Einwanderung, Leitkultur, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit: Was hat das mit dem untergegangenen Preußen zu tun? Eine ganze Menge
Der Kurfürstin schlug das langwierige Zeremoniell aufs Gemüt. Während Sophie Charlotte vor ihrem Gemahl kniete, um aus seinen Händen die Krone zu empfangen, verschaffte sie sich, wie ein Beobachter notierte, „durch eine Prise Schnupftabak angenehme Distraktion” – was Friedrich der Dritte, der soeben der Erste geworden war, „sehr übel vermerkte”.
Der Lapsus passierte im großen Saal des Königsberger Schlosses während eines, wie sich freilich erst im Laufe der Zeit herausstellen sollte, historischen Vorgangs: Am 18. Januar 1701 krönte der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. sich selbst zu Friedrich I., König in Preußen, und seine Gemahlin zur Königin. Die wochenlangen Feierlichkeiten entzückten die Königsberger und ruinierten die Staatsfinanzen wie ein verlorener Krieg.
Das ist nun exakt 300 Jahre her und bildet heute, da man sich historischen Ereignissen allenfalls in Gestalt von Jubiläen nähert, den Anlass zum sogenannten Preußen-Jahr. Damals wurde jener Staat begründet, der bald danach wie ein Gewitter über die politische und geistige Landschaft Europas hereinbrechen sollte. Was „in seinem Ursprung nur ein Werk der Eitelkeit” gewesen sei, kommentierte Friedrich der Große das Werk des Altvorderen, „erwies sich in der Folge als politisches Meisterstück”.
Dass sich ein deutscher Regionalfürst zum König eines außerhalb des Reichs gelegenen Landes erhob (offenbar aus Renommiergründen, denn kurz zuvor war der sächsische Kurfürst August der Starke König von Polen geworden), bereitete zunächst jedoch niemandem Kopfzerbrechen. Kaiser Leopold I., natürlich ein Habsburger, hatte seine Zustimmung erteilt (im Gegenzug musste Preußen ihm unter anderem Truppen stellen); anderthalb Jahrhunderte später wird dieses Preußen die Habsburger bei Königgrätz besiegen, noch etwas später selbst den deutschen Kaiser stellen und Österreich zum Ausland machen. So kann’s gehen.
„Wenn man anfängt, über Preußen ernsthaft nachzudenken, kommt man aus dem Staunen nicht heraus”, notierte der Geschichtspublizist Sebastian Haffner, ein Preuße, der Deutschland 1938 verließ, weil er ein freier Mensch sein wollte, und der zeitlebens gegen antipreußische Vorurteile anschrieb. Das kurze Leben dieses Staates, so Haffner, sei „die phantastischste Geschichte, die es gibt”.
Diese Geschichte währte streng genommen nur von der Thronbesteigung des zweiten Friedrich anno 1740 bis zur Kaiserkrönung Wilhelms I. anno 1871, 130 Jahre also. Vorher war Preußen bedeutungslos, danach Teil des Deutschen Reiches. In diesen 130 Jahren aber arbeitete der Sandstaat an seiner Unsterblichkeit, als gelte es, Friedrich Schillers Worte zu bestätigen: „Was unsterblich im Gesang soll leben / muß im Leben untergehn.”
Preußen war ein Kunstgebilde, kein Nationalstaat. Es gab kein preußisches Volk. Preußen existierte im Grunde nur als flexibel aufpfropfbare Staatsidee: Deren Diener, Majestät eingeschlossen, waren austauschbar. Preußen besaß weder ein festes und meist auch kein zusammenhängendes Staatsgebiet („es dehnte sich aus und zog sich zusammen wie ein Schifferklavier” – Haffner), mal gehörte Polen dazu, mal wieder nicht, dafür dann Teile Sachsens oder des Rheinlands. Der Fragilität des Staatsgebildes entsprach seine Wehrhaftigkeit, aber auch seine Verletzlichkeit. Zweimal – im Siebenjährigen Krieg 1761 und nach Napoleons Einmarsch 1806 – stand Preußen am Abgrund, und am Ende verschwand es tatsächlich auf Nimmerwiedersehen von der Landkarte.
