Wie ein West-Adliger bei der Reanimation des sächsischen Weinbaus half – ein Märchen aus den neuen Bundesländern
Es war einmal ein Prinz, der besaß ein sonniges Gemüt, aber kein bisschen Land. Eigentlich hätten ihm ein Schloss und zahlreiche Besitzungen in Sachsen gehört, doch im Ostteil Deutschlands herrschten die Kommunisten, und die hatten seinen Vater nach dem Krieg eingesperrt, ihm alles weggenommen und sogenanntes Volkseigentum daraus gemacht.
Georg zur Lippe, der erst Jahre später im Westteil zur Welt kam, war also ein Prinz ohne Land, worüber er nicht traurig war, denn er kannte es ja nicht anders. Er entschied sich für eine bürgerliche Karriere, trat als gelernter Landwirt und studierter Agrarökonom in die Dienste des Münchner Unternehmensberaters Roland Berger, promovierte nebenher und führte an der Isar, wo er zwar kein Schloss, aber ein Penthouse sein Eigen nannte, ein sorgloses Leben.
Nun aber begab es sich, dass die Herrschaft der Kommunisten zusammenbrach und Deutschland wieder vereinigt wurde. Da regte sich so etwas wie das Blut der Ahnen in den Adern des Prinzen. Er fuhr nach Meißen zum alten Familienschloss, das die Kommunisten in ein Heim für geistig Behinderte und zugleich, wie es dortzulande Praxis war, in eine Ruine umgewandelt hatten, sah die alten Weinberge, zu deren Füßen die Elbe dahinströmte, auf denen noch sein Vater Riesling und Spätburgunder angebaut hatte, und beschloss: Ich will Winzer werden!
Allerdings hatte der deutsche Kanzler mit dem Generalsekretär des Sowjetreichs, das bislang den deutschen Osten besetzt hielt, einen so genannten Einigungsvertrag geschlossen, demzufolge weder Prinz Georg noch sonst irgendein von den Kommunisten enteigneter Adliger seinen Besitz zurückbekommen sollte – ein Handel, den zwei seiner Geschwister zum Anlass nahmen, Deutschland für immer den Rücken zu kehren. Er hätte also kaufen müssen, was einst seiner Familie weggenommen worden war, und genau deswegen fehlte ihm das nötige Geld dafür.
Der Prinz kaufte trotzdem. Es ist ein Fenster der Geschichte, sagte er sich, morgen kann alles für immer verloren sein, also bleibt mir keine Wahl. Er konnte allerdings nur kaufen, was ihm angeboten wurde, und als sich unter seinen Freunden herumsprach, worum es sich handelte, erklärten die ihn für verrückt. Nicht etwa den Weinberg erwarb er – der stand damals noch nicht zum Verkauf -, sondern lediglich die eher wertlosen Rebbestände, wobei er sich als Draufgabe verpflichten musste, alle Mitarbeiter der Weinbaubrigade 56 der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) „Wilhelm Pieck” weiter zu beschäftigen – freilich ohne zu wissen, wie er sie bezahlen sollte.
Nun hatte der Prinz zwar immer noch kein Land, aber 16 Schutzbefohlene. Um sie bezahlen zu können, belieh er seine Münchner Wohnung (später verkaufte er sie), siedelte von der Isar an die Elbe und schlief im Feldbett auf dem Weinberg, im Umkleideschuppen der Weinbauern, denn er hatte keinen Wohnberechtigungsschein für Meißen. Prinzlein, du gehst einen schweren Gang – so und auch despektierlicher äußerten sich die Kollegen im Hause Roland Berger, und der Chef selbst rief ihm zum Abschied etwas hinterher, das ungefähr klang wie: Er habe offenbar überhaupt nichts gelernt bei ihm.
Aber der Prinz hatte sich in den Kopf gesetzt, Wein anzubauen, guten Wein, nicht jenes mit dem Begriff Wein allenfalls euphemistisch umschriebene Gesöff, das die LPG hier produzierte. Er wusste von seinem Vater, dass die Lage ideal war: nach Süden gerichtete Hänge direkt über der Elbe, eine dicke Schicht Löss auf einem bis zu 30 Meter mächtigen Sockel aus rotem Granit, der die Sommerwärme lange speicherte; ein Mikroklima wie an der Loire.
