den Situations-Helden vom „großen Mann“ (es kann natürlich mitunter auch eine Frau sein). Der Definition fehlt allerdings etwas. „Riesenhafte Tapferkeit“, schrieb Thomas Mann, „ist barbarisch ohne ein wohlartikuliertes Ideal, dem sie gilt.“ Zwar steigen und fallen die Ideale wie die Gezeiten; was der einen Generation als erstrebenswert gilt, kann die nächste schon verwerfen und verfluchen, und innerhalb der verschiedenen Weltteile gelten ohnehin jeweils andere, aber unter allen zivilisierten Völkern dürfte eine gewisse Einigkeit darüber bestehen, dass der Held gut und edel zu sein hat. Ein Sagenheld, der Schwache tötet, das Alter nicht ehrt oder den Gegner, der die Waffen niedergelegt hat, umbringt, ist undenkbar. Dass dergleichen in der Wirklichkeit dauernd vorgekommt, stabilisiert nur das Idealbild und richtet jene, die nicht wenigstens versuchten, ihm zu entsprechen. Die Waffen-SS etwa mag zwar der „Höhepunkt des Kriegertums“ (Ernst Nolte) gewesen sein und für jeden Feind eine Katastrophe – „wir werden dergleichen Soldaten nicht mehr sehen“, schrieb der englische General Michael Reynolds in seinem Buch „Ein Gegner wie Stahl“ –, doch Helden waren diese fanatisch tapferen Burschen so wenig wie die im Ausmorden ganzer Städte versierten Kriegerhorden der Assyrer oder der Mongolen. Sie kannten keine Gnade. Sie geben kein Beispiel.
Ursprünglich war der Held also jener Krieger, der sein Leben für eine aus heutiger Sicht so absurde Sache wie den Ruhm aufs Spiel setzte. „Besitz stirbt. Sippen sterben. Du selbst stirbst wie sie. Eines aber weiß ich, das ewig lebt: der Toten Tatenruhm“, heißt es in der Edda. In Wolfgang Petersens Film „Troja“ wird ein Botenjunge geschickt, den noch schlafenden Achilles zur Schlacht zu holen. Die gegnerischen Heerführer haben vereinbart, das Gefecht nach altem Brauch durch einen Zweikampf der beiden besten Krieger zu entscheiden. Der Kämpfer des Feindes sei der gewaltigste Mann, den er je gesehen habe, erzählt der Bote dem sich ankleidenden Achilles, und setzt hinzu: „Ich würde nicht gegen ihn kämpfen wollen.“
„Deshalb“, versetzt der Pelide, „wird sich auch niemand an deinen Namen erinnen.“
Dieser Satz ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für Millionen Männer, die ja allesamt noch jene genetische Grundausstattung mit sich herumtragen, welche den Typus Achilles möglich gemacht hat (und die für den Überlebenskampf gegen Krokodile, Höhlenbären und feindliche Stämme notwendig war), und die nun nach Argumenten suchen müssen, warum es gut sei, dass ihre Namen mit ihnen verschwinden werden. Der Hinweis auf die völlig andere Situation, in welcher wir heute leben und in der kriegerisches Heldentum nahezu unmöglich geworden ist, hilft deshalb nur mäßig weiter, weil die meisten ja auch vor 3000 Jahren die Ansicht des Botenjungen geteilt haben würden. Es ist eine ungeheuerliche Tatsache, dass es die meiste Zeit Männer gab, die das Wertvollste, das sie besaßen, ihr Leben, ohne mit der Wimper zu zucken drangaben, und die es mitunter als schändlich erachteten, alt zu werden. „Heute ist ein guter Tag zum Sterben“ – für den modernen Menschen wirkt ein solcher Satz geradezu geisteskrank. Der Typus, der dergleichen auch nur zu denken vermag, ist innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft nicht wünschenswert, er wäre eine Zumutung und eine Gefahr für seine Mitbürger. Doch wenn die Gesellschaft als Ganze bedroht ist, beginnt man händeringend nach solchen Gestalten zu suchen. Solange Drachen existieren, braucht es den Drachenkämpfer, mag er auch ein unangenehmer Geselle sein. Wenngleich der Typus des Drachenverstehers (aus der Ferne natürlich) inzwischen aufgetaucht ist, aber dessen Psychogramm würde hier den Rahmen sprengen.