Diese Auslöschung geschah in kleinen Schritten, und die Gelehrten streiten, wann der Tod einsetzte: ob 1871 mit dem Ende des selbstständigen preußischen Königtums, 1918 mit der Abdankung des Kaisers, 1932 mit der Absetzung der preußischen Regierung durch Reichskanzler von Papen oder 1947 mit der Auflösung des Staates Preußen durch die Alliierten, eine krude Posse, die an die Abschaffung Gottes durch ein Dekret der französischen Revolutionsregierung erinnert.
Fakt ist, dass der Staat Preußen das Deutsche Reich schuf, indem er immer mehr deutsches Gebiet umfasste und so quasi die Schneiderpuppe lieferte, für die nur noch der (wie sich herausstellte viel zu große) Mantel eines Staatsmythos geschneidert werden musste. „Preußens deutsche Sendung” war eine Schöpfung deutschnationaler Historiker und verklärte den Aufstieg der Staatsmaschine im märkischen Sand in einen von Anbeginn zielgerichteten Marsch zur deutschen Reichseinigung, die im Grunde aber das Werk eines Mannes, Otto von Bismarcks, war. „Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens”, klagte König Wilhelm I. am Vorabend der Versailler Kaiserproklamation. „Da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe, und daran sind Sie, Graf Bismarck, schuld.”
Stammbaum-Kapriolen: Schon die Konstruktion einer direkten Verbindung von Friedrich über Bismarck ins Zweite deutsche Kaiserreich war fragwürdig. Die Nazis verlängerten diese Genealogie einfach auf den Gefreiten Hitler, nachgewiesenermaßen kein Preuße, und fertig war die Ahnentafel des Dritten Reiches. So fand sich der Vernunftstaat nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Anklagebank wieder: als vermeintlicher Vorläufer des rassistischen „Führer”-Staats und „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland”, wie die alliierten Sieger befanden.
Deutschland hatte den Krieg verloren, Preußen zahlte die Zeche. Es wurde gewissermaßen verboten, auch das ein ziemliches Unikum in der europäischen Geschichte. Die Kernlande im Osten, deren Bevölkerung von der Roten Armee ohnehin nach Kräften dezimiert worden war, fielen überwiegend an Polen, Brandenburg an die DDR, wo sich Ulbrichts Sprengkommandos am architektonischen Erbe austobten. Und eine denkwürdige Allianz aus sozialistischen und „progressiven” westdeutschen Geschichtsdeutern suchte das Geschehen im Nachhinein zu rechtfertigen.
Das klang im Osten eher primitiv-manichäisch („Großmachtpolitik und Chauvinismus, Aggressionsbereitschaft und Durchhalteparolen”, so die DDR-Historikerin Ingrid Mittenzwei, „alles ließ sich mit Friedrich II. rechtfertigen.”). Im Westen kam die Kausalitäts-Mythologie sublimer daher. „Der Weg von Roßbach und Leuthen nach Königgrätz und Sedan endete, wann immer der Zug entgleist sein mag, in Versailles und Stalingrad”, befand etwa der Publizist Rudolf Augstein in seinem Buch „Preußens Friedrich und die Deutschen”.
Obrigkeitsstaat, Junkerherrschaft, Kadavergehorsam, Militarismus, Kriegslüsternheit, das alles sollte nun typisch preußisch gewesen sein, und teilweise war es das auch (wobei Historiker ausgerechnet haben, dass Frankreich, England und Russland zwischen 1701 und 1933 jeweils ungefähr dreimal häufiger Krieg führten als Preußen bzw. Preußen-Deutschland). Preußisch waren aber auch Herrschaft im Geiste der Aufklärung, religiöse Toleranz, großzügige Asylpraxis, fortschrittliche Sozialgesetzgebung und Rechtsstaatlichkeit. „Unser heutiger Staat lebt weithin aus diesem preußischen Erbe”, konstatierte der Erlanger Geistesgeschichtler Hans-Joachim Schoeps, „auch wenn er das gar nicht weiß.”