Als der Prinz, der ja keine eigene Kellerei besaß, bei der lokalen Winzergenossenschaft vorstellig wurde und fragte, ob man ihm dort seine erste Lese mit ausbauen könne, verklickerten ihm die Genossen die Machtverhältnisse. Sie sagten: „Horschema, Prinz, du kannst uns deine Trauben geben, aber was in die Flaschen kommt und was draufsteht, bestimmen wir.”
Das ließ sich der Prinz nicht bieten. Er karrte seine gesamte Ernte gen Westen, und so kam es, dass der erste Schloss-Proschwitz-Jahrgang neuer Zeitrechnung, der 91er, nicht in Sachsen auf Flaschen gezogen, sondern gewissermaßen reimportiert wurde.
Postsozialistischer Realismus: Des Prinzen Beliebtheit unter seinen neuen Mitwettbewerbern stieg durch dergleichen Autonomiebekundungen nicht. Die Einheimischen mochten nämlich erstens keine Wessis, zweitens keine adligen Wessis und drittens keine adligen Quertreiber aus dem Westen. Insbesondere die einstige Nomenklatura, deren Vertreter sich nach wie vor in den Behörden, Ämtern und im Kreistag spreizten, warf dem zugewanderten Blaublütler Knüppel zwischen die Beine, wo es ging. Plötzlich kursierte die Mär von einer angeblich bevorstehenden Rückenteignung, und der Prinz durfte das Schloss seiner Vorfahren nicht mal zum Anschauen betreten. Die lokalen Gazetten schürten die Ressentiments der armen Ossis gegen den vermeintlichen West-Krösus, anonyme Anrufer verhießen ihm allerlei Schlimmes. Die Feindseligkeiten kulminierten, als Unbekannte einen Keller des Weingutes unter Propangas setzten; hätte der Zündmechanismus nicht versagt, hätte es Tote geben können.
Prinz Georg blieb unbeirrt wie sein heiliger Namenspatron. Der Wein, den er im neuen, eigenen Gut erzeugte, verkaufte sich ordentlich, die aus seinem Unternehmensberater-Vorleben herrührenden guten Verbindungen zu einem großen deutschen Geldinstitut hielten noch, Verluste suchte er durch im Nebenjob erworbene Beraterhonorare auszugleichen.
Obwohl er finanziell stets am Rande des Ruins tänzelte, kaufte der Prinz den alten Familienweinberg Hektar für Hektar zurück und versetzte ihn allmählich in einen Zustand, der den Anbau qualitativ hochwertigeren Rauschtranks ermöglichte. Mit seinem LPG-Trupp pflanzte er die Rebsorten exakt dort an, wo sein Vater es ihm geraten hatte, dazu zum Beispiel noch mehrere Kilometer Windschutzhecken (die hatte man zu DDR-Zeiten ausgerissen, um mehr Platz für Reben zu bekommen), und er ließ sich auch nicht irritieren, als der 97er wegen des launischen Klimas total missriet.
Dafür begann sich das öffentliche Klima zu ändern. Des Prinzen Hartnäckigkeit, sein steigendes Renommee als Winzer und die offenkundige Tatsache, dass er nicht hierher gekommen war, um die Eingeborenen mit der Reitpeitsche von seinem alten Familienbesitz zu vertreiben, brachten ihm allmählich Sympathien ein. Er bekam sogar das Schloss zum Kauf angeboten; der Kreistag – der Prinz hatte selbst vor den Abgeordneten in eigener Sache gesprochen – hatte mit einer Stimme Mehrheit zu seinen Gunsten entschieden. Freilich befand sich das einstige Stammhaus in einem erschütternden Zustand. Bewohnbar war der zweiflügelige Neobarockbau im Grunde schon zu kommunistischen Zeiten nicht mehr gewesen; beispielsweise war das Abwassersystem derart verkommen, dass die Fäkalien der Behinderten direkt in Wände und Keller liefen. Die Ruine kostete 1,2 Millionen Mark, die Renovierung würde ein Mehrfaches verschlingen. Kaufen ist Wahnsinn, sagte sich der Prinz, Nichtkaufen erst recht. Es war das Haus seiner Ahnen. Und er kaufte.
