Hitlers Kreuzzug gegen den Bolschewismus führte zur Stalinisierung halb Europas und zur Auslöschung des Deutschtums im Osten. Der Krieg erlebte einen weiteren grässlichen Höhepunkt
Als die Russen kamen, änderte sich wenig in Königsberg. Mit den Besatzern hielt lediglich ein gewisser Luxus Einzug. Sie veranstalteten Bälle, und ein paar Königsbergerinnen schlossen mit russischen Offizieren die Ehe. Das besondere Wohlwollen der Moskowiter galt der Universität. Viele Offiziere besuchten Vorlesungen, unter anderem jene des jungen Magisters Immanuel Kant.
So standen die Dinge anno 1758, während des Siebenjährigen Krieges. Knapp 200 Jahre später kamen wieder die Russen nach Ostpreußen. Diesmal war ihr Einmarsch zugleich Folge und Bestandteil einer Blutorgie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte — gemessen daran schienen die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts auf einem anderen Planeten stattgefunden zu haben.
Als im Oktober 1944 die ersten Verbände der Roten Armee deutsches Reichsgebiet betraten, „hub ein Rauben, Morden, Schänden und Metzeln an, das“, so der Berliner Historiker Jörg Friedrich, „auch neutralen Betrachtern die Vorstellung der altmongolischen Horde einflößte“.
Mord und Metzelei waren speziell an der Ostfront nichts Neues. Kein Volk hat unter dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besetzung derart gelitten wie das russische. Allein während der Belagerung Leningrads kamen ungefähr so viele Zivilisten um wie in Auschwitz. Jetzt setzte die Rote Armee auf die Gräuel dieses Krieges einen weiteren schaurigen Höhepunkt.
„In einem Gehöft erblickten wir 5 Kinder mit ihren Zungen auf einen großen Tisch angenagelt“, berichtete etwa ein Zeuge aus einem Dorf bei Heydekrug im Memelland, in das im Oktober 1944 Angehörige der 43. Armee der 1. Baltischen Front eingedrungen waren. Etwas später sah er „5 Mädchen, mit einer Leine zusammengebunden, die Kleidung fast vollständig entfernt und den Rücken stark aufgerissen. Es hatte den Anschein, als ob die Mädchen eine längere Strecke geschleift worden waren.“
Derartige Szenen wiederholten sich in den folgenden Monaten in zahllosen Dörfern und Städtchen Ost- und Westpreußens, Schlesiens und Pommerns. Metgethen zum Beispiel, ein Vorort Königsbergs, geriet am 29. Januar 1945 in russische Hand und wurde danach kurzzeitig von deutschen Truppen zurückerobert. Den Soldaten boten sich Bilder, wie sie kein Hieronymus Bosch hätte halluzinieren können. Auf einem freien Platz habe er „zwei Mädchen im Alter von ca. zwanzig Jahren“ gefunden, berichtete der Ordonanzoffizier Karl August Knorr, die „allem Anschein nach an beiden Füßen zwischen zwei Fahrzeuge gebunden gewesen waren und dann gewaltsam auseinandergerissen worden sind“. Aus einer nahe gelegenen Villa wurden „ca. 60 Frauen“ abtransportiert, die Hälfte davon nahe am Wahnsinn. „Sie waren durchschnittlich 60–70mal am Tage gebraucht worden.“ Im selben Ort fand der Wehrmachtshauptmann Hermann Sommer hinter einem Haus mehrere nackte Frauen- und Kinderleichen: Den Kindern waren entweder „der Schädel eingeschlagen oder die kleinen Körper mit zahllosen Bajonettstichen durchbohrt“ worden.
Als der Rotarmist und spätere Dissident Lew Kopelew in Ostpreußen einmarschierte, sah er als Erstes die Leiche einer alten Frau: „Ihr Kleid war zerrissen, zwischen ihren mageren Schenkeln stand ein Telefonapparat, der Hörer war ihr, so gut es ging, in die Scheide gestoßen.“ Den Versuch, deutsche Zivilisten fortan vor dem Wüten seiner Landsleute zu schützen, bezahlte Major Kopelew mit neun Jahren Haft im Gulag.
Wie zuvor zahllose russische Städte sank nun auch Immanuel Kants Königsberg in Schutt und Asche. Nur dem Grab des Philosophen widerfuhr Schonung; Stalin persönlich soll es angeordnet haben, vermutlich weil er irgendwo bei Marx und Engels gelesen hatte, dass Kant keine unbedeutende Größe sei. „Wir schwimmen inmitten eines Lavastroms, der sich von einem boshaften Stern auf die Erde ergießt“, beschrieb der Königsberger Arzt Hans Graf von Lehndorff den Einfall der Sieger. „Achtzigjährige Frauen sind vor ihnen ebensowenig sicher wie bewusstlose. Eine kopfverletzte Patientin von mir wurde unzählige Male vergewaltigt, ohne etwas davon zu wissen.“
Zwei sowjetische Heeresgruppen — die 2. und 3. Weißrussische Front — nahmen Ostpreußen im Winter 1945 von drei Seiten in die Zange. Zwar kämpften deutsche Einheiten angesichts der Gräuel verzweifelt weiter, aber die vor allem an Material hochüberlegene Rote Armee durchbrach alle Verteidigungslinien. Zurückströmende und sich sammelnde deutsche Truppenteile vermengten sich mit der planlos fliehenden Zivilbevölkerung und verstopften die Straßen. Die russischen Tiefflieger fanden leichte Ziele, während Sowjettanks Flüchtlingstrecks überrollten und zusammenschossen.