Damit aus dem Krieger ein Held wird, muss also, zumindest seit es Zivilisation gibt, etwas hinzukommen: ein über den Ruhm hinausgehende Ideal. Bislang war und ist dies der Gedanke, dass etwas Verteidigenswertes existiert, wofür ein Mann notfalls mit seinem Leben einzustehen hat: Freiheit, Ehre, Familie, Besitz, Tradition, Religion, Volk, Nation. Ein Held war zum Beispiel – Millionen europäische Schüler haben es früher so gelernt und nie daran gezweifelt – der Spartanerkönig Leonidas, der 479 vor Christus mit seinen 300 Hopliten und einigen Hilfstruppen die Enge der Thermopylen besetzte, um dem hundertmal größeren Heer des Perserkönigs Xerxes den Weg nach Griechenland zu versperren. Der Opfertod dieser Spartiaten ist von Kriegshistorikern unterschiedlich bewertet worden, als heroische, aber militärisch sinnlose Tat von den einen, als strategisch sinnvolle, weil sie der griechischen Flotte Zeitgewinn verschaffte, von anderen. „Die Kritiker sagen, Leonidas hätte sich zurückziehen sollen; soviel ist gewiß, die Kritiker hätten sich zurückgezogen“, spottete der Historiker Heinrich Leo in zeitloser Gültigkeit. Zweieinhalb Jahrtausende hat der Ruhm der 300 nachgehallt: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest/Uns hier liegen geseh’n, wie das Gesetz es befahl“, dichtete Schiller die Worte auf dem Gedenkstein am Schlachtort nach. Der Held ist groß in der Defensive, als Beschützer seines Gemeinwesens. Als solcher ist er der schlechthin vorbildliche Charakter; alle Knaben und jungen Männer versuchen so zu sein wie er.
Dieser Verteidiger des Gemeinwesens hat sich schon zu recht früher Zeit vom Kampfplatz entfernt, er ist vom Krieger zum Feldherren und vom Feldherren zum Stammesfürsten, König oder Staatenlenker geworden, der sich natürlich in hohem Maße um die kriegerischen Belange seines Landes kümmerte und Verteidigungsinteressen auch schon mal offensiv definierte. Der Weg zur historischen Größe führte fort von den Stätten der direkten körperlichen Auseinandersetzung, wo auch der Stärkste recht zügig über Acheron, Jordan oder Wupper geht. Da die einzelne, kurze Heldentat – übrigens auch die des Hudson-Piloten – allmählich verblasst, muss sich der Held mit fortschreitender Geschichte in der Zeit ausdehnen, ein „großer Mann“ werden. Um seine Taten zu vollbringen, muss er überleben. Er opfert sein Leben nunmehr, indem er ein Leben lang einer Sache dient. Der Ruhm gilt dann der Lebensleistung. Das einzige, was der große Mann mit dem antiken Helden noch gemeinsam hat – und was beide so grundlegend aus der Masse hebt – ist ihr entschiedener, zuweilen monströser Wille, selbstbestimmt zu handeln.
Von „großen Männern“, die Geschichte schreiben, wird man heute an keiner Universität mehr hören (zumindest an keiner deutschen). Der Egalitarismus „verführt die demokratische Gesinnung zu jener Perversion, die jede Größe veleugnet und das Heroische verachtet“, konstatiert der Philosoph Norbert Bolz. „Es soll keine großen Männer, keine großen Taten und keine großen Gedanken mehr geben. Deshalb dürfen Niemande Biographien über Bismarck als Neurotiker und Heidegger als Nazi schreiben.“ Seit der westliche Mensch die Geschichte als Kampflatz der Gesinnungen und Ideologien erschlossen hat, dehnt sich der Zeitgeist auch in die Vergangenheit aus, und das Abräumen einstiger Ideale gehört zur Durchsetzung der gerade jeweils geltenden. Eine überalterte, feminisierte, wehleidige, von historischen Schuldgefühlen gesteuerte, der Gleichheit und der Androgynität huldigende Gesellschaft bekämpft expansive Männlichkeit mit halb priesterlichem, halb irrenärztlichem Gestus. „Nach der Entnazifizierung kommt jetzt die Entmachoisierung, die Verwandlung des Mannes in ein sorgendes Haustier. Letztlich geht es um die Ausrottung von Stolz und Ehrgeiz“, resümiert Bolz.
