Eine neue Studie zum deutschen Angriff auf die UdSSR vermittelt ein seltsames Bild des Sowjetdiktators Stalin
Die Weltgeschichte kennt zahllose Fälle von Größenwahn. Hätte aber jemals so etwas wie ein Hybrisdetektor existiert, er hätte den absoluten Höchstwert wohl im Frühsommer 1941 in Deutschland gemessen.
Der Feldzug gegen die Sowjetunion werde ein „Sandkastenspiel“, frohlockte Adolf Hitler; die Rote Armee sei ein „Witz“. Alfred Jodl, Hitlers engster militärischer Berater, ließ seinem Stab ausrichten, „nur das für den Sommer nötige Gepäck“ mitzunehmen, bis Herbst sei man „bestimmt wieder zurück“. „Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen“, notierte Propagandachef Joseph Goebbels in sein Tagebuch. Die Russen würden “überrannt wie bisher kein Volk“.
In der Nacht vor Beginn des „Sandkastenspiels“ schien Hitler eine Ahnung zu beschleichen. Ihm sei zu Mute, sagte er, als würde er „die Tür zu einem dunklen, nie gesehenen Raum“ aufstoßen, „ohne zu wissen, was sich dahinter befindet“.
Was sich hinter der Tür befand, war keineswegs die „friedliebende Sowjetunion“, wie die kommunistische Propaganda später behauptete, sondern eine riesige, hochgerüstete Armee, die Hitler und seinem Reich trotz horrender Anfangsverluste bekanntlich recht zügig das Genick brach.
Böse Überraschung: Je mehr der zeitliche Abstand wächst, desto grotesker nimmt sich das Geschehen im Sommer 1941 aus: Das verhältnismäßig kleine Deutsche Reich, das im Westen bereits durch einen Krieg gegen Großbritannien gebunden ist, mit dem Kriegseintritt der Amerikaner rechnet, auf dessen Territorium Bomben niedergehen und dessen Truppen vom Nordkap bis zu den Pyrenäen verstreut stehen, greift ohne adäquate militärische Vorbereitung und miserabel ausgerüstet den Koloss im Osten an – und muss schnell feststellen, nicht nur an Menschen, sondern vor allem auch an Waffen hoffnungslos unterlegen zu sein (siehe Tabelle unten).
Dies ist ein Hauptgrund, warum eine kleine Minderheit von Historikern und Militärgeschichtlern die Theorie vertritt, Hitler sei mit seinem Angriff Stalin nur zuvorgekommen.
Explizit gegen diese These wendet sich der israelische Historiker Gabriel Gorodetsky mit seinem Buch zur Vorgeschichte des Unternehmens „Barbarossa“, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Er will nicht nur nachweisen, dass Stalins Strategie rein defensiv und von traditionell russischem Denken in Einflusssphären bestimmt war, sondern auch, dass der Sowjetdiktator „aktiv für einen europäischen Frieden verhandelte“ (Klappentext der englischen Originalausgabe).
Der Autor entkräfte „endgültig“ die These, „Stalin hätte in Deutschland einmarschieren wollen, bevor Hitler ihn mit seinem Angriff überraschte“, erklärte der Berliner Siedler-Verlag. Die „Süddeutsche Zeitung“ sekundierte, wer an dergleichen Ideen „immer noch“ festhalte, möge seine Zeit diesem „vorzüglichen Werk“ widmen. „Le Monde“ fand das Buch „intellektuell aufregend“.
Gorodetsky liefert darin eine detaillierte Studie über das Kriegsvorspiel in höheren Rängen: Gespräche hinter verschlossenen Türen, Politbürositzungen, Propaganda-Coups, diplomatisches Geplänkel, geheimdienstliche Ränke. Was ihn nicht weiter interessiert, sind solche Fakten wie beispielsweise Kampfflugzeuge oder der Ausstoß der Rüstungsindustrie. Was ein Diplomat einem anderen erzählt, hat für ihn mehr Gewicht als Truppenstärken und Rüstungsausgaben. Die Panzerdivision, die nicht von einem sowjetischen Dokument als Angriffswaffe gegen Deutschland ausgewiesen wird, ist für ihn auch keine mögliche Angriffswaffe.