An der Restauration des Schlosses hätte sich der Prinz beinahe übernommen. Als sich herausstellte, dass auch noch der gesamte Dachstuhl verfault war und ausgetauscht werden musste, drohte der finanzielle Kollaps. Der rettende Engel nahte in Form einer sechsstelligen Summe aus einem Denkmalschutzfonds; es war das einzige Mal, dass von irgendwoher finanzielle Hilfe kam.
Heute beschäftigt Prinz Georg zur Lippe 42 Angestellte, 29 davon auf dem Weingut und in der inzwischen gegründeten Schnapsbrennerei, die anderen im eigenen Baubetrieb. Die Appellation Schloss Proschwitz ist mit 13 Rebsorten auf 55 Hektar der größte private Weinbaubetrieb Sachsens. Während Weinberg und Gut Familieneigentum bleiben sollen, sind die Brennerei-Mitarbeiter mit 49 Prozent am Unternehmen beteiligt. Und die meisten Einheimischen mögen inzwischen ihren Prinzen.
Auch das Schloss ist bald fertig restauriert; wo einst die Gabelstapler der Behindertenwerkstatt den Stuck abfuhren, sieht es heute wieder halbwegs feudal aus. Der an der Außenseite hochgemauerte, das gesamte Herrschaftshaus überragende Schornstein, mit dem hier zu DDR-Zeiten die Braunkohleheizung betrieben wurde, geradezu ein Sinnbild kommunistischer Ästhetik am Bau, ist abgerissen. Urgroßvater Franz Graf zur Lippe-Weißenfeld, im deutsch-französischen Krieg 1870/71 als Generalmajor Kommandeur der 12. (sächsischen) Kavalleriedivision, schaut wieder von der Wand des großen Saals im ersten Stock, und wenn alles nach Plan läuft, wird er künftig auf allerlei palaverndes oder sich amüsierendes Volk blicken: Da nicht jeder Prinz sich heutzutage ein hochherrschaftliches Domizil zum Selberdrinwohnen leisten kann, soll Schloss Proschwitz nach dem Willen seines Besitzers für Feste und Kongresse zur Verfügung stehen. Der Prinz bewohnt mit seiner Prinzessin, der aus Kassel stammenden Fernsehjournalistin Alexandra Gerlach, mit der er seit 1995 verheiratet ist, ein paar Zimmer im Dienstbotenhaus gegenüber.
Insgesamt musste Georg zur Lippe über zehn Millionen Mark in Weinberg, Gut und Schloss investieren; fast alles auf Kredit, versteht sich. Nur die stetig wachsende Qualität und Reputation seines Weines rechtfertigte den Schuldenberg, und es ist noch nicht lange her, dass er auf die Frage, ob er das alles finanziell überstehen werde, keine verbindliche Antwort wusste. Das staatliche Weingut ein paar Elbkilometer weiter, in das der Freistaat regelmäßig ein paar Millionen fließen lässt, kennt solche Sorgen nicht, denkt der Prinz hin und wieder mit einem leichten Anflug von Neid.
Dafür ist sein Wein besser. Die stahligen lippeschen Weiß- und Grauburgunder waren schon seit Mitte der 90er ein Tipp. 1996 nahm der Verband deutscher Prädikatsweingüter (VDP) das Weingut Schloss Proschwitz als bislang einzigen sächsischen Betrieb in seine Reihen auf. Der 98er-Traminer Eiswein, schwärmt der renommierte englische Weinkritiker Stuart Pigott, sei der „größte deutsche Wein dieser Rebsorte seit Jahren”. Der 99er-Spätburgunder, im vergangenen Jahr für den deutschen Rotweinpreis nominiert, ist ein leckerer, saftiger Stoff mit langem Nachhall und satten 14 Volumenprozent Alkohol, „ein beeindruckender Wein” (Pigott), der mit jedem guten badischen oder französischen Pendant mithalten kann.
Und das ist nun wirklich kein Märchen.
Erschienen in: Focus 12/2002, S. 194 ff.