Das ist aber nur die eine Seite. Die andere, scheinbar objektivere, betrifft die resignative Erkenntnis des modernen Menschen, dass es in den immer komplexeren und sich (der Himmel weiß genau wie) wechselseitig beeinflussenden Strukturen einer inzwischen von sechs Milliarden Menschen besiedelten Welt auf den Einzelnen nicht mehr ankommt. „Wir glauben heute überhaupt nicht mehr, daß Geschichte g e m a c h t wird. Geschichte g e s c h i e h t“, notierte Sebastian Haffner. „Wir fühlen uns heute der Geschichte so hilflos ausgeliefert wie früher der Natur.“
Diesem exakt 40 Jahre altem Befund wird inzwischen wohl niemand mehr widersprechen. Weder der tapfere Krieger noch der große Mann haben heutzutage noch die Chance, den Gang der Dinge entscheidend zu beeinflussen, und wenn man es sich recht überlegt, waren ihre Aussichten dafür nie besonders groß. Man kann dies leicht daran nachweisen, dass viele bedeutende historische Persönlichkeiten politisch wenig bis überhaupt nichts von dem erreicht haben, was sie anstrebten. Frankreich war nach Napoleons zweiter und endgültiger Abdankung so groß wie bei seiner Machtübernahme, auch wenn er zwischenzeitlich das halbe Europa beherrscht hatte; Bismarcks mit Blut und Eisen geschaffenes und mit Diplomatie kunstvoll nach allen Seiten abgepolstertes Reich hat keine 80 Jahre gehalten, im Grunde nicht mal länger als bis 1914; unter der Ägide von Englands Nationalhelden Churchill ist das Britische Weltreich auf eine global betrachtet völlig unbedeutende Inselgruppe am Nordwestrand Europas zusammengeschrumpft. Haffner in seinem eminent historischen Denken war jedoch keineswegs bereit, die großen Männer retrospektiv einfach preiszugeben; gerade weil sie trotz der offenkundigen Vergeblichkeit versucht hatten, die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten, erklärte er, seien sie groß gewesen.
Eines freilich haben große Männer mitunter erreicht (und es wird ihnen persönlich selten das Unwichtigste gewesen sein): Die Welt kennt ihre Namen. Was eine englische Zeitung über Churchill schrieb, gilt pars pro toto: „Was immer sein Platz in der Geschichte ist, sein Platz in der Sage ist ihm sicher.“ (Hier ergibt sich eine bezeichnende und manche irritierende Verbindung zum egomanischen Satz des Film-Achilles.) Einen Namen haben sich freilich auch Erfinder, Künstler, Philosophen, Baumeister, Weltumsegler, Kontinenterschließer oder Weltraumeroberer gemacht. Sind Imhotep, Leonardo da Vinci, Kolumbus, Bach, Shakespeare, Kant, Edison oder Amundsen etwa keine großen Männer gewesen? Selbstverständlich waren sie das. Aber man wird sie nicht direkt – Kolumbus und Amundsen vielleicht ausgenommen – als Helden bezeichnen. Außer dass der moderne demokratische Mensch beide gern wegdiskutieren möchte, haben der Held und das Genie wenig gemeinsam. Ein Held kann ein großer Dummkopf, ein Genie ein ausgemachter Feigling sein. Das Genie verteidigt letztlich nur sich selbst.
Wer aber würde das heutige deutsche Gemeinwesen im Ernstfall beschützen? Horst Köhler? Cem Özdemir? Michel Friedman? Boris und Ben Becker? Die Linkspartei? Der ADAC? Nein – natürlich die Bundeswehr!
Es gibt jedoch hinreichende Gründe zu der Annahme, dass auch Letztere zu dieser Aufgabe nur noch bedingt taugt. Die Truppe verfügt weder über ausreichend Waffen noch Geld, ihr fehlen überall Spezialisten, doch gemessen an ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit und der daraus resultierenden Kampfmoral ist die materielle Situation geradezu kommod. In Politik und Gesellschaft herrscht gegenüber der Bundeswehr eine Mischung aus Desinteresse und Geringschätzung, die seitens der Politiker in eine merkwürdige Verdruckstheit umschlägt, wenn ein Soldat im Kampfeinsatz getötet wird. Dasselbe Parlament, das die Auslandsmissionen beschließt, möchte mit den negativen Folgen möglichst nichts zu tun haben. Die Gesellschaft identifiziere sich ungern mit den Soldaten und sei nicht bereit, ihnen Rückhalt zu geben, klagt Reinhold Robbe, der Wehrbeauftragte des Bundestags, ein SPD-Mann übrigens. Die Gesellschaft glaubt auch nicht daran, dass es Feinde geben könnte und stellt schon Verwender des Begriffs unter Talkshow-Quaratäne. Im Kampf fürs Vaterland sterben – das ist hierzulande sowieso nicht mehr vermittelbar. Aber für den freien Welthandel oder die Bildungschancen muslimischer Frauen mag ein Bundeswehrsoldat so wenig sein Leben riskieren wie für die internationale Durchsetzung der Demokratie oder der Mülltrennung. Also bleiben die Ideale und der Tod des Soldaten eine rein armeeinterne Angelegenheit. Wie ausgerüstet und motiviert diese Truppe ist, interessiert den Durchschnittsbundesbürger ungefähr so sehr wie der Trainingszustand von Energie Cottbus.