Über den Verlust des deutschen Ostens wurde – außerhalb der Vertriebenenverbände – bemerkenswert wenig geklagt. In der DDR mit ihrer offiziellen Befreiungsrhetorik war das Thema tabu, die Adenauer-Bundesrepublik suchte die Anlehnung an den Westen; da störte die preußische Erinnerung nur. „Vielleicht ist Preußen die Summe, die Deutschland zahlen mußte, um Europa zu versöhnen”, seufzte Wolf Jobst Siedler in seinem melancholischen Opus „Abschied von Preußen”. Etwas Ähnliches meinte wohl Charles de Gaulle, als er nach dem Zweiten Weltkrieg formulierte: „Ohne Preußen ist Deutschland kein Staat.”
Dass die Oder einst in der Mitte Deutschlands floss, klingt heutigen Ohren so fremd wie Geschichten aus der Stauferzeit. Warum also noch davon reden? Gibt es über Preußen noch etwas zu sagen, das, wie es bei solchen Jubiläen gern heißt, von bleibender Aktualität wäre?
Zum Beispiel dies: Preußen war das Modell eines übernationalen Rechtsstaats (ein Unterfangen, welches derzeit bekanntlich die EU verfolgt). „Dieser Staat repräsentierte eine Idee, die Menschen der verschiedensten Herkunft so zu prägen vermocht hat, daß sie Preußen wurden” (Schoeps). Brandenburg-Preußen war ein Einwanderungsland (noch vor den Vereinigten Staaten), und es besaß eine Leitkultur, besser: Leitidee. Auf das Präfix „Leit-” kommt es dabei an, denn in Einwanderungsgesellschaften müssen Leitlinien, gewissermaßen Leitplanken, existieren; in Preußen hießen sie Staatsräson, geistige Toleranz und Rechtssicherheit.
Preuße konnte man werden, und zwar ohne blutsmäßige Abstammung und ohne im Lande geboren zu sein. Seit dem Potsdamer Edikt des Großen Kurfürsten von 1685 über die Aufnahme der in Frankreich verfolgten Hugenotten stand Brandenburg-Preußen für Religionsfreiheit und weitgehendes Asylrecht. Im 18. Jahrhundert entstand der Vers: „Niemand wird Preuße denn aus Not, und ist er’s geworden, dankt er Gott.”
Als 1732 die ersten von insgesamt 20 000 verfolgten Salzburger Protestanten nach Preußen kamen, erkundigte sich König Friedrich Wilhelm I. bei dem sie begleitenden Kommissar: „Sind liederliche Leute dabei? Solche, die sich besaufen oder der Völlerei ergeben?” Der „Soldatenkönig” erließ Edikte wie das vom Dezember 1720 über die „Vertreibung der in königlichen Landen eindringenden Armen, Bettler, Zigeuner und anderen unnützen Gesindels”. Die heutige Gepflogenheit, Einwanderung und Asyl unter dem Aspekt staatsfinanzierter Fernstenliebe zu betrachten, hätte man seinerzeit für gemeingefährlich, zumindest aber für verrückt gehalten.
