Sein Buch über Deutschland im Bombenkrieg machte Jörg Friedrich berühmt — und auch ein bisschen berüchtigt
Eigentlich ist Jörg Friedrich ja Schallplattensammler. Das will einiges heißen bei einem Mann, der nach jahrelangen Recherchen dicke Bücher über die Kriegsführung im 20. Jahrhundert schreibt, von denen eines zum erfolgreichsten Werk eines deutschen Historikers seit Joachim Fests Welterfolg „Hitler“ avancierte. Und dessen Bibliothek circa 20000 Bände zählt. Aber die Platten schlagen denn doch alles.
An die 40000 hat der Bombenkriegshistoriker in einer seiner drei Berliner Altbauwohnungen gehortet, darunter 10000 aus dem hochsoliden Schellack, überdies 8000 CDs, natürlich durchweg Klassik. „Diese Schellackplatten werden noch da sein, wenn alle CDs zu Staub zerfallen sind“, orakelt Friedrich. Beispielsweise die „Tosca“-Gesamtaufnahme von 1938 mit Beniamino Gigli und Maria Caniglia, so groß und schwer wie eine Gehwegplatte. In allen Zimmern stapeln sich Bücher und Schallplatten bis zur Decke. Eine Bombe, die auf dieses Haus fiele, müsste nicht sonderlich stark sein, um Friedrichs Fußboden zum Nachgeben zu zwingen.
Dass sich in seiner Gegenwart solche Assoziationen einstellen, ist der gebürtige Tiroler inzwischen wohl gewohnt. Bekannt und durchaus auch berüchtigt wurde Friedrich schließlich mit seinem Buch „Der Brand“, das 2002 erschien und das Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung im Bombenkrieg beschreibt. An die 300000 Exemplare hat er allein in Deutschland verkauft, und an diesem Tag erhält er die Nachricht, dass die japanische Ausgabe unter Dach und Fach ist. Womit jener Brand, der Deutschlands Innenstädte verzehrte, in zwölf Sprachen getragen wäre.
Manchen passt das nicht. Die einen blockieren oder stören seine Lesungen. Sie tragen Transparente, auf denen „Deutsche Täter sind keine Opfer“ oder „Bomber Harris, do it again!“ steht. Andere reden bloß nicht mehr mit ihm oder weigern sich, ihm vor Podiumsdiskussionen die Hand zu geben. Dergleichen, so Friedrich, geschehe aber nur in Deutschland — bei seinen ausländischen Auftritten habe er zwar stets harte Diskussionen durchstehen müssen, aber nicht einmal sei er attackiert worden. Als „Strafsyndrom“ bezeichnet er das. „Die Deutschen nehmen von ihrer hoch entwickelten Mitleidskultur ein einziges Volk der Welt aus: das deutsche.“ Für sich privat trügen Abertausende die Erinnerung an die Bombennächte mit sich, aber die Nation als ganze „beruhigt sich mit der wahrlich ermüdenden Ideologie des himmlischen Strafgerichts bei gleichzeitiger Identifikation mit allen anderen Bombengestraften dieser Welt“. Regelmäßig treffe er auf Menschen, die jene quasi offizielle Version von der gerechten Strafe für die NS-Verbrechen daherbeteten, aber dann, im privaten Gespräch, davon erzählten, wie es damals den Wolfgang erwischt habe und wie die Hilde gerade noch davongekommen sei — gespaltene Persönlichkeiten, halb Kreon, halb Antigone.
„Aber lassen Sie uns doch lieber über Musik reden und nicht immer über diesen Krieg“, sagt Friedrich, „oder besser: Musik hören.“ Georges Thill zum Beispiel mit der 1927 aufgenommenen Arie „Salut! Demeure chaste et pure“ aus Gounods „Faust“, das hohe C am Schluss aus Brust- und Kopfstimme wundersam gemischt und im Piano („Haben Sie so einen Ton schon mal gehört?“). Oder das Quintett aus den „Meistersingern“, London 1931, unter John Barbirolli, mit dem überirdischen Einsatz von Lauritz Melchior. „Im Grunde ist es Totenbeschwörung“, sinniert Friedrich, als der beeindruckende Tonarm sich mit der Behutsamkeit einer landenden Libelle auf die Platte senkt. „Diese Menschen sind lange tot, und nun betreten sie über eine Abtastnadel das Zimmer.“
Mit seinem Buch — und dem Nachfolge-Bildband „Brandstätten“ — hat der multiple Totenbeschwörer also jene Wunden aufgerissen, die der herrschende Post-68er-Zeitgeist rüde zugepflastert hatte. Im März 2003 etwa kam es bei einer Lesung in Göttingen zu Tumulten. Eine Horde junger „Antifaschisten“ hatte den Haupteingang der Buchhandlung blockiert, und der Autor musste durch den Lieferanteneingang hineingehen. Dort rief er dann „Wehret den Anfängen!“ ins Mikrofon und forderte jene, die schon drinnen waren, auf, mit ihm den Haupteingang freizukämpfen. Er habe versucht, mit den Blockierern zu reden, so Friedrich, aber offenbar habe keiner von denen sein Buch auch nur in der Hand gehalten. Dann sei es zu „einigen Rangeleien“ gekommen mit dem Resultat, dass die Lesung vor all denen stattfinden konnte, die sie hören wollten. Solches Verhalten nennt man gemeinhin Zivilcourage.