Es ist kein Wunder, dass diese Gesellschaft mit militärischen Tugenden nichts anfangen kann. Unsere Auseinandersetzungen lassen wir von Anwälten führen. Wenn unsere Familie beleidigt wird, sind wir zwar ganz demonstrativ sauer, aber wir fordern den Beleidiger nicht zum Duell. Wenn uns jemand bedroht, rufen wir nach der Polizei. Wird unser Land beleidigt, hören wir weg oder stimmen zu. Wenn uns der Chef schikaniert, kündigen wir; ist es der Nachbar, ziehen wir um. Lieber den Schwanz einkneifen und keine Verletzungen oder Schlimmeres riskieren, als seine Würde verteidigen. Sie ist ja bereits im Grundgesetz verbrieft. Der postheroische, bindungslose Nihilist, in unserer Welt ein sehr häufige Typus, hat nichts zu verteidigen außer seinen Verbraucherrechten – die Freiheit interessiert die meisten Menschen ja nicht so sehr.
Wie man von Nietzsche gelernt hat, ist das Ressentiment schöpferisch: Der Feigling stellt sich wenigstens moralisch über den Starken. Da Feigheit nach wie vor keine Tugend ist, wurde sie zur Vernunft erhoben. Feigheit ist nichts Ehrenrühriges, sondern Lebensklugheit. „Feig aber glücklich“, hieß in den 80ern ein Buch, das den Feigling zum evolutionär erfolgreichen Konfliktvermeider und zum eigentlichen Normaltypus erklärte, der zudem noch ein angenehmes Leben führt.
Ein anderer Weg besteht darin, den Mut umzudefinieren. Die Zugehörigkeit zum Mainstream gilt plötzlich als Ausweis von Courage. Hierzulande darf sich mutig nennen oder gar wähnen, wer öffentlich „Gesicht zeigt gegen rechts“, worin ihn außer allen Medien, allen Bundestagsparteien, allen Gewerkschaften und Ministerien, der evangelischen Kirche, der Polizei, der Bundeswehrführung, den Universitäten, der Schule und dem DFB-Präsidium kaum jemand unterstützt. Auch im nachträglichen Kampf gegen Hitler sammeln sich viele Couragierte. So lärmte die sogenannte Wehrmachtsausstellung exakt zu jenem Zeitpunkt los, als auch der letzte Veteran das Greisenalter erreicht hatte. Der Hass etwa, der dem Schriftsteller Ernst Jünger aus dem grünen bis linksliberalen Milieu entgegenschlug, speiste sich auch aus dem mehr oder weniger bewussten Ressentiment der Feiglinge gegen den wegen seiner Tapferkeit vielfach ausgezeichneten Weltkriegsteilnehmer, der sich obendrein mit seinem Roman „Auf den Marmorklippen“ bereits gegen Hitler gestellt hatte, als der noch am Leben war – und der, angewidert vom nachträglichen Widerstand gegen den toten Diktator, sogar den impertinenten Stolz besaß, dies später zu bestreiten.