Obendrein war der Winter 1945 bitterkalt. An den Straßen lagen froststarre Säuglingsleichen. Nachdem sich die Zwinge um Ostpreußen geschlossen hatte und der Weg nach Westen versperrt war, strömten die Menschen zur Küste, um sich über die Ostsee zu retten. Einer Mutter waren, als sie die Mitte des zugefrorenen Frischen Haffs erreicht hatte, „bereits zwei Kinder erfroren, die sie einfach liegen lassen musste“, beobachtete der ebenfalls fliehende protestantische Geistliche Paul Bernecker, „mit den anderen beiden Kindern zog sie weiter, als sie jedoch in der Nähe der Nehrung war, waren auch diese beiden erfroren.“
Der Kommandeur der Heeresgruppe Mitte, Generaloberst Hans Georg Reinhardt, hatte das Flüchtlingsdrama vorausgesehen und Hitler rechtzeitig gebeten, die Zivilbevölkerung in Sicherheit bringen zu dürfen. Hitler lehnte ab. Wenn irgendetwas seine Tage noch verlängern konnte, „dann“, so Weltkriegshistoriker Friedrich, „sowjetische Greuel“ (drei Jahre vorher hatte dieselbe perverse Logik, nur umgekehrt aus Stalins Sicht, gegolten). Während Preußen agonierte, phantasierte sich der Zerstörer jenes Rechtsstaats, den Friedrich der Große geschaffen hatte, in die Rolle von dessen Wiedergänger. Die „stoisch-philosophische Haltung“, die „der Führer heute einnimmt“, erinnere ihn „stark“ an den Preußenkönig, notierte Propagandaminister Joseph Goebbels. Während sie Hekatomben von Zivilisten und Soldaten für sich sterben ließen, hofften die beiden im Berliner Bunker auf ein Zerbrechen der Feindkoalition, wie es Friedrich während des Siebenjährigen Krieges 1762 in aussichtsloser Lage gerettet hatte.
Die Durchhaltebefehle seines Führers setzte Ostpreußens Gauleiter Erich Koch in die Tat um. Bis zuletzt verhinderte er eine Evakuierung und drohte, wer nur davon spreche, werde als Verräter behandelt. Für sich selbst hatte er freilich vorgesorgt: Zwei Eisbrecher lagen bereit. Mit der halb leeren „Ostpreußen“ verließ Koch samt Entourage am 23. April Pillau — ohne Flüchtlinge mitzunehmen.
Wer nicht floh, erlitt die Schrecken der Besatzungsherrschaft: Vergewaltigung, Raub, Vertreibung. Der letzte Witz, den diese Provinz hervorbrachte, betraf den Plünder- und Demoliereifer der Russen: „Wenn sie unser Mobiliar in Ruhe lassen würden, könnten sie längst in Berlin stehen.“ Während das notorische „Frau komm!“ zum geflügelten Wort wurde (schließlich spielten sogar die Kinder „Vergewaltigen“), deportierten die neuen Herrscher Tausende arbeitsfähige Männer zum Wiederaufbau in die Sowjetunion.
Gemeinhin wertet man die Verbrechen der Roten Armee als Vergeltung für die deutschen Untaten in der Sowjetunion — und wer wird diese Ursache leugnen wollen? Allerdings führten sich die Sowjettruppen in den Ländern, die sie von den Nazis „befreiten“, ebenfalls wie Barbaren auf, sie plünderten und vergewaltigten im Baltikum genauso wie auf dem Balkan, und als sich der jugoslawische Kommunist Milovan Djilas bei Stalin darüber beschwerte, fragte der, was denn schon dabei sei, wenn sich ein Soldat „mit einer Frau amüsiert, nach all den Schrecknissen“.
Ähnlich wüteten die Sieger gegen eigene Landsleute. Rotarmisten, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren und diese überlebt hatten, galten gemäß Stalins Befehl Nr. 270 vom August 1941 als Vaterlandsverräter — die meisten verschwanden im Gulag, manche wurden sofort erschossen. Im Rücken der Roten Armee operierten, den Einsatzgruppen der SS vergleichbar, die Verschleppungs- und Genickschusskommandos des Inlandsgeheimdienstes NKWD. Bereits 1939, als Stalin sich mit Hitler Polen teilte, und 1940, als er das Baltikum annektierte, hatten NKWD-Männer dort Zehntausende vermeintliche „Konterrevolutionäre“ ermordet. Nunmehr säuberten sie das zurückeroberte sowjetische Gebiet von ganzen zu Kollaborateuren ernannten Völkerschaften. Wolgadeutsche, Krimtataren, Tschetschenen und Angehörige anderer Ethnien wurden nach Sibirien und Kasachstan deportiert und dort ihrem Schicksal überlassen; mehrere Hunderttausend kamen dabei um.