Umgekehrt billigt er Stalin zu, sich von deutschen Tanks, die in Frankreich siegen, bedroht zu fühlen (nicht aber Hitler von der sowjetischen Besetzung des Baltikums und Bessarabiens). Es passt auch irgendwie nicht zusammen, dass Gorodetskys Stalin dauernd Bammel vor Hitler hat, aber angesichts des realen Aufmarschs der Wehrmacht nicht an einen Angriff glauben will.
Dieser Mangel an Ausgewogenheit durchzieht das gesamte Opus. Der Autor beschreibt – meist aus Sicht der Sowjetspionage – ausführlich den deutschen Aufmarsch, den der Roten Armee erwähnt er nur en passant. Er schildert, dass die Wehrmacht Vorbereitungen traf, russische Eisenbahngleise auf deutsche Spurbreite zu bringen, sowie Treibstoff und Lebensmittel in Sonderdepots an der Grenze lagerte, aber nicht, dass die Sowjets seitenverkehrt dasselbe taten. Folgt man Gorodetsky, startete nur die Wehrmacht Aufklärungsflüge über gegnerischem Gebiet. Von der kolossalen Überlegenheit der Roten Armee erfährt man nichts bei ihm, ebenso wenig von der „unglaublich schlechten Ausstattung der deutschen Armeen“ (so der Bochumer Historiker Hans Mommsen).
Was das Buch anhand neuer Dokumente bestätigt, ist, dass Stalin von allen Seiten vor den Konsequenzen des deutschen Aufmarschs gewarnt wurde, die Bedrohung aber unterschätzte. In diesem Sinn zitiert Gorodetsky den sowjetischen Botschafter in London, Iwan Maiski, der am Vorabend des 22. Juni fragte: „Ist es überhaupt denkbar, dass Hitler einen Angriff riskiert? Sie wissen, dass das ein selbstmörderisches Unterfangen wäre.“
Ein „Selbstmörder-Entschluss“ (Joachim Fest) war „Barbarossa“ in der Tat. So ähnlich habe damals übrigens die gesamte militärische Führung der Sowjets gedacht, meint der Rote-Armee-Experte Joachim Hoffmann, langjähriger wissenschaftlicher Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Freiburg. „Das Überlegenheitsgefühl der Roten Armee war ungeheuer“, erklärt Hoffmann und verweist darauf, dass allein im vorgeschobenen Frontbogen von Bialystok mehr (und bessere) Panzer standen, als die Wehrmacht insgesamt ins Feld führte. Außerdem hätten die Sowjets die strategische Lage des Deutschen Reichs insgesamt als nicht sonderlich rosig eingeschätzt.
Gorodetsky freilich unterstellt, dass jeder, der in Deutschland die Möglichkeit erwäge, ob Hitler nur eher als Stalin losschlug, von „apologetischen Motiven“ zu Gunsten Hitlers gesteuert sei.
Gewiss ist dieser Verdacht bei jenen Präventivkriegsadepten angebracht, die behaupten, Hitler habe mit seinem selbstmörderischen Angriff Europa vor dem Bolschewismus gerettet. Das wäre ungefähr so aussagekräftig wie die Erklärung, man habe eine drohende Cholera-Epidemie durch den Einsatz von Typhuserregern zu bekämpfen versucht (oder umgekehrt: Stalin habe Ostpreußen und Mitteldeutschland vom Nazismus „befreit“). Schließlich werden Kriegsführung und ‑ziele der Nationalsozialisten auch dann keinen Deut weniger barbarisch, wenn sie Stalin mit ihrem Angriff zuvorkamen.
Unverfänglicher Zeuge: Für Philippe Masson, Leiter der historischen Abteilung an der französischen Seekriegsakademie und Verfasser eines Buches über die Wehrmacht, mag der Apologieverdacht nicht gelten. Gleichwohl ist Monsieur Masson darin der Meinung, dass die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Außenseiter „das bisherige Geschichtsbild relativieren“.
Auf den rationalen Kern zusammengeschmolzen und von ideologischem Tamtam befreit, bleibt von der so genannten Präventivkriegsthese die Frage übrig: Plante Stalin einen Krieg, und wenn ja, mit welchen Zielen?