Dieser Kentaur aus Krieger und Autor hatte in den 1930er Jahren prognostiziert, der Letzte Mensch werde „notwendig im Kampf um den Lebensraum d i e Art der Tötung wählen“, die „am gefahrlosesten und erbärmlichsten“ sei: „den Angriff gegen die Ungeborenen“. Berechnungen von Statistikern zufolge korreliert das quantitative Schrumpfen der Deutschen exakt mit der Zahl der Abtreibungen. Vergleichbares gilt für alle europäischen Länder. Dieser Bevölkerungsschwund wird seit Jahren durch Einwanderung überwiegend minderqualifizierter, aber robuster Zweit- und Drittweltler ausgeglichen, deren etwas rustikalerer Art, Konflikte zu lösen, die alteingesessene Bevölkerung meist hilflos gegenübersteht. Womöglich gibt es tatsächlich, wie Jünger vermutete, eine Ökologie des Schmerzes: Wer sich zuviel davon ersparen will, bekommt es eines Tages heimgezahlt („Der Schmerz fordert seine Außenstände zurück“). Diese Gesellschaft häuft also nicht nur ungeheure finanzielle, sondern womöglich auch enorme Schmerzschulden für die Enkel an.
Es ist nur typisch, dass die Behauptung, Soldaten seien Mörder, ausgerechnet in jenem Land dahergetrötet wird und Gerichte beschäftigt, in dem nun wirklich kein einziger Soldat herumläuft, der jemanden ermordet hat oder Anstalten dazu macht oder Anstalten dazu macht, seine Berufsehre auch mal handfest zu verteidigen. Es ist das Land jener Mutigen, die entschiedener Nichtwiderstand zu Höchstleistungen anspornt.
Dennoch ist 2009 irgendwie ein deutsches Heldengedenkjahr mit dreifaltigem Anlass: Vor 2000 Jahren fand die Hermannsschlacht statt, vor 20 Jahren stürzten die friedlichen Revolutionäre in vor allem Leipzig das SED-Regime, und der Film „Valkyrie“ über den Hitler-Attentäter Claus Graf Schenk von Stauffenberg lief in diesem Frühjahr in den europäischen Kinos an. Alle zweieinhalb Jubiläen (im Falle des Hitler-Attentats käme man aufs halbe 65.) lassen sich immerhin von einer demokratischen Nation halbwegs guten Gewissens feiern, denn den Cheruskerfürsten, den bayerischen Adligen und die Leipziger Demonstranten verbindet das freiheitliche Motiv ihrer Taten. Wenn es um Freiheit und Widerstand gegen Diktatoren geht, darf der Held noch halbwegs einer sein.
Freilich dürfte es auf diesem Planeten eine hohe Zahl von Menschen geben, die Osama bin Laden und seine Al Kaida-Männer für heroische Widerstandskämpfer halten. Diese Leute könnten zum Beispiel darauf verweisen, dass Stauffenberg seine Bombe nur abstellte, um sich danach davonzustehlen, während muslimische Attentäter sich selber mit in die Luft jagen, was schließlich mutiger sei – aber im Westen gelten sowohl bin Laden als auch seine mobilen androiden Sprengsätze als „feige Terroristen“. In England und Amerika, feiert man wiederum die Bomberpiloten des Zweiten Weltkriegs, die deutsche und japanische Städte samt Hunderttausenden Zivilisten kremierten, aber auch jene, die unlängst unter anderem Bagdad bombardierten, als Kriegshelden, während diese Art der Kriegsführung bei denen auf der Erde als Gipfel der Feigheit gilt. Wobei der Historiker Jörg Friedrich darauf hingewiesen hat, dass für die alliierten Bomberbesatzungen über Deutschland das Risiko, beim Angriff umzukommen, prozentual wesentlich höher lag als für einen durchschnittlichen deutschen Stadtbewohner; feige darf man diese Burschen also nicht nennen (die über Bagdad dagegen brauchten mangels gegnerischer Flak nicht viel mehr Mut als ein Bungee-Springer).
Welche Perspektive ist nun die richtige? Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischem dem muslimischen und dem westlichen Kämpfer, und worin besteht er? In seinem Essay „Die Körper von Abu Ghraib“ behauptet der Kulturphilosoph Boris Groys, der Unterschied bestünde in der diametralen Wertschätzung von Leben und Würde. Während der islamische Terrorist bereit sei, sein Leben, aber niemals seine Würde preiszugeben, klammere sich der westliche Mensch so entschieden ans Leben, dass er „jederzeit und unter allen Umständen“ bereit sei, im Gegenzug „seine Würde zu verlieren und zu opfern“.