Preußens Offenheit für Zuwanderer war ideologiefrei, sie entsprang keiner Hypermoral, sondern dem Staatsinteresse an Arbeitskräften, überhaupt Bevölkerung. „Wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen”, lautet eine viel zitierte Bemerkung Friedrichs des Großen. Die während des Siebenjährigen Krieges angeworbenen Bosniaken erhielten nicht nur Wohnungen und Gebetsräume in Potsdam, sondern auch einen eigenen Heeres-Imam. Als Westpolen Ende des 18. Jahrhunderts unter preußische Kuratel geriet, avancierten viele Polen im preußischen Staatsdienst. „Preußen konnten wir werden”, sagte der Diplomat Athanasius Graf Raczynski nach der Reichsgründung 1871, „Deutsche niemals.”
Die preußische Toleranz, moniert nun aber der (aus Pommern stammende) Autor Christian Graf von Krockow in seinem Buch „Warnung vor Preußen”, sei lediglich eine „einseitig von ‚oben”, vom Staat her befohlene” gewesen und habe „die Mehrheit der Menschen nur von außen, aber nicht von innen” ergriffen. Fragt sich nur, was so falsch sein soll an einer „von oben” vorgeschriebenen (und vorgelebten) Toleranz, da doch die Menschheit auf die „von innen” bislang vergeblich wartet. In Preußen gab es jedenfalls keine Übergriffe gegen Minderheiten, kein Hugenotte rannte „Scheiß Preußen!” schreiend durch Berlin, und kein Salzburger Protestant versuchte, Schulkindern Rauschmittel zu verkaufen.
Kaum etwas ist der Vorstellungswelt der heutigen Spaßgesellschaft ferner als die preußische Idee, freiwillig dem Staat zu dienen, und geradezu rührend wirkt im Zeitalter der permanenten Selbstdarstellung die preußische Maxime: „Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein als scheinen!”
„Eine tiefe Verachtung des bloßen Reichseins, des Luxus, der Bequemlichkeit, des Genusses, des ‚Glücks’ durchzieht das Preußentum”, konstatierte der Geschichtsdenker Oswald Spengler 1920 und entdeckte im Preußentum jenes „Wirtschaftsprinzip”, das „Eigentum als Auftrag der Allgemeinheit” versteht und mit dem angelsächsischen („Eigentum als private Beute”) um die Weltherrschaft ringe: die Nachfahren der Ordensritter gegen die Nachfahren der Wikinger.
Augenscheinlich haben die Wikinger-Erben über den Umweg USA gesiegt, und der weltweite Triumph der anglo-amerikanischen Ethik des Erfolgs hat die preußische Pflichtethik fürs Erste erledigt.
Zwar malten ein paar Berufs-Alarmisten aus Politik und Medien die preußische Wiederauferstehung, natürlich als Schreckgespenst, an die Wand, als mit der Wiedervereinigung ehemalige Kernlande an die Bundesrepublik fielen und der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière orakelte, das neue Deutschland werde „östlicher und protestantischer” werden. Das Gezerre um die Hauptstadtfrage illustrierte solche Placebo-Sorgen. Aber Preußen machte nicht die geringsten Auferstehungs-Anstalten.
Trotzdem lebt das Attribut „preußisch” auf merkwürdige Weise fort. Das Land Hessen beispielsweise existiert noch, aber es gibt keine „hessische Haltung”, so wenig wie eine sächsische Affektbeherrschung oder eine bayrische Pflichtethik. „Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen selbstverständlicher Unterordnung und richtig verstandenem Herrentum, zwischen Stolz auf das Eigene und Verständnis für anderes, zwischen Härte und Mitleid”, erklärte Henning von Tresckow, der wie zahllose andere Preußen am 20. Juli 1944 für diese Idee sein Leben hingab.
Preußen hat einen Stil geschaffen, eine Existenzauffassung, eine Daseinsphilosophie, und solange Menschen sich die Frage nach dem „richtigen” Leben stellen, wird die preußische Option mit von der Partie sein. Ob dieser Stil irgendjemandes Dasein beeinflusst, ist inzwischen freilich reine Privatsache, wie jede Anschauung, wie jede Lebenshaltung.
Erschienen in: Focus 3/2001, S. 78ff.