In Sachen Straßenkampf besitzt Friedrich von langer Hand Erfahrung. Anno 1968 führte er die Westberliner „Gruppe Internationale Marxisten“ an und ins Treffen, eine Sektion der Trotzkistischen Internationale. Die Universität war für ihn keineswegs ein Ort, wo man studierte, sondern wo man Vorlesungen sprengte. Schon damals hatte es Friedrich mit der Kunst: So warf er eine Stinkbombe in eine Arno-Breker-Ausstellung, und die Pianistin Martha Argerich forderte er auf, sie möge lieber vor Arbeitern spielen statt vor dekadenten Bürgern. Es steckt eine gewisse Gerechtigkeit in der Tatsache, dass nunmehr seine Veranstaltungen gestört werden.
Der Autor des Buches „Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik“ und Mitarbeiter an der „Enzyklopädie des Holocaust“ gilt heute als linker Renegat. Beinahe wäre er geendet wie der Historiker Ernst Nolte, dieser „grandiose Gelehrte, dessen Ansichten ich nicht teile“. Man habe versucht, ihn gleich Nolte zum „Unberührbaren“ zu machen, sagt Friedrich. In einem Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung“ im Januar 2005 etwa, dessen Autor ihn als Stichwortgeber der NPD denunzierte („Was der Buchautor Friedrich nur verbal gemacht hat, setzen die Neonazis von Dresden mit substantieller Gemeinheit fort“). Als eine Berliner Tageszeitung behauptete, er habe Churchill als „größten Kindermörder der Geschichte“ bezeichnet, spürte der Historiker die Schlinge des Holocaustleugnungs-Paragraphen und beauftragte einen Anwalt (tatsächlich hatte er den britischen Premier als „größten Kindermörder der englischen Geschichte“ bezeichnet …). Warum er heute nicht als Verfemter inmitten seiner Platten und Bücher sitzt, erklärt er sich mit der kolossalen Resonanz im In- und Ausland, bis nach Brasilien und Indien. „Wir haben an manchen Tagen ein paar tausend Bücher verkauft; man konnte unmöglich behaupten, die Käufer seien alles Nazis.“
Bei einer Lesung in London im Februar 2007 kommt es zu einer eindrucksvollen Szene. Der Vorsitzende des Veteranenverbands der Air Force schüttelt dem Mann die Hand, der Zeugnis von den Gräueln ablegt, welche die britische Luftwaffe am Boden angerichtet hat. Warum? Weil Friedrich geschrieben hat, dass die mit Abstand höchste Wahrscheinlichkeit, im Luftkrieg umzukommen, für die Bomberbesatzungen bestanden hatte. Weil er schildert, dass diese jungen Burschen vor Todesangst überhaupt nicht daran dachten, was dort unten passiert, dass sie in ihren fliegenden Särgen nur ein Ziel hatten: die Bomben abwerfen — und weg! Weil er, mit einem Wort, auch die andere Seite nicht vergessen hat.
Das „primitivste Gebot der Fairness“ nennt Friedrich das. „Wenn ich die Gegenseite nicht darstellte, würde ich mir als Propagandist vorkommen.“ Das ist auch der Grund, warum er über gewisse ZDF-Weltkriegsdokumentationen den Kopf schüttelt: Der Gegner der Wehrmacht kommt nie vor. Die andere Seite hat am Schrecken keinen Anteil — „Krieg im Vakuum gegen einen nicht vorhandenen Herrn Stalin“, wie Friedrich spöttelt.