Die Kulturverantwortlichen, Intellektuellen und Medienbetreiber des Westens haben dafür seit langem die zeitgeistigen Voraussetzungen geschaffen. Man könne, so Groys, „die gesamte künstlerische Avantgarde ohne Weiteres als eine ständige Verunstaltung und Beschmutzung des würdigen Menschenbildes interpretieren“, und in der kommerzielen Massenkultur sei der „programmatische, kalkulierte Verlust der menschlichen Würde“ längst zum „Hauptverfahren“ geworden. Groys Pointe besteht darin, dass die Pyramiden nackter irakischer Gefangener vor zum Teil weiblichen GIs in westlichen Augen wie Amateuraufnahmen aus einem besonders exklusiven Swingerclub wirken, während aus muslimischer Perspektive die Beleidgung an Ungeheuerlichkeit nicht zu überbieten ist. Während der durchschnittlliche Mensch des Westens so sehr am Leben hängt, dass er sich weit lieber nackt zu Pyramiden stapeln lassen würde, als zu sterben, will der durchschnittliche Muslim lieber umgebracht als so gedemütigt werden.
Beide Weltsichten befinden sich derzeit im kriegerischen Konflikt, wobei die eine Seite bedeutend besser Waffen hat, die andere dafür entschlossenere Kombattanden. Es ist nicht sicher, ob es dem Westen gelingen wird, die heroischere von beiden durch Wohlstand und sexuelle Freizügigkeit zu korrumpieren und die Muslime kollektiv in die Gefilde der würdelos Seligen zu locken – zumal der Wohlstand womöglich nicht für alle reicht. Die totale technische Überlegenheit des Westens auf dem Schlachtfeld ist das eine. Es gibt eine zweite Front, sie verläuft auf den Straßen und Schulhöfen westlicher Städte, wo die Technik nichts nutzt und die sogenannte Zivilgesellschaft äußerst empfindlich ist. Wer die Auseinandersetzung mit Immigrantenkindern und ihren großen Brüdern scheut und lieber eine andere Schule und eine bessere Wohngegend für sich und seine Kinder sucht, ist zwar froh, dass aggressive Männlichkeit, Kinderreichtum und das Sich-gewaltsam-Durchsetzen hierzulande inzwischen als Unwerte gelten – aber wohin wird das führen? Dank Hitler ist der Otto-Normal-Deutsche beziehungsweise ‑Bundesbürger ohne allzu unmittelbaren Immigrationshintergrund zu jener Vernunft gelangt, die in der Kapitulation ihr Seelenheil findet und sich auch dann noch mit Litaneien von antirassistischer Toleranz und der Gleichwertigkeit aller Kulturen beschwichtigt, wenn die westlichen Werte im (bislang) eigenen Haus zur Disposition gestellt werden. Freilich: Wer wird für den anatolischen Einwanderersohn, der auf einer deutschen Straße rabiat das verteidigt, was er für seine lächerliche Ehre hält, nicht einen gewissen Respekt empfinden? Menschen seines Schlages werden derzeit weltweit am häufigsten geboren. Wenn nun wirklich Verteilungskrisen, Unruhen und Miniaturbürgerkriege ausbrechen: Wer wird dann im Vorteil sein?
Ehre, Würde, Stolz: Auch diese drei Begriffe haben im Laufe der Jahrhunderte ihre Bedeutung verändert, allerdings niemals im Kern. Sie haben lediglich an der gesellschaftlichen Wertebörse gegenüber dem Wohlleben den bereits erwähnten Kursverlust erlebt. Das bedeutet keineswegs, dass in der westlichen Welt Stolz und Würde ausgestorben seien. Ein guter Gradmesser für diese Eigenschaften ist die Opferbereitschaft. Es gibt auch kleine Helden, die jeden Tag ohne viel Aufhebens den Buckel krumm machen, damit es anderen gut geht. Dienen adelt. Unter all den Anwälten, Journalisten, Börsianern, Werbern, Fernsehlarven, Trendscouts und Marketing-Schwätzern, die unsere Gesellschaft in viel zu hohem Maße prägen, ist es freilich schwer, würdevolle Menschen zu entdecken. Und an die Stelle des würdevollen Greises ist der jugendliche Gebrechliche getreten.
Zu den Pikanterien unserer Zeit gehört, dass es einer der lächerlichsten Berufsgruppen, den Schauspielern, vorbehalten bleibt, auf der Leinwand jene übergroßen Charaktere zu simulieren, die in der Gesellschaft nicht mehr vorzukommen scheinen – und dass sie dadurch selber zu Idolen werden. Nicht, dass die Menschen nicht zwischen James Bond und seinem gerade aktuellen Darsteller unterscheiden könnten, aber eine merkwürdige unio mystica existiert zwischen beiden doch.