Den Völkermord-Routinier im Kreml leiteten allein geopolitische Motive; die individuellen Rachebedürfnisse seiner Soldaten haben Stalin nie interessiert. Dazu, sich besonders im deutschen Osten wie eine Tatarenhorde aufzuführen, waren sie massiv angestiftet worden. Die „historische Mission“ der Sowjetarmee, leitartikelte zum Beispiel Stalins Chefpropagandist Ilja Ehrenburg am 3. März 1945, „besteht bescheiden und ehrenwert darin, die Bevölkerung von Deutschland zu vermindern“.
Der Raserei gegen die Zivilbevölkerung vorangegangen war die „Raserei auf der Landkarte“ (so der Autor Wolf Jobst Siedler). Bei der Jalta-Konferenz im Feburar 1945 hatten Stalin und seine Verhandlungspartner, US-Präsident Roosevelt und Englands Premier Churchill, endgültig festgelegt, wie sich die Grenzen in Osteuropa nach dem Krieg verschieben würden. Er habe beim Einmarsch in Ostpreußen bereits gewusst, notierte Zeitzeuge Kopelew, „dass Polen und wir das Land behalten würden“.
Je mehr Schrecken die Rote Armee verbreitete, so Stalins Kalkül, desto mehr Deutsche würden bis zum Kriegsende fliehen. Bedenken, es könne im Rumpfdeutschland zu einer Überbevölkerung kommen, zerstreute der Kreml-Autokrat mit den Worten, ein paar Millionen Deutsche seien ja bereits tot, und bis alles vorüber sei, werde wohl noch eine Million dazukommen.
Im Falle Ostpreußens war Stalins Ziel gewissermaßen ein leeres Land. Er kam dem bedrohlich nahe. „Die Katastrophe, die über dieses Gebiet mit dem Einzug der sowjetischen Truppen hereinbrach, hat in der modernen europäischen Geschichte keine Parallele“, notierte der US-Diplomat George F. Kennan. „Ich selbst flog mit einer amerikanischen Maschine in geringer Höhe über die gesamte Provinz, und es bot sich mir der Anblick eines vollständig in Trümmern liegenden und verlassenen Gebietes: von einem Ende bis zum anderen kaum ein Zeichen von Leben.“ Von ursprünglich 2,38 Millionen Ostpreußen lebten 1950 noch 160000 in ihrer ehemaligen Heimat.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Deutsche Reich den sogenannten „polnischen Korridor“ abtreten müssen. 1945 beanspruchte Stalin das deutsche Gebiet bis zur Oder — mit Ausnahme des Königsberger Raumes — für Polen, dafür blieb das 1939 von ihm besetzte Ostpolen russisch (das wiederum 1921 von Polen annektiert worden war). Insgesamt wurden nach dem Zweiten Weltkrieg 16,5 Millionen Deutsche aus Osteuropa vertrieben, etwa zwei Millionen kamen dabei um. 700 Jahre deutsche Kultur waren damit ausgelöscht.
Wie schon für den Ersten Weltkrieg zahlte Preußen auch diesmal die Zeche, nunmehr mit seinem totalen Untergang. Einen seltsamen Akt von Leichenschändung veranstaltete der Alliierte Kontrollrat im Februar 1947, indem er den längst nicht mehr bestehenden Staat nachträglich für aufgelöst erklärte — mit der Begründung, Preußen sei „seit jeher der Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“ (später haben Historiker ausgerechnet, dass England, Frankreich und Russland zwischen 1701 und 1933 jeweils ungefähr dreimal so oft Krieg führten wie Preußen bzw. Preußen-Deutschland). Es war ein Untergang in stummer Würde. „Aufrechnung hilft nicht weiter; Gedanken an Rache machen alles noch viel schlimmer“, zog der Publizist Sebastin Haffner Resümee. „Irgendeiner muss die Seelengröße aufbringen zu sagen: ‚Es ist genug.’ Dass sie dazu fähig gewesen sind, ist ein Ruhmestitel, den keiner den vertriebenen Preußen nehmen kann.“
Erschienen in: Focus 07/2005, S. 72 – 76
Nachtrag vom 21. Oktober 2011: Inzwischen ist mir durch eingehendere Beschäftigung mit der Geschichte des Siebenjährigen Krieges klar geworden, dass verschiedene russische Truppenteile (vornehmlich Kosaken) auch damals schon erhebliche Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung begangen haben; insofern mag der Einstieg zu diesem Artikel nicht ganz glücklich gewählt sein.