Neben der literarischen Sprache besteht das Hauptmerkmal seiner Bücher in dieser Multiperspektivität. Der Wahlberliner ist ein Geschichts-Erzähler uralten ideologiefreien Schlags. In seinem neuen Buch „Yalu“, das den Beginn des nuklearen Wettrüstens und den Koreakrieg zum Gegenstand hat, treibt er den ständigen Perspektivenwechsel so weit, dass eine Rezensentin rügen zu müssen glaubte, man erfahre nicht, „was eigentlich Friedrichs Standpunkt ist“. Das kennt der Autor noch aus seiner Jugend, nur mit dem Vorsatz „Klassen-“…
Am Yalu, dem Grenzfluss zwischen Korea und China, stieß die imperiale Gestaltung des Planeten durch den Westen 1950 an ihre Grenze. Für China begann dort nach kolonialer Demütigung die nationale Wiedererstehung unter dem Massenmörder Mao. „Der Mut, mit dem die Chinesen einem Atomkrieg ins Auge gesehen und gesagt haben, 20 Millionen Tote halten wir aus, das passt doch in kein Gut-Böse-Schema. Das braucht meinen Kommentar nicht“, erläutert Friedrich den einzig angemessenen Standpunkt. „Yalu“ erzählt unter anderem vom amerikanischen Luftkrieg über Nordkorea, der an die drei Millionen Zivilisten umbrachte — eine gewisse Zumutung für diejenigen, die die Bombardierung Nazi-Deutschlands für ein ethisches Strafgericht halten und nicht für eine Zwischenstufe auf der Eskalationsskala des totalen Krieges. Amerika als „Befreier“ kennt man in Asien nicht.
Friedrichs Meisterwerk indes heißt „Das Gesetz des Krieges“, ein Tausendseiter über den deutschen Russlandfeldzug, basierend auf dem Gerichtsverfahren gegen das Oberkommando der Wehrmacht. Darin meißelt der moderne Tacitus Passagen wie: „Einmal am Westufer verankert, konzentrierte sich die sowjetische Streitmacht auf das alte Kiew, die ‚Mutter der russischen Städte’, südlich bewacht von einem respektablen Hindernis, Hoths 4. Panzerarmee. Wie schon so oft, lag auf dieser allgegenwärtigen Einheit die Wucht des gegnerischen Hauptstoßes. Sie hatte innerhalb von zwölf Monaten das Donezbecken erkämpft, Rostow genommen, den Kaukasus befahren, den Stoß auf Stalingrad geführt, den Kessel durchgestanden, die Entsatzoperation bestritten, die sowjetische Gegenoffensive pariert, den Kursker Bogen durchstochen und den prasselnden Glutofen von Prochorowka überlebt. Hier, vor Kiew, sollte Watutin sie für immer zu Schrott einstampfen. Notdürftig war die schüttere Armee mit aus Griechenland und Frankreich herbeigezogenen Divisionen ausgestopft worden. Ihre wie immer eindrucksvolle Darbietung war zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel.“
Damals begann die Kritik an Friedrichs elaboriertem Schreibstil. Seine Sprache sei dem Ernst eines Krieges nicht angemessen, heißt es nun über „Yalu“. „Die halbe Infanterie wurde gestellt von den zwei Untergruppen der Intelligenztests, den Analphabeten und den Halbanalphabeten“, steht dort geschrieben, oder: „MacArthur weilte neunzig Minuten auf dem Flugplatz von Taegu und versorgte Walker mit Redensarten; die Mannschaften sollten sich in den Boden krallen.“ Man kann einen Krieg auf vielerlei Art schildern, Friedrich bevorzugt bisweilen die sarkastische — ein durchaus angemessenes Verfahren, wenn man von Leuten erzählt, die Leben im siebenstelligen Bereich auslöschten und mit dem Gedanken liebäugelten, den achtstelligen zu erreichen.
Diesem Sarkasmus verdankt sich immerhin auch das denkbar verächtlichste Urteil über die SS-Killerkommandos in Russland. „Der Truppe den Rücken freizuhalten, waren die Einsatzgruppen lächerlich ungeeignet“, heißt es im „Gesetz des Krieges“. „Hätten sich die Kommandos mit versprengten Rotarmisten, NKWD-Nestern und Partisanen gemessen, würden sie den August nicht überlebt haben. Solche Unternehmen bestritten eigene Stäbe für Partisanenbekämpfung oder die Feldgendarmerie. Dem SD traute niemand eine Feindberührung zu.“ Wer Friedrichs Studie über den Russland-Feldzug gelesen hat, ist übrigens bestens präpariert für die Lektüre von Jonathan Littells Weltkriegs-Epos „Die Wohlgesinnten“; der ganze Littel steckt bereits in diesem Werk.
„Aber wollen wir nicht noch eine Platte hören?“, fragt Friedrich. Sena Jurinac etwa, die kroatische Sopranistin, die er über alles liebt, mit der Brief-Szene der Tatjana aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“ — „das ganze Wesen der Frau in knapp 15 Minuten …“
Erschienen in: Focus 20/2008, S. 152–155