Zwar gibt es aus der Perspektive der meisten Zeitgenossen keine echten Helden mehr, aber das Bedürfnis nach Heldenverehrung ist offenbar im Menschen angelegt. Ob nun, in der kindischen US-Version, mit Super‑, Spider- oder Batman, ob mit Achilles oder Leonidas und seinen „300“ im gleichnamigen Film, ob mit Oskar Schindler oder Graf Stauffenberg, ob mit den tapferen Mordor-Bekämpfern im „Herr der Ringe“ oder mit John Rabe, dem „guten Deutschen von Nanking“: unentwegt sieht sich der Gegenwartsmensch mulitmedial mit Helden und Heldenmythen konfrontiert. Nicht minder unentwegt werden in der Realität Ersatzhelden geschaffen. Als Kehrseite des Egalitarismus hat sich der Starkult etabliert. Wenn alle gleich sind, helfen nur die Charts und die Bundesligatabelle weiter. Der Sieger im Sport und im Wettbewerb um die höchste Einschaltquote gilt heute als der Held und genießt den entsprechenden Status. Die bekanntesten Menschen der Welt sind Popstars, Schauspieler und Sportler. Sie opfern ihr Leben der Berühmtheit. Immerhin taucht unter Letzteren schon mal ein Schwergewichtsboxer oder ein Tour de France-Sieger auf, der für seinen Status wenigstens g e l i t t e n hat. In der Regel liegt aber die lukrative Nichtswürdigkeit des telegenen als-ob-Helden auf der Hand. Die Lebensleistung eines Popstars ist nichts, verglichen mit der eines beliebigen Altenpflegers in der Pflegestufe III. Man muss nur anschauen, wen oder was eine Gesellschaft aus welchen Gründen verehrt, um nahezu alles über sie zu wissen. Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat, so weit, so gut. Doch wie traurig das Land, das sich solche Imitate schafft.
Diese Betrachtung begann mit einer Anekdote, und sie soll mit einer schließen (dass es wieder um Franzosen geht, ist eher Zufall als Mangel an Chauvinismus). Louis Rossel war der einzige französische Berufsoffizier, der zur Pariser Kommune überlief, und zwar nicht, weil er Kommunist, sondern weil er Patriot war. 1870 im Winterkrieg wegen seiner hervorragenden Leistungen zum Oberst befördert, hatte er sich nach der Kapitulation von Metz der deutschen Gefangenschaft durch eine abenteuerliche Flucht entzogen. Am 19. März 1871 schrieb er aus Paris einen kurzen Brief an den Kriegsminister der Regierung Thiers, und dieser Brief verdiente es, in Stein gemeißelt zu werden: „Mon Général, da ich aus einer heute in Versailles veröffentlichten Depesche entnehme, dass zwei Parteien um die Herrschaft in diesem Lande kämpfen, zögere ich nicht, mich der Seite anzuschließen, in deren Reihen es keine kapitulierenden Generäle gibt.“ Der Mann, der dies schreibt, weiß genau, dass ein paar tausend spärlich bewaffnete Pariser Arbeiter nicht die geringste Chance haben werden gegen die Regierungstruppen, die nach der schmählichen Niederlage gegen die Deutschen eine Chance sehen, ihren Ruf wiederherzustellen. Und doch ist da dieser unbändige Stolz, der ihn zu Tat und Tod drängt. „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die unterlegene gefiel dem Cato“: das ist der Wahlspruch all derer, die zu stolz sind, sich den Machtverhältnissen anzupassen und lieber zugrundegehen. Die erfolgreiche Verteidigung von Paris in den ersten Wochen der Kommune war vor allem Rossels Werk. Hat er je geglaubt, das Jahr zu überleben? Rossel wurde, 25jährig, am 28. November 1871 hingerichtet. Wäre er kein Held gewesen, hätte er noch viele Jahre leben können.
Was soll dem Leser diese finale Geschichte sagen? Vielleicht, dass er mit dem Gedanken im Hinterkopf, welch hohen Einsatz andere gewagt haben, wenigstens beschließt, sich nie mehr von irgendwem in irgendein Bockshorn jagen zu lassen. Es gibt, wie der Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila festhielt, „immer Thermopylen, bei denen man sterben kann“.
Erschienen in: eigentümlich frei, Heft 92/Mai 2009, S. 18–26