Am 27. Januar 1945 erreichte die Rote Armee Auschwitz. Die Welt konnte erfahren, was sich im größten Nazi-KZ abgespielt hatte
Am Spätnachmittag des 3. April 1945 vollzog sich in der Berliner Reichskanzlei eine gespenstische Szene. Helmut Sündermann, stellvertretender Reichspressechef, passte Ernst Kaltenbrunner ab, den Chef des Reichssicherheitshauptamts, um ihn auf die russischen Meldungen über das Konzentrationslager Auschwitz und „die dringende Notwendigkeit eines überzeugenden Dementis“ hinzuweisen. „Kaltenbrunner“, schreibt Sündermann in seinen Memoiren, „sah mich mit einem mir unvergesslichen, halb finsteren, halb traurigen Blick an und sagte langsam: ‚Da ist nichts zu dementieren.’“
Seit dem 27. Januar befand sich Auschwitz in den Händen der Sowjets. Das Nahen der Ersten Ukrainischen Front hatte die SS-Wachmannschaft vertrieben; anders als ihre Kollegen von der Waffen-SS waren die Schinder der Totenkopfverbände auf bewaffnete Gegner nicht eingestellt. So hatten sie bereits am 18. Januar alle gehfähigen Häftlinge des Lagers — etwa 58000 — zum Todesmarsch gen Westen zusammengetrieben. Etwa 7500 Kranke blieben zurück. „Man hätte sie gerne in letzter Minute erschossen, aber die Angst steckte schon allen SS-Führern in den Knien, und keiner wagte, den Befehl zu erteilen“, gab der Unterscharführer Pery Broad 1946 zu Protokoll.
„Zehn Tage lang waren wir im Niemandsland, und meine Mutter fütterte mich mit Schnee. Dann“, erinnert sich eine Überlebende, „kamen die Russen.“
In Auschwitz-Birkenau fanden sie neben den gesprengten Überresten der vier Krematorien Berge von Menschenhaaren, Brillen, Prothesen, Schuhen sowie Abertausende Herrenanzüge und Damenkleider. Die Sowjets erkannten, dass sie eine gigantische Menschenvernichtungsmühle entdeckt hatten.
In Auschwitz starben viereinhalb Jahre lang Menschen unter entsetzlichen Umständen. Zwei Beispiele:
– Wieslaw Kielar (Häftling Nr. 290) wurde wegen eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung zu 20 Nächten Stehbunker verurteilt (andere wurden dafür erschlagen). Diese unterirdischen Stehzellen hatten eine Grundfläche von jeweils einem knappen Quadratmeter. Seine erste Nacht beschreibt Kielar so: „Es war nicht leicht, sich zwischen drei Menschen zu schieben, die auf so kleiner Fläche zusammengedrängt waren .… In der undurchdringlichen Dunkelheit spürte ich auf der Höhe meines Gesichtes den verbrauchten Atem der drei übrigen Leidensgenossen. Einer von ihnen atmete besonders schwer und wimmerte von Zeit zu Zeit mit schwacher Stimme ‚Wasser! Essen!’.“ Wie Kielar erfuhr, waren die drei wegen eines angeblichen Fluchtversuchs seit zwei Tagen so eingesperrt. Im Gegensatz zu ihnen durfte er die Zelle am nächsten Morgen wieder verlassen. Der schwächste der drei war in der Nacht gestorben; Kielar zog ihn hinter sich aus der Zelle. “‚Nur einer?’, fragte erstaunt der Blockführer.“
– Die einundzwanzigjährige Ruth Elias (Häftling Nr. 73643) kam schwanger ins Birkenauer Frauenlager, wo sich der sogenannte Lagerarzt Josef Mengele für ihre Leibesfrucht zu interessieren begann. Nachdem sie — mitten in der Baracke — entbunden hatte, „rief er eine Ärztin heran und gab den Auftrag, meine Brust ganz fest zu bandagieren“. Niemand wusste, wozu. „Nur eine einzige von meinen Mithäftlingen sprach die richtige Vermutung aus: ‚Er will einen Versuch machen, wie lange ein Neugeborenes ohne Essen aushalten kann.’“ Mehrere Tage schrie und wimmerte der Winzling, dann brachte die verzweifelte Mutter ihr Baby um: „Ja, Herr Dr. Mengele, Sie haben mich zur Kindsmörderin gemacht. Ich habe mein eigenes Kind gemordet.“ — —
Das KZ Auschwitz existierte seit Juni 1940. Ursprünglich war es als Gefängnis für polnische Oppositionelle errichtet worden, zugleich nutzte die Geheime Staatspolizei den Ort als unauffällige Hinrichtungsstätte. Eine Zeit lang waren 15000 sowjetische Kriegsgefangene hier eingesperrt (fast alle kamen um), vornehmlich aber war Auschwitz ein Zwangsarbeiter-Reservoir, das Sklaven insbesondere für die Errichtung des riesigen Kunstkautschuk-Werkes im benachbarten Monowitz stellte, wo man aus deren Überlebenswillen das letzte Quäntchen Kraft presste. Anfang 1942 wurde Auschwitz II Birkenau fertiggestellt, eine endlose Einöde aus Baracken und Stacheldraht, die nach dem Willen des Reichsführers SS Heinrich Himmler 100000, zeitweise sogar 200000 Häftlinge fassen sollte. Jeder Gefangene erhielt „einen ‚privaten’ Raum, welcher der Fläche eines großen Sarges entsprach“, schreiben die Auschwitz-Forscher Robert-Jan van Pelt und Debórah Dwork. „Dort war die Zeit anders als hier auf der Erde”, sagte der Häftling Jehiel Dinur.