Eine Reihe lange bekannter, aber selten (und auch in diesem Buch nicht) publizierter Fakten legt zumindest die Vermutung nahe, dass der Kreml-Chef doch nicht so defensiv gestimmt war, wie Gorodetsky suggeriert:
– Die Militärausgaben der Sowjetunion betrugen 1938 27 Milliarden Rubel, 1939 34,5 Milliarden, 1940 56,9 Milliarden und im ersten Halbjahr 1941 83 Milliarden. Das Deutsche Reich (hier wurde etwas anders bilanziert) wendete 1937/38 8,2 Milliarden Mark, 1938/39 18,4 Milliarden, 1939/40 32,3 Milliarden und 1940/41 58,1 Milliarden für Rüstung auf (Rubel und Mark standen in den dreißiger Jahren in einem Kurs von etwa 1:2).
– Im ersten Halbjahr 1941 – also vor dem deutschen Angriff – gingen 43 Prozent aller sowjetischen Staatsausgaben in die Rüstung (diesen prozentualen Anteil erreichte Hitler-Deutschland erst im „totalen Krieg“ 1944). Von der Machtübernahme bis zum Kriegsausbruch 1939 investierte das Deutsche Reich weniger in seine Rüstung als die Sowjetunion im ersten Halbjahr 1941.
– Allein vom 1. Januar 1939 bis zum 22. Juni 1941 produzierte die Sowjetwirtschaft 7000 Panzer, 92 500 Geschütze und 17 745 Kampfflugzeuge – gemessen am deutschen Angriffskontingent das Zwei‑, Zwölf- und Siebenfache.
Interessanterweise hat sich die Historikerzunft nie mit der Frage beschäftigt, was Stalin mit dieser ungeheuren Anhäufung von Kriegsmaterial eigentlich vorhatte – er verfügte ja auch noch über eine gewaltige Flotte. Ist Gorodetskys Ansicht zwingend, die Rote Armee habe lediglich als „wichtige Trumpfkarte in den bevorstehenden Verhandlungen“ dienen sollen?
Hitler war, das ist unbestritten, ein Aggressor; Stalin dagegen, das ist neu (sofern nicht zynisch gemeint), strebte nach einer Friedensordnung. Sogar die Okkupationen der Sowjets wertet Gorodetsky als defensiv („Alles, was Stalin ab Mitte Mai 1940 unternahm, war von der deutschen Bedrohung bestimmt“). Außerdem hat Stalin bei Gorodetsky ständig Angst, vor den Briten zum einen, vor Hitlers „militärischer Übermacht“ sowieso. Warum aber stellte der Kreml-Chef dann gewaltsam eine Hunderte Kilometer lange gemeinsame Grenze mit Deutschland her?
Fakt ist: Hitler hat angegriffen. Einen Angriffsplan Stalins hat man bislang nicht gefunden. Verteidigungspläne besaßen die aufmarschierten Sowjettruppen allerdings auch nicht.
UNGLEICHE GEGNER – ABER DER UNTERLEGENE IST DER ANGREIFER
Verfügbares Militärpotenzial zu Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs. (Das Gros der Sowjetarmee – 2,9 Mio. Soldaten, 15 000 Panzer, 35 000 Geschütze und 9000 Flugzeuge – war im Westen massiert.)
NS-Deutschland Sowjetunion
3648 Panzer (und Sturmgeschütze) 24 000
0 davon moderne schwere Panzer (T 34, KW) 1861
2510 Kampfflugzeuge 23 245
7146 Geschütze und Granatwerfer 148 600
3 600 000 Soldaten 5 000 000
Quelle: „Der Angriff auf die Sowjetunion“, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg
„Jetzt, da wir unsere Armee reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, muss man von der Verteidigung zum Angriff übergehen“ (Stalin am 5. Mai 1941)
„Wäre ich über die überraschenden Mengen an Panzern und Flugzeugen unterrichtet gewesen, wäre mir der Entschluss zum Angriff wesentlich erschwert worden“ (Hitler am 4. August 1941)
Erschienen in: Focus 10/2001, S. 86 ff.