In den beiden Lagern wurden 405000 Registriernummern ausgegeben und in Unterarme tätowiert. Von diesen Häftlingen starben ungefähr 126000 an Seuchen, Hunger, bei der Zwangsarbeit, wurden auf der Krankenstation mit Phenolinjektionen ins Herz „abgespritzt“, von Kapos und Wachmännern zu Tode geprügelt. Das war die eine Seite von Auschwitz — sozusagen die individuelle Tötung.
Die andere, kollektive Version begann im Dezember 1941 mit einer „Probevergasung“ von Kranken und sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie spielte sich fast ausschließlich in Birkenau ab und ist ein Musterbeispiel für die sukzessive Radikalisierung des NS-Terrors unter dem Druck himmlerscher Vorgaben, nachdem durch den Krieg immer mehr Juden in den Machtbereich der Nationalsozialisten gerieten. „Die SS-Führer selbst ahnten 1940 noch nicht, was sie 1944 tun würden“ (van Pelt).
Was sie taten, beschreibt beispielsweise der österreichische Psychologe Viktor Frankl (Häftling Nr. 119104). Er kam 1944 nach Birkenau und wurde für arbeitstauglich befunden. Bei schon länger eingesperrten Mithäftlingen erkundigte er sich unmittelbar nach der Ankunft, ob sie wüssten, wo sein Freund P. abgeblieben sei. „Eine Hand zeigt zu einem wenige hundert Meter entfernten Schlot. ‚Dort schwebt dein Freund in den Himmel’, gibt man mir roh zur Antwort. Noch immer verstehe ich nicht; bald aber beginne ich zu verstehen — sobald man mich ‚einweiht’.“ Frankl: „Ich machte einen Strich unter mein gesamtes bisheriges Leben.“
Es liegt in der Natur dieses Vernichtungsvorgangs, dass er keine unmittelbaren Zeugen hinterlässt — es sei denn, auf Täterseite und bei überlebenden Häftlingen der Sonderkommandos, die zum Entleeren der Gaskammern und Verbrennen der Leichen gezwungen wurden. „Ich erlebte auch, dass eine Frau aus der Kammer beim Zumachen ihre Kinder herausschieben wollte und weinend rief: ‚Lasst doch wenigstens meine lieben Kinder am Leben.’ So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden nahegingen.“ Diese Sätze schrieb Rudolf Höß, Auschwitz-Kommandant von 1940 bis 1943, gehenkt im Angesicht des Lagers am 16. April 1947. Solche Gefühle kamen Höß freilich „wie Verrat am Führer“ vor. Zur selben Zeit, als Menschen zu Tausenden ermordet wurden, spielte die SS Normalität; Standortbefehle widmeten sich Fahrradstellplätzen oder untersagten das „Abreißen von frischem Laub und blühenden Zweigen“ …
Wie viele Menschen an diesem Schreckensort umkamen, ist nie restlos zu klären. Bei den bis 1990 gedenkstättenoffiziellen vier Millionen Opfern, im Westen von Anbeginn bezweifelt, handelte es sich um eine Phantasiezahl der sowjetischen Ermittlungskommission, geprägt wohl von den Schrecken des Krieges und der Erfahrung des eigenen Völkerschlachthauses. Lagerchef Höß nannte in Nürnberg 2,5 Millionen Ermordete, korrigierte sich später auf ungefähr 1,13 Millionen.
In dieser Dimension bewegen sich auch die Schätzungen von Holocaust-Forschern wie Raul Hilberg oder Franciszek Piper, die jeweils über eine Million Opfer nennen. Der französische Auschwitz-Experte Jean-Claude Pressac ermittelte 631000 bis 711000 Tote, darunter 470000 bis 550000 „in den Gaskammern umgekommene Juden“. Der Politologe Fritjof Meyer, langjähriger Osteuropa-Reporter des „Spiegel“, veröffentlichte zuletzt eine Studie, die auf insgesamt 510000 Opfer kommt, aber in der Fachwelt vehement kritisiert wird. Neben Juden starben in Auschwitz Abertausende nicht jüdische Polen, Roma, Sinti und sowjetische Kriegsgefangene. Für sie alle galt, was ein Leidensgenosse des Häftlings Wieslaw Kielar auf die fatale Formel brachte: „So oder so Krematorium.“
Nach 1945 ist wiederholt die Frage aufgeworfen worden, wie mit solchen Schandtaten nachträglich umzugehen sei. Die Antwortversuche reichten vom Diktum des Philosophen Theodor W. Adorno, man dürfe nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben, bis zum trotzigen Plädoyer des Schriftstellers Martin Walser, die so genannte Vergangenheitsbewältigung aus der öffentlichen Ritualisierung ins Privatgewissen zu überführen.
Wie es indes die Mehrzahl der Menschen hielt und hält und vermutlich gar nicht anders halten kann, hat der Dichter Vladimir Nabokov in seinem Roman „Pnin“ (1957) beschrieben. Dort versucht die männliche Hauptfigur, ein aus Russland stammender Professor, nie an seine Jugendliebe Mira zu denken, da er „vom Gewissen und also auch vom Bewusstsein nicht erwarten konnte, dass sie in einer Welt fortdauern, in der so etwas wie Miras Tod möglich war. Man mußte vergessen — weil man nicht mit dem Gedanken leben konnte, dass diese anmutige, zerbrechliche, zarte junge Frau mit diesen Augen, diesem Lächeln per Viehwagen in ein Vernichtungslager geschafft und mit einer Phenolinjektion ins Herz gemordet worden war, in dieses sanfte Herz, das man unter seinen Lippen im Dämmer der Vergangenheit pochen gehört hatte …“
Erschienen in Focus 03/2005, S. 